· Fachbeitrag · Geschäftsunfähigkeit
Versicherungsschein schlägt Geschäftsunfähigkeit
von RiOLG Frank-Michael Goebel, Rhens
Sachverhalt
Die Klägerin steht seit 2011 unter Betreuung ihrer Mutter. Sie hatte 2006 mit der Beklagten (VR) einen Kapitallebensversicherungsvertrag geschlossen. 2010 „verkaufte“ sie der Firma S.B. diesen Vertrag. Alle Ansprüche daraus trat sie an die Erwerberin ab. Diese sollte die Rechte aus dem Vertrag kündigen, auflösen und verwerten dürfen. Auf die Kündigung des Vertrags zahlte der VR nach Vorlage des Originalversicherungsscheins den Rückkaufswert. Die Klägerin klagt auf Feststellung, dass der Lebensversicherungsvertrag fortbesteht. Sie hält die Vertragsauflösung und die Auszahlung des Rückkaufswerts für unwirksam. Zum Zeitpunkt der Abtretungsvereinbarung sei sie - anders als zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags, zu dem dies unklar sei - geschäftsunfähig gewesen. Der VR beruft sich auf die Legitimationswirkung des Versicherungsscheins. Das LG hat die Klage abgewiesen.
Entscheidungsgründe/Praxishinweis
Das OLG stimmt dem LG zu. Völlig unabhängig von der Frage nach der Geschäftsfähigkeit der Klägerin sei die Firma S.B. aufgrund der Legitimationswirkung des Versicherungsscheins berechtigt gewesen, den Versicherungsvertrag zu kündigen und den Rückkaufswert in Empfang zu nehmen.
Nach § 4 Abs. 1 VVG ist auf einen als Urkunde auf den Inhaber ausgestellten Versicherungsschein § 808 BGB anzuwenden. Bestimmt eine Urkunde, in der der Gläubiger benannt ist, dass die in der Urkunde versprochene Leistung an jeden Inhaber bewirkt werden kann, so wird nach § 808 Abs. 1 BGB der Schuldner durch die Leistung an den Urkundeninhaber befreit. Der Inhaber ist nicht berechtigt, die Leistung zu verlangen. Der Schuldner ist nach § 808 Abs. 2 BGB nur gegen Aushändigung der Urkunde zur Leistung verpflichtet.
MERKE | Diese Rechtsfolge entspricht dem im konkreten Fall einschlägigen § 12 Abs. 1 S. 1 ABL 2005, wonach der VR den Inhaber des Versicherungsscheins als berechtigt ansehen kann, über die Rechte aus dem Versicherungsvertrag zu verfügen, insbesondere Leistungen in Empfang zu nehmen. |
Der BGH hat bereits entschieden, dass die Legitimationswirkung des Versicherungsscheins auch das - übertragene - Kündigungsrecht zur Erlangung des Rückkaufswerts umfasst (BGH VersR 10, 375). Eine Ausnahme davon gilt allerdings, wenn der VR bösgläubig ist, d.h. der VN „Gründe des Argwohns“ geltend machen kann, die dem VR hätten Anlass geben müssen, aus Fürsorgegründen mit dem VN noch einmal Rücksprache zu halten (BGH VK 09, 170). Solche Gründe könnten sein:
- Die Kenntnis von der Geschäftsunfähigkeit des VN,
- die Kenntnis von der eingerichteten Betreuung,
- die Kenntnis von unseriösem Geschäftsgebaren des den Versicherungsschein vorlegenden oder dessen Bevollmächtigten,
- dass der Vorlegende mit dem VR eng verflochten ist.
Vorliegend kollidiert diese Rechtsprechung allerdings mit dem Schutz Minderjähriger und Geschäftsunfähiger. Daher stellt sich die Frage, welchem Schutzinteresse der Vorrang zu geben ist. Höchstrichterlich ist diese Frage bisher nicht geklärt, sie wurde ausdrücklich offengelassen (BGH WM 59, 198).
MERKE | Das OLG hat den Weg zu einer höchstrichterlichen Klärung der Streitfrage frei gemacht und die Revision zugelassen. Soweit ersichtlich wurde diese allerdings nicht eingelegt, sodass die Frage trotz der obergerichtlichen Stellungnahme nicht als abschließend geklärt angesehen werden kann. |
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Gegen den Vorrang der Legitimationswirkung des Versicherungsscheins wird in der Literatur geltend gemacht, dass das Innehalten der Urkunde nicht den Rechtsschein der Geschäftsfähigkeit ihres Besitzers bei ihrem Erwerb erzeugt. Der VR einer derart verbrieften Forderung ist in keiner Weise schutzwürdiger als der Schuldner einer jeden Forderung, der an eine geschäftsunfähige Person leiste. |
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Das OLG sieht das aber anders. Für den Vorrang der Legitimationswirkung spreche zunächst der Wortlaut des § 808 BGB, der einem VR einschränkungslos Befreiung von der Leistungspflicht gewähre, wenn er auf die Vorlage des Versicherungsscheins zahle. Sinn und Zweck sei der Vertrauensschutz auf das verbriefte Papier. Dem entspreche auch § 793 Abs. 1 S. 2 BGB. Folgerichtig werde auch im Wechsel- und Scheckrecht überwiegend angenommen, dass der Schuldner einer durch Wechsel oder Scheck verbrieften Forderung befreiend an diejenige Person leisten kann, die ihm den Wechsel oder den Scheck vorlegt. Das gelte unabhängig davon, ob sie von einer geschäftsunfähigen Person erworben wurden, es sei denn, er hat arglistig oder grob fahrlässig von der Geschäftsunfähigkeit keine Kenntnis gehabt. Würde man generell den VR das Risiko der unerkannten Geschäftsunfähigkeit einer volljährigen Person bei Abtretung der Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag und Aushändigung des Versicherungsscheins an einen Zessionar tragen lassen, müssten VR - vor allem in einer alternden Gesellschaft, in denen vermehrt demenzielle Entwicklungen in versicherter Zeit eintreten und Geschäftsunfähigkeit begründen können, ohne dass dies ohne Weiteres sogleich zu bemerken ist, und ohne dass betreuungsrechtliche Konsequenzen gezogen worden sein müssen - an sich Vorsorge treffen. Sie müssten unter Umständen in einer Vielzahl von Fällen und auch dann, wenn der VN oder die versicherte Person selbst unter Vorlage der Police Auszahlung der versprochenen Leistung in höherem Alter verlangen, die Geschäftsfähigkeit ohne konkreten Anlass prüfen dürfen. Das wird ihnen in aller Regel gar nicht möglich noch zumutbar sein. Das Risiko treffe zwar grundsätzlich jeden Schuldner, der seine Verpflichtung einer geschäftsunfähigen Person gegenüber erfüllt, aber gerade hier greife die Legitimationswirkung ein. |
Ob diese Begründung ausreicht, um den notwendigen Schutz Geschäftsunfähiger zurücktreten zu lassen, wird erst eine Entscheidung des BGH zeigen.
MERKE | Das OLG hat nach seiner Entscheidung aus prozessualen Gründen nicht berücksichtigt, dass die Klägerin möglicherweise schon bei Vertragsabschluss geschäftsunfähig war. Dann wäre der Versicherungsvertrag nichtig gewesen, §§ 105 ff. BGB. Ein erstmaliger Vortrag in der Berufungsinstanz hierzu wurde in Anwendung von § 531 ZPO als verspätet zurückgewiesen. In diesem Fall ist objektiv überhaupt keine Legitimationswirkung durch den Versicherungsschein entstanden, die fortwirken könnte, weil dazu der Versicherungsvertrag als Grundlage fehlt. Dieser Frage wäre - bei rechtzeitigem Vortrag - durch eine weitere Beweisaufnahme nachzugehen gewesen. |
Selbst wenn der Vertrag wirksam geschlossen wurde, stellt sich auch die Frage, wer die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung übernimmt. Nach der OLG-Entscheidung muss der Betreuer gegenüber dem Erwerber die Unwirksamkeit des Kaufvertrags und der Abtretung geltend machen. Dann kann er das vom Erwerber Erlangte - hier den Rückkaufswert - herausverlangen. Es besteht aber das Risiko des Entreicherungseinwands. Anderenfalls müsste der VR den Versicherungsvertrag weiterführen und seinerseits gegenüber dem Vorlegenden den Bereicherungsausgleich suchen. Ob dies dem geschäftsgewandten VR nicht eher zuzumuten ist als dem Geschäftsunfähigen mit einem möglicherweise ehrenamtlichen Betreuer und auch dies in der Abwägung berücksichtigt werden muss, scheint durchaus offen.
Checkliste / Welche Fragen sich noch stellen: |
Der Fall wirft noch viele Fragen auf, die sich aufgrund der Anträge im konkreten Fall allerdings nicht stellten und nicht zu beantworten waren. Der Bevollmächtigte des Geschäftsunfähigen wird diese Fragen jedoch zu prüfen und ggf. mit weiteren Hilfsanträgen auch prozessual Geltung zu verschaffen haben:
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