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  • · Fachbeitrag · Berufsunfähigkeitsversicherung

    Bei Berufsunfähigkeit darf nicht auf einzelne Tätigkeiten und deren Zeitanteil abgestellt werden

    | Für die Bemessung des Grads der Berufsunfähigkeit darf nicht nur auf den Zeitanteil einer einzelnen Tätigkeit abgestellt werden, die der VN nicht mehr ausüben kann, wenn diese untrennbarer Bestandteil eines beruflichen Gesamtvorgangs ist. Hierauf wies der BGH hin. |

     

    Sachverhalt

    Die VN macht Ansprüche aus einer Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung geltend. Sie war vollschichtig angestellte Hauswirtschafterin in einer Anwaltskanzlei. Ihre Aufgaben bestanden im Wesentlichen darin, die Kanzleiräume zu putzen, Einkäufe zu erledigen und den Mittagstisch für ca. 15 bis 30 Personen zuzubereiten.

     

    Die VN macht geltend, seit einem Treppensturz in ihrem Beruf zu mehr als 50 Prozent berufsunfähig zu sein. Aufgrund ihrer erheblichen Rückenbeschwerden könne sie nicht mehr putzen, keine schweren Einkäufe mehr tragen und auch nicht mehr mehrere Stunden täglich in der Küche arbeiten. Sie leide u. a. an einer somatoformen Schmerzstörung bzw. einem chronischen Schmerzsyndrom. Darum könne Sie nur noch lediglich drei Stunden am Tag als Haushaltshilfe (leichte Helfertätigkeit) arbeiten. Der VR bestreitet das Vorliegen einer vertragsgemäßen Berufsunfähigkeit.

     

    Der Sachverständige in der Berufungsinstanz (OLG Stuttgart) hatte lediglich eine Berufsunfähigkeit von 20 Prozent attestiert. Das OLG hatte die Klage der VN auf eine Berufsunfähigkeitsrente abgewiesen.

     

    Entscheidungsgründe

    Der BGH hob das Urteil des OLG auf und wies die Sache an das Berufungsgericht zurück (19.7.17, IV ZR 535/15, Abruf-Nr. 195863).

     

    Dabei stellte er insbesondere darauf ab, dass das Berufungsgericht einen falschen Maßstab angelegt habe, als es sich mit dem Gutachten des Sachverständigen befasst habe.

     

    Dieser habe ausgeführt, dass beim Einkaufen Einschränkungen beim Heben schwerer Lasten, d.h. von mehr als 5 bis 10 kg bestehen. Er habe bei der Höhe der Einschränkung von 20 Prozent zugrunde gelegt, dass das Einkaufen im Allgemeinen weniger Zeit in Anspruch nehme als Kochen und Putzen. Die Frage der Gewichte sei zwar nicht zu vernachlässigen. Auch könne das Treppensteigen mit Gewichten von über 10 kg ein Problem darstellen. Es handele sich aber nicht um eine sechsstündige Dauerbelastung. Der Vorgang des Transportierens schwerer Lasten werde aber zeitlich nicht so ausgedehnt, dass von den 20 Prozent abzuweichen sei.

     

    Das Berufungsgericht ist dieser Bewertung des Sachverständigen gefolgt ohne zu beachten, dass die Beeinträchtigung der VN in der Ausübung ihres zuletzt ausgeübten Berufs nicht allein anhand der zeitlichen Anteile der von ihr isoliert nicht mehr zu bewältigenden Tätigkeiten bemessen werden kann.

     

    • Nach ständiger Rechtsprechung des BGH darf nämlich für die Bemessung des Grads der Berufsunfähigkeit nicht nur auf den Zeitanteil einer einzelnen Tätigkeit abgestellt werden, die der VN nicht mehr ausüben kann (hier: Tragen schwerer Lasten), wenn es sich hierbei nicht um eine abtrennbare Einzelverrichtung handelt, sondern diese untrennbarer Bestandteil eines beruflichen Gesamtvorgangs ist.

     

    • Das war vorliegend der Fall. Wesentlicher Bestandteil der konkreten Tätigkeit war der Betrieb der kanzleieigenen Kantine. Die VN musste nicht nur kochen, sondern auch alle Einkäufe tätigen. Damit verbunden war ein wöchentlicher Einkauf im Großmarkt. Dort sind viele Lebensmittel wie Milch, Kartoffeln, Reis und Mehl nur in Großpackungen von mehr als 5 bis 10 kg zu erwerben. Kartoffeln wurden z. B. sackweise ab 25 kg beschafft. Die Einkäufe mussten dann in der Kanzlei vom Fahrzeug über eine Treppe in den Keller gebracht werden. Dabei war der Weg 15- bis 20-mal zurückzulegen.

     

    • Dieser wöchentliche Einkauf ist untrennbarer Bestandteil der von der VN arbeitsvertraglich geschuldeten Versorgung der Mitarbeiter durch die von ihr selbstständig zu führende Kantine. Soweit ihr die notwendigen Einkäufe nicht mehr möglich gewesen sein sollten, konnte sie auch die Kantine nicht mehr weiter führen. Sie hätte dann ihre arbeitsvertraglichen Pflichten in diesem Bereich vollständig nicht mehr erfüllen können.

     

    Der BGH stellt sodann klar: Der Sachverständige und ihm folgend das Berufungsgericht hätten deshalb nicht nur danach fragen dürfen, welchen zeitlichen Anteil der Einkauf an ihrer Arbeitsleistung hat. Sie hätten auch in den Blick nehmen müssen, in welchem Ausmaß sich ein gegebenenfalls anzunehmender Wegfall der gesamten Essenszubereitung auf die Berufstätigkeit in ihrer konkreten Ausgestaltung auswirkt. Das Berufungsgericht muss nunmehr prüfen, ob und inwieweit sich die von dem Sachverständigen festgestellten Beeinträchtigungen auf die Fähigkeit der VN zur Versorgung der Mitarbeiter in der Kantine auswirken. Es hat weiterhin aufzuklären, ob der VN im Hinblick auf die sonstigen ihr übertragenen Arbeiten, die zum Teil auch noch gewissen Einschränkungen unterliegen (Arbeiten auf Leitern, gebückte Zwangshaltungen), noch eine mehr als 50-prozentige Berufsfähigkeit verblieben ist.

     

    Relevanz für die Praxis

    Mit diesem Hinweis auf den „Gesamtblick“ bestätigt der BGH seine bisherige Rechtsprechung (BGH VK 11, 67; VersR 03, 631). Kann also ein Teil einer Tätigkeit nicht mehr ausgeübt werden, muss immer geprüft werden, ob dieser Teil auch auf den Rest der Tätigkeit ausstrahlt. Kann der Rest nicht losgelöst von dem anderen Teil ausgeübt werden, kann im Regelfall von einer Berufsunfähigkeit ausgegangen werden.

     

    Die Entscheidung zeigt aber noch etwas anderes. Der BGH hielt das Gutachten des Sachverständigen für widersprüchlich. Ergeben sich Einwände gegen das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen, muss das Gericht diese ernst nehmen, ihnen nachgehen und den Sachverhalt weiter aufklären.

     

    • Dazu kann es den Sachverständigen veranlassen, sein Gutachten schriftlich zu ergänzen.
    • Zudem bietet es sich an, den gerichtlichen Sachverständigen gemäß § 411 Abs. 3 ZPO mündlich anzuhören.
    • Ein Antrag der beweispflichtigen Partei ist dazu nicht erforderlich.
    • Gegebenenfalls muss das Gericht den Sachverständigen unter Gegenüberstellung mit dem Privatgutachter anhören, um dann entscheiden zu können, wieweit es den Ausführungen des Sachverständigen folgen will.

     

    Wenn der gerichtlich bestellte Sachverständige weder durch schriftliche Ergänzung seines Gutachtens, noch im Rahmen seiner Anhörung die sich aus dem Privatgutachten ergebenden Einwendungen auszuräumen vermag, muss der Tatrichter im Rahmen seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung gemäß § 412 ZPO ein weiteres Gutachten einholen (BGH VersR 09, 975).

     

    Da diese Vorgaben des BGH noch nicht bei allen Gerichten angekommen sind, muss der Anwalt hier tätig werden. Hat er für seinen Mandanten ein Privatgutachten vorgelegt, sollte er zum einen das Gericht auf die BGH-Rechtsprechung hinweisen. Zum anderen sollte er die Anhörung des Sachverständigen fordern und diese gut vorbereiten. Um eine Gegenüberstellung zu gewährleisten, sollte der Privatgutachter unbedingt mit zum Termin gebracht werden. Dort kann er den gerichtlichen Sachverständigen befragen und ihm Vorhaltungen machen. Auf diese Weise kann dessen Gutachten optimal erschüttert werden.

     

    Checkliste / Richtiges Vorgehen beim Gutachten

    • Zunächst sollten Sie in der Praxis die Ergebnisse des Gutachtens fokussieren, d.h. kurz, knapp und bündig zusammenfassen.
    • Dabei ist zwischen Aspekten zu unterscheiden, die der Gutachter für zwingend erachtet, weil dort normative Grundlagen bestehen (DIN, Leitlinien etc.), und reinen Wertungen.
    • Auf dieser Grundlage sollten Sie das Gericht auffordern, von seiner Pflicht Gebrauch zu machen, den gerichtlich bestellten Sachverständigen anzuleiten, § 404a ZPO.
    • Nach der Vorlage des Sachverständigengutachtens müssen Sie prüfen, ob der gerichtlich bestellte Sachverständige sich mit allen Argumenten auseinandergesetzt hat, und welche Argumente er angeführt hat.
    • Sie müssen alle Aspekte rügen, die der gerichtlich bestellte Sachverständige nicht bearbeitet hat oder bei denen er nur eine Behauptung aufgestellt hat, ohne sie näher zu begründen.
    • Beantragen Sie unbedingt die persönliche Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen.
    • Sorgen Sie dafür, dass der gerichtlich bestellte Sachverständige ggf. einem Privatgutachter gegenübergestellt wird. Hierzu empfiehlt es sich, den Privatgutachter mit in die mündliche Verhandlung zu bringen.
     
    Quelle: Ausgabe 03 / 2018 | Seite 46 | ID 44923634