· Fachbeitrag · Berufsunfähigkeitsversicherung
Das gilt, wenn der Versicherungsschein zugunsten des VN vom Antrag abweicht
von VRiOLG Frank-Michael Goebel, Koblenz
| Eine aktuelle Entscheidung des BGH zeigt, wie wichtig es ist, die einem Versicherungsverhältnis zugrunde liegenden Unterlagen vollständig zu prüfen. In besonderen Fallkonstellationen werden Versicherungen nur mit Einschränkungen angeboten. Dies gilt bei relevanten Vorerkrankungen ebenso wie bei besonderen Risiken oder - wie im konkreten Fall des BGH - bei vorberuflichen Ausbildungsverhältnissen. Nicht immer berücksichtigt der VR diese Bestimmungen aus dem Antrag dann aber auch in dem ausgefertigten Versicherungsschein. Wie mit diesem vermeintlichen Dissens umzugehen ist, löst der BGH: Der VN profitiert! |
Sachverhalt
Die Klägerin macht Leistungsansprüche aus einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung (BUZ) geltend, die sie im Jahre 2009 bei der Beklagten abgeschlossen hat. Der Antrag enthielt eine Klausel, wonach der VR die VN abstrakt auf einen anderen Ausbildungsberuf verweisen kann. Diese Klausel fehlte im Versicherungsschein. In den dort in Bezug genommenen Versicherungsbedingungen heißt es nur: „… Eine Verweisung auf eine andere Tätigkeit kommt nur dann in Betracht, wenn diese im Sinne von Absatz 4 a) konkret ausgeübt wird (Verzicht auf abstrakte Verweisung).“
Die VN absolvierte eine am 1.8.10 begonnene Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau, als sie Ende Januar 2011 einen Bandscheibenvorfall erlitt. Danach suchte sie ihre Ausbildungsstelle nicht mehr auf. Seit dem 1.9.13 befindet sie sich in einer Ausbildung zur Fachangestellten für Arbeitsmarktdienstleistungen. Sie behauptet, aufgrund des erlittenen Bandscheibenvorfalls und dessen Folgen seither bedingungsgemäß berufsunfähig zu sein. Sie meint, dass sie nicht auf die neue Ausbildung verwiesen werden könne. Die Zusatzklausel zur Berufsunfähigkeit bei Auszubildenden sei nicht Vertragsinhalt geworden. Zudem seien die Tätigkeiten nicht vergleichbar.
LG und OLG haben die Leistungsklage abgewiesen. Beim BGH war die VN dagegen erfolgreich.
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Weicht der Inhalt des Versicherungsscheins zugunsten des VN vom Inhalt des zugrunde liegenden Antrags ab, so kommt der Versicherungsvertrag auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 VVG mit dem Inhalt des Versicherungsscheins zustande, wenn der VN nicht binnen eines Monats widerspricht (Abruf-Nr. 187086). |
Entscheidungsgründe
Ausgangspunkt der höchstrichterlichen Prüfung ist § 5 VVG, der allerdings im Kern von einer durch den VR veranlassten Abweichung vom Antrag zum Nachteil des VN ausgeht. Wie im umgekehrten Fall zu verfahren ist, beantwortet der BGH kurz und knapp.
Nach § 5 Abs. 1 VVG kommt der Versicherungsvertrag mit dem Inhalt des Versicherungsscheins zustande, sofern dieser vom Inhalt des zugrunde liegenden Antrags abweicht und der VN dem nicht binnen eines Monats widerspricht. Dem Versicherungsschein liegt die Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit zugrunde.
PRAXISHINWEIS | Voraussetzung ist, dass der VR den VN auf die Abweichung und sein Widerspruchsrecht hingewiesen hat. Hat der VR die Belehrungspflichten nicht erfüllt, gilt nach § 5 Abs. 3 VVG der Vertrag als mit dem Inhalt des Antrags geschlossen. Das muss im Fall der nachteiligen Abweichung geprüft werden. Sie müssen auch prüfen, ob und wann eine solche Belehrung zugegangen ist. |
Der BGH knüpft nun an seine ältere Rechtsprechung aus dem Jahre 1995 (VersR 95, 648) an. Danach ist der Versicherungsschein auch dann maßgeblich, wenn die Abweichung den VN begünstigt. Fraglich war nun, ob dies auch gilt, wenn dem VR nicht bewusst ist, dass er vom Antrag abweicht und deshalb auch eine Belehrung im Sinne des § 5 Abs. 2 VVG fehlt. Der BGH setzt sich mit den Lösungsvorschlägen der Literatur auseinander und kommt für sich zu dem Ergebnis, dass an der bisherigen Sicht festzuhalten ist:
- In der Literatur wird nach der Reform des VVG die Ansicht vertreten, dass dann nach § 150 Abs. 2 BGB ein neuer Antrag vorliege, der erst einmal vom VN angenommen werden müsse (Rudy in Prölss/Martin, VVG 29. Aufl. § 5 Rn. 7; Knops in Bruck/Möller, VVG 9. Aufl. § 5 Rn. 8).
- Der BGH hält dem entgegen, dass der klare Wortlaut des § 5 Abs. 1 VVG gegen eine Beschränkung auf für den VN ungünstige Abweichungen spricht. Eine solche Einschränkung sei auch durch den Zweck der Norm nicht geboten.
- Nach anderer Ansicht ist im Falle für den VN günstiger Abweichungen § 5 VVG insgesamt, also einschließlich der Absätze 2 und 3 anzuwenden. Deshalb ist auch in diesem Fall eine dem § 5 Abs. 2 VVG entsprechende Belehrung erforderlich, damit die Abweichung zum Vertragsinhalt wird (Schneider in Looschelders/Pohlmann, VVG 2. Aufl. § 5 Rn. 16),
- Der BGH will auch dem nicht folgen. § 5 Abs. 2 VVG sei nur eine Schutzvorschrift für den VN. Daher sei nicht einzusehen, dass der VR aus der Verletzung der Vorschrift auch noch Rechte herleiten solle. Daran ändere auch § 5 Abs. 3 VVG nichts, der die Pflichtverletzung des VR zu dessen Lasten, nicht aber zu dessen Gunsten sanktionieren wolle.
- Eine vermittelnde Ansicht sieht § 5 VVG in vollem Umfang als anwendbar an. Sie verwehrt dem VR aber nach § 242 BGB bei Abweichungen, die für den VN günstig sind, sich auf das Fehlen der Voraussetzungen für die Genehmigungsfiktion zu berufen (so Münch-Komm-VVG/Armbrüster, 2. Aufl. § 5 Rn. 29 und FAKomm-VersR/Reusch, VVG § 5 Rn. 22 f.).
Eine Ausnahme von der Genehmigungsfiktion nach § 5 Abs. 1 VVG ist nur zu machen, wenn
- der Erklärende - also der VR - in Wahrheit etwas anderes wollte und
- der Erklärungsempfänger - also der VN - dies erkannt hat, mithin der übereinstimmende Wille beider Parteien auf einen anderen Regelungsinhalt gerichtet war.
In diesen Fällen ist unabhängig von § 5 VVG der wahre Wille des Erklärenden maßgebend. Erforderlich ist aber positives Wissen um einen vom Inhalt des Versicherungsscheins abweichenden Willen des VR. Die Erwägung des OLG, die VN habe nicht erwarten können und dürfen, dass der VR ihren Antrag ohne die Ausbildungsklausel annehme, trägt für den BGH gerade nicht.
Relevanz für die Praxis
In der Praxis wird es also regelmäßig an der zweiten Voraussetzung fehlen. Ohne Hinweis auf die Abweichung wird der durchschnittliche VN die Abweichung vom Antrag schon nicht wahrnehmen. Selbst wenn er diese Änderung wahrnimmt, wird er nicht ohne Weiteres unterstellen, dass der VR unbewusst zu seinen Gunsten vom Versicherungsantrag abgewichen ist.
Die Genehmigungsfiktion des § 5 Abs. 1 VVG hat im Ergebnis also konstitutive vertragsgestaltende Wirkung. Mit ihr soll sichergestellt werden, dass alle Bedingungen eines Versicherungsvertrags in einer einheitlichen Urkunde niedergelegt werden und damit im Streitfall leicht beweisbar sind (BGH VersR 76, 477).
Im Ergebnis hat der BGH die Sache zurückverwiesen. Aus der Sicht des OLG kam es nämlich auf die Feststellung einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit und zu einer konkreten Verweisungsmöglichkeit nicht an. Diese Fragen sind nun noch zu klären.
Weiterführender Hinweis
- Hinweis- und Belehrungspflicht des VR bei einheitlichem Antrag und teilweiser Ablehnung: OLG Saarbrücken VK 10, 43