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  • · Fachbeitrag · Unfallschadensregulierung

    Wer trägt das Prognoserisiko in einem 130-Prozent-Fall?

    Liegen die voraussichtlichen Reparaturkosten nach dem Schadensgutachten innerhalb der Marge von 100 bis 130 Prozent des Wiederbeschaffungswerts und entscheidet sich der Geschädigte für eine Reparatur, geht es nicht zu seinen Lasten, wenn er aufgrund einer Nachkalkulation des Sachverständigen mit Reparaturkosten von deutlich mehr als 130 Prozent auf eine Ersatzbeschaffung wechselt. Die sich dadurch verlängernde Ausfallzeit ist beim Ersatz von Mietwagenkosten zum Nachteil des Schädigers zu berücksichtigen (LG Köln 30.4.13, 11 S 290/12, Abruf-Nr. 133108).

     

    Sachverhalt und Entscheidungsgründe

    Nach dem vom Kl. eingeholten Schadensgutachten lagen die Brutto-Reparaturkosten mit 10.044,64 EUR zwar über dem Wiederbeschaffungswert von 8.950 EUR, aber klar innerhalb der 130-Prozent-Grenze. Der Kl. entschied sich für eine Reparatur. Die Werkstatt stellte jedoch fest, dass der Schaden, so wie vom Sachverständigen vorgeschlagen, nicht zu beheben war. Nach dem Ergebnis der Nachbesichtigung durch den Sachverständigen war die 130-Prozent-Grenze nunmehr überschritten. Daraufhin nahm der Kl. von der zu diesem Zeitpunkt noch nicht begonnenen Reparatur Abstand und bestellte ein typgleiches Neufahrzeug, das drei Wochen später ausgeliefert wurde. Erst jetzt gab er den Mietwagen zurück. Die Mietwagenkosten für die gesamte Mietzeit zu übernehmen, lehnte der VR mit dem Argument ab, der Eintritt eines wirtschaftlichen Totalschadens sei von Anfang an „offenkundig“ gewesen. Das AG hat die Klage auf restlichen Mietkostenersatz abgewiesen. Begründung: Bei geschätzten Reparaturkosten oberhalb des Wiederbeschaffungswerts gehe das Prognoserisiko vom Schädiger auf den Geschädigten über.

     

    Dieser Ansicht ist das LG nicht gefolgt. Von einem offensichtlichen „absoluten“ Totalschaden könne auf der Grundlage der ursprünglichen Kalkulation des Sachverständigen keine Rede sein. Dass die Reparaturkosten nachträglich höher eingeschätzt worden seien, gehe nicht zulasten des Kl. Auch bei einer Konstellation wie im konkreten Fall trage der Schädiger das Prognoserisiko. Das stehe zwar im Widerspruch zu BGH NJW 72, 1800 und einem Teil der Instanz-Rechtsprechung. Zu folgen sei indes denjenigen Gerichten, die auch im Fall eines „relativen“ Totalschadens (Reparaturkosten 100 bis 130 Prozent) das Prognoserisiko beim Schädiger beließen.

     

    Nach Ansicht des LG ist die Verteilung des Prognoserisikos nicht nur für die Reparaturkosten, sondern auch für den Ersatz der Mietwagenkosten bedeutsam. Die Mehrkosten gingen auf eine „fehlerhafte, aber nicht unsorgfältige“ Prognose des Sachverständigen zurück. Aufgrund der zweiten Kostenschätzung von Reparatur auf Ersatzbeschaffung umzusteigen, könne auch mit Blick auf die Mietwagenkosten nicht zum Nachteil des Kl. gehen. Allerdings sei die Wiederbeschaffungsdauer kürzer zu bemessen. Trotz des geringen Alters von 11 Monaten und eines km-Stands von 9.680 könne nur der Regelzeitraum von zwei Wochen für die Ersatzbeschaffung zugrunde gelegt werden.

     

    Praxishinweis

    In VA 09, 150 heißt es, dass durch BGH NJW 72, 1800 entschieden, gleichwohl klärungsbedürftig genau die Frage sei, die das LG jetzt zum Anlass genommen hat, die Revision zuzulassen. Eine Klärung ist in der Tat überfällig (drei von vier Zitaten im Palandt, § 249 BGB Rn. 25, sind falsch). Entgegen weit verbreiteter Ansicht ist BGHZ 115, 364 nicht einschlägig. Es geht nicht um die Wahl des Weges mit dem vermeintlich geringeren Aufwand, sondern um den umgekehrten Fall: Der Geschädigte entscheidet sich nach Gutachtenlage für den teureren Weg, den er jedoch wegen seines besonderen Integritätsinteresses wählen darf. Im Übrigen betrifft BGHZ 115, 364 einen Unter-Hundert-Fall. Der Grund für eine vom Regelfall abweichende Risikoverteilung (dafür Ch. Huber, SVR 05, 241) wird aber gerade darin gesehen, dass schon nach dem (Erst-)Gutachten eigentlich ein wirtschaftlicher Totalschaden vorliegt (Reparaturkosten über WBW) und eine wirtschaftlich an sich unvernünftige Reparatur nur ausnahmsweise gestattet ist.

     

    Für beide Positionen gibt es gute Gründe. Welche die besseren sind, muss der BGH, sollte er in dieser Sache überhaupt angerufen worden sein, nicht unbedingt entscheiden. Lösbar ist der Fall auch über § 254 Abs. 2 BGB. Als nicht „erforderlich“ hat nur diejenige Zeit des Nutzungsausfalls unberücksichtigt zu bleiben, die der Geschädigte wegen schuldhafter Verletzung seiner Schadenminderungspflicht zu verantworten hat. Der anwaltlich beratene Kl. hat schadensrechtlich nichts falsch gemacht. Die Reparatur durchzuziehen und damit einen Teil der Mietwagenkosten zu sparen, hätte die Gefahr heraufbeschworen, auf einem wesentlichen Teil der Reparaturkosten sitzen zu bleiben. Das LG Köln hat dies angedeutet, das OLG Bremen so entschieden (21.10.09, 3 U 44/09, Abruf-Nr. 102419). Dass der Kl. für den Prognosefehler des Sachverständigen nicht nach § 278 BGB einzustehen hat, ist im Grundsatz unumstritten.

     

    Was die Wahl „neu“ statt „gebraucht“ angeht, ist dem Kl. gleichfalls kein Vorwurf zu machen. Auf Neuwagen-Basis nicht abrechnen zu dürfen, drückt der Entscheidung für einen Neuen nicht automatisch den Stempel „wirtschaftlich unvernünftig“ auf. Entscheidend für die Beschaffungsdauer ist die Verfügbarkeit auf dem Markt. Einen knapp einjährigen Citroen C1 mit einer Laufleistung von rund 10.000 km ohne gewerbliche Vorbenutzung innerhalb der Regelzeit von zwei Wochen auf dem regionalen Markt zu finden, so das LG Köln ohne sachverständige Beratung, ist eine ziemlich kühne Vorstellung.

     

    Weiterführende Hinweise

    • Zum Prognoserisiko in einem 130-Prozent-Fall bei Werkstattauftrag vor Eingang des schriftlichen Gutachtens AG Schwäbisch Gmünd VA 13, 95.
    • Zur Situation in einem laut Gutachten Unter-Hundert-Fall und effektiv 144 Prozent OLG Saarbücken VA 12, 96.
    • Zu den vielfältigen Fragen auf der Zeitschiene beim Nutzungsausfallersatz Eggert, VA 12, 132.
    Quelle: Ausgabe 11 / 2013 | Seite 182 | ID 42336395