· Fachbeitrag · Steuerhinterziehung
Großes Ausmaß: BGH stellt einheitlich auf einen Hinterziehungsbetrag von 50.000 EUR ab
von RAin Stefanie Schott, FAin StrR, FAin StR, kipper+durth, Darmstadt
| Der BGH hat seine bisherige Rechtsprechung zur Bestimmung des großen Ausmaßes i.S. des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO aufgegeben und stellt nun einheitlich auf einen Hinterziehungsbetrag von 50.000 EUR ab ( BGH 27.10.15, 1 StR 373/15, Abruf-Nr. 146380 ). |
1. Tateinheitliche Hinterziehung über 50.000 EUR
Der Angeklagte A übernahm die als Einzelunternehmen geführte Pizzeria seines Onkels. Der Onkel hatte in den Jahren 2000 bis 2004 Umsätze teilweise verschwiegen und zu niedrige Gewinne aus Gewerbebetrieb angegeben. Die Manipulationen waren durch die Steuerfahndung bei einer Betriebsprüfung entdeckt worden, woraufhin geänderte Steuerbescheide mit hohen Steuernachforderungen gegen den Onkel ergingen. Dieser veräußerte den Betrieb daraufhin an den A, wobei die beiden vereinbarten, das bisherige System der Steuerhinterziehung - unter anderem Manipulationen der Kasse - unverändert fortzuführen. In Absprache mit seinem Onkel gab A für die VZ 2006 und 2007 falsche Einkommensteuer-, Gewerbesteuer- und Umsatzsteuerjahreserklärungen ab und für Januar 2008 bis Mai 2009 unrichtige Umsatzsteuervoranmeldungen. Bezogen auf den VZ 2007 verkürzte der Angeklagte Umsatzsteuer i.H. von 53.830 EUR und Gewerbesteuer i.H. von 35.356 EUR.
Das Tatgericht wertete die unrichtigen Gewerbe- und Umsatzsteuererklärungen als tateinheitlich begangene (§ 52 StGB) Steuerhinterziehung. Es nahm an, dass das Regelbeispiel einer Steuerverkürzung in großem Ausmaß gemäß § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO verwirklicht sei. Es verhängte insoweit eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten, die zugleich die Einsatzstrafe bildete.
2. BGH: Großes Ausmaß bei mehr als 50.000 EUR erfüllt
Der BGH bestätigt das Vorliegen eines besonders schweren Falls. Die Schwelle zur Hinterziehung „in großem Ausmaß“ sei bereits dann überschritten, wenn der Steuerpflichtige dem FA steuerlich erhebliche Tatsachen verschweigt und den Steueranspruch damit in einer Höhe von mehr als 50.000 EUR gefährdet.
Demgegenüber lag die Wertgrenze in Fällen, in denen sich das Verhalten des Täters darauf beschränkt, die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu lassen und das lediglich zu einer Gefährdung des Steueranspruchs führt, bisher bei 100.000 EUR (siehe dazu die Grundsatzentscheidung des BGH 2.12.08, 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71, 84 ff., siehe auch Salditt, PStR 09, 15 ff. und 25 ff.).
Eine einheitliche Wertgrenze von 50.000 EUR hält der BGH nun für angemessen, weil diese entsprechend bei den Regelbeispielen des Herbeiführens eines Vermögensverlusts großen Ausmaßes der § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 Variante 1 StGB, § 263a Abs. 2 StGB, § 264 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB, § 266 Abs. 2 StGB, § 300 S. 2 Nr. 1 StGB herangezogen wird.
- Steuerhinterziehung und Betrug seien nicht uneingeschränkt vergleichbar, weil die Steuerhinterziehung gegenüber dem Betrugstatbestand „strukturelle Unterschiede“ aufweise. Die bisher - ähnlich wie beim Betrug - vorgenommene Differenzierung zwischen schon eingetretenem Vermögensverlust und Gefährdungsschaden berücksichtige nicht hinreichend, dass ein vollendeter Betrug bereits dem Wortlaut nach den Eintritt eines Vermögensschadens voraussetze. Das gelte auch für die Fälle der „schadensgleichen Vermögensgefährdung“.
- Dagegen genüge für den Tatbestand der Steuerhinterziehung eine tatbestandliche Gefährdung des Steueraufkommens. § 370 Abs. 4 S. 1 fordere für eine Steuerverkürzung lediglich eine nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig erfolgte Steuerfestsetzung, nicht aber den Eintritt eines Vermögensverlusts beim Fiskus. Die Gefährdung des durch die Verwirklichung des materiellen Besteuerungstatbestands entstandenen Steueranspruchs genüge für die Erfüllung des Straftatbestands. Das gelte unabhängig davon, ob das „staatliche Vermögen“ durch die unterbliebene, zu niedrige oder nicht rechtzeitig erfolgte Festsetzung gemindert worden ist oder letztlich gar keine Zahllast des Steuerpflichtigen festzusetzen ist. Darin liege der Unterschied zum Betrugstatbestand. Dessen Vollendung setze eine Vermögensverfügung und spiegelbildlich hierzu einen eingetretenen Vermögensschaden voraus.
- Es sei gerechtfertigt, die Gefährdung des Steueranspruchs mit dem Eintritt des Vermögensschadens gleichzusetzen, da die falsche Steuerfestsetzung nahezu immer zu einem Schaden führen wird, denn eine nicht festgesetzte Steuer kann und darf nicht beigetrieben werden. Stehe aber die Gefährdung des Steueranspruchs dem beim Fiskus eingetretenen Schaden bei der Tatbestandserfüllung qualitativ gleich, sei die Verdoppelung des Schwellenwerts beim sogenannten Gefährdungsschaden nicht zu begründen.
Eine einheitliche Wertgrenze von 50.000 EUR gewährleiste zudem mehr Rechtssicherheit, weil sich die Differenzierung zwischen nicht erklärten Steuererhöhungsbeträgen und zu Unrecht geltend gemachten Steuerminderungsbeträgen und die auf Elemente des Erfolgsunrechts (Höhe des Steuerschadens) und auf Elemente des Handlungsunrechts (unterschiedlicher Gehalt des Handlungsunrechts) gestützte und deshalb schwierige Abgrenzung erübrigt, in welchen Fällen der niedrigere und in welchen Fällen der höhere Grenzwert gilt. Das Merkmal „in großem AusmaßE“ sei in diesem Sinne erfolgsbezogen, weil es an die Höhe der verkürzten Steuer betragsmäßig anknüpft. Aus dem erfolgsbezogenen würde andernfalls ein handlungsbezogenes Merkmal, wenn der das Regelbeispiel begründende, typischerweise erhöhte Unrechts- und Schuldgehalt nicht mehr aus dem Umfang des Taterfolgs, sondern aus der Art seiner Herbeiführung hergeleitet wird. Es sei für den Taterfolg ohne Relevanz, ob der Täter Umsätze verschweigt oder ob er dieses Ziel erreicht, indem er Betriebsausgaben vortäuscht. Die Art seines manipulativen Verhaltens - z. B. die Vorlage falscher Belege beim FA oder das teilweise Löschen von Umsätzen vor Ausdruck der Bons durch die Registrierkassen oder der Einkauf ohne Rechnung gegen Barzahlung - finde ihren Platz bei der Gesamtwürdigung im Rahmen der Prüfung, ob die „Indizwirkung“ des Regelbeispiels entkräftet wird oder umgekehrt bei Nichterreichen der Wertgrenze ein unbenannter besonders schwerer Fall anzunehmen ist.
3. Würdigung und Kritik
Dass der Hinterziehungsbetrag für die Bestimmung des großen Ausmaßes vereinheitlicht wird, ist grundsätzlich zu begrüßen. Fraglich ist allerdings, warum einerseits die „strukturellen Unterschiede“ der beiden Normen hervorgehoben werden und andererseits der für § 263 StGB entwickelte Betrag herangezogen wird. Näher hätte es gelegen, aus der Erkenntnis des BGH, dass § 370 AO niedrigere Anforderungen an die Rechtsgutsgefährdung stellt als § 263 StGB, konsequenterweise auch höhere Beträge für das Erreichen des großen Ausmaßes anzusetzen - beim Festhalten an den bisherigen Beträgen denjenigen von 100.000 EUR.
Dadurch wäre insbesondere das Vertrauen der von der Änderung betroffenen Steuerpflichtigen in die bisherige Rechtsprechung und damit die Rechtssicherheit geschützt worden. Der Steuerpflichtige durfte aufgrund der seit Einführung des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO geltenden Rechtsprechung davon ausgehen, dass er bei einer bloßen „Steuergefährdung“ im Umfang bis 100.000 EUR keine Steuerhinterziehung großen Ausmaßes begeht.
Die geänderte Rechtsprechung wirkt für den betroffenen Steuerstraftäter im Ergebnis wie eine rückwirkende Gesetzesverschärfung. Sie wirft daher die Frage auf, ob sie sich mit dem Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 2 Abs. 1 GG i.V. mit Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 103 Abs. 2 GG (§ 1 StGB) vereinbaren lässt (kritisch dazu z. B. Schmitz in MüKo, StGB, § 1 Rn. 33 f.), dessen Geltung auch für Strafzumessungsvorschriften anerkannt ist (BVerfG 1.9.08, 2 BvR 2238/07 NJW 08, 3627).
Das BVerfG wertet Rechtsprechungsänderungen grundsätzlich nicht als Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip. Die Gerichte sind danach an eine einmal feststehende Rechtsprechung insbesondere dann nicht gebunden, wenn diese sich im Licht geläuterter Erkenntnis oder angesichts des Wandels der sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Verhältnisse als nicht haltbar erweist (BVerfG 11.11.64, 1 BvR 488/62, 1 BvR 562/63, 1 BvR 216/64, BVerfGE 18, 224). Selbst wenn keine wesentliche Änderung der Verhältnisse oder der allgemeinen Anschauungen eingetreten ist, kann ein Gericht ohne Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG von seiner früheren Rechtsprechung abweichen, wenn dies hinreichend und auf den konkreten Fall bezogen begründet ist (BVerfG 4.8.04, 1 BvR 1557/01, NVwZ 05, 81, Rn. 9). Zudem muss sich die Änderung im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung halten (BVerfG 26.9.11, 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07, NJW 12, 669, Rn. 64). Hingegen kommt, wenn keine nachvollziehbare Anpassung der Rechtsprechung erfolgt, insbesondere wenn sachfremde Erwägungen angestellt werden, ein Verstoß gegen das Willkürverbot gemäß Art. 3 Abs. 1 GG in Betracht (BVerfG 23.6.90, 2 BvR 752/90, NStZ 90, 537; BVerfG 4.8.04, 1 BvR 1557/01, NVwZ 05, 81).
Mit der Entscheidung, den für das große Ausmaß entscheidenden Betrag bei Verkürzung der zu zahlenden Steuer zu halbieren, wird keine nachvollziehbare Anpassung an bessere Erkenntnisse vorgenommen. Der Vergleich mit dem beim Betrug angesetzten Betrag trägt diese Entscheidung bereits nach den eigenen Ausführungen des Gerichts zu den strukturellen Unterschieden zwischen den Delikten nicht. Auch der Behauptung, dass die falsche Steuerfestsetzung nahezu immer zu einem Schaden führe, kann insbesondere im Hinblick auf das Kompensationsverbot, aber auch auf die immer weitere Vorverlagerung des Erfolgseintritts durch den 1. Senat aufgrund der weiten Auslegung des Begriffs des steuerlichen Vorteils - der nach der Rechtsprechung des BGH z.B. vorteilhafte Feststellungsbescheide umfasst - nicht zugestimmt werden.
Darüber hinaus ist der Unrechtsgehalt der Steuerhinterziehung gegenüber dem Betrug auch deshalb als geringer einzustufen, weil die Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO keine Täuschung voraussetzt und die nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AO immer durch Unterlassen begangen wird.
Für die Annahme einer willkürlichen Änderung der Rechtsprechung wird das voraussichtlich jedoch nicht genügen. Zweifelhaft erscheint vielmehr, ob die Rechtsprechungsänderung für den Steuerpflichtigen vorhersehbar war. Insoweit war ein möglicher Hinweis auf eine Rechtsprechungsänderung die Hervorhebung, wonach die Betragsgrenze von 50.000 EUR „namentlich“ dann Anwendung finde, wenn der Täter ungerechtfertigte Zahlungen vom FA erlangt hat, und die in der Literatur um die Aufweichung der Abgrenzungskriterien durch den BGH entbrannte Diskussion (siehe dazu z. B. Grießhammer, NZWiSt 12, 154, 156). Zumindest war aber nicht damit zu rechnen, dass die Differenzierung aufgehoben wird.
Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass der BGH den großen Spielraum betont, der dem Tatgericht auch bei Überschreiten der Grenze von 50.000 EUR verbleibt, um entgegen der Indizwirkung des Betrags dennoch keinen besonders schweren Fall anzunehmen, unter anderem durch Berücksichtigung der „handlungsbezogenen Aspekte“. Im Rahmen der Verteidigung wäre daher in Fällen, in denen der Täter lediglich steuererhöhende Beträge nicht erklärt hat, darauf hinzuwirken, dass trotz Überschreitens der Grenze von 50.000 EUR kein besonders schwerer Fall angenommen wird.
PRAXISHINWEIS | Ungeklärt ist, wie sich die Rechtsprechungsänderung auf bereits abgegebene Selbstanzeigen auswirkt. Diese müssen, um wirksam zu sein, alle unverjährten Steuerstraftaten umfassen (§ 371 Abs. 1 S. 2 AO). Die Verjährungsfrist verlängert sich gemäß § 376 Abs. 1 AO in besonders schweren Fällen von 5 auf 10 Jahre und deckt sich auch nicht notwendig mit der seit dem 1.1.15 geltenden 10-Jahres-Frist des § 371 Abs. 1 S. 2 AO. Unterstellt man, dass die Rechtsprechungsänderung vorhersehbar war, hätte sie grundsätzlich (vorsorglich) auch bei Abgabe einer Selbstanzeige zugrunde gelegt werden können. |
Weiterführender Hinweis
- Höll, Strafzumessung im Steuerstrafrecht - Rechnen statt Abwägen?, PStR 12, 251 ff.