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  • · Fachbeitrag · Berufsunfähigkeitsversicherung

    Hierauf kommt es bei der gerichtlichen Feststellung einer Berufsunfähigkeit an

    | Eine Berufsunfähigkeit ist oftmals nicht einfach festzustellen. Verschiedene Gutachter kommen möglicherweise zu verschiedenen Ergebnissen. Das OLG Hamm hat in einer Entscheidung ausgeführt, worauf es in solchen Fällen in einer gerichtlichen Entscheidung ankommt. |

    1. Der Grundsatz des § 286 ZPO

    Für die Entscheidung des Gerichts gilt § 286 ZPO: Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

     

    MERKE | Das Gericht muss also ist mit der nach § 286 ZPO notwendigen Gewissheit davon überzeugt sein, dass die Beeinträchtigungen aufgrund der Krankheit den VN fortdauernd hinderen, den zuletzt ausgeübten Beruf auszuüben.

     

    2. Unsicherheiten zum Beginn der Berufsunfähigkeit

    Möglicherweise können hinsichtlich des Eintritts der Berufsunfähigkeit zunächst Anhaltspunkte für Zweifel an den Feststellungen vorliegen. Das ist z. B. der Fall, wenn der Sachverständige konjunktivisch formuliert („dürfte“) und auf geringere kognitive Beeinträchtigungen während der psychologischen Untersuchung verweist.

     

    Hier gilt: Eine Überzeugungsbildung im Sinne des § 286 Abs. 1 ZPO setzt nicht etwa mathematisch zwingende, vollständige Gewissheit voraus. Es genügt der für das praktische Leben brauchbare Grad von Gewissheit, der verbleibenden Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (ständige Rechtsprechung, etwa BGH 1.10.19, VI ZR 164/18, Abruf-Nr. 212476). Zweifel können z. B. durch die erneute Erläuterung des Gutachtens im Senatstermin ausgeräumt worden.

     

    Das OLG Hamm (13.9.23, 20 U 371/22, Abruf-Nr. 243097) formuliert es so: „Soweit der Sachverständige im Laufe seiner Erläuterungen vor dem Senat im Hinblick auf die retrospektive Bewertung der Berufsunfähigkeit zunächst erklärt hat, keine wissenschaftliche Sicherheit berichten zu können, sondern seine Überzeugung („keine Zweifel“, eGA-II 333) als „wissenschaftlich weich“ bezeichnet hat, steht dies der richterlichen Überzeugungsbildung nicht entgegen. Denn die richterliche Überzeugungsbildung verlangt gerade keine Sicherheit im Sinne einer naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit. Und auch wenn aus fachärztlicher Sicht eine wissenschaftliche fundierte Überzeugung regelmäßig eine Objektivierung in den dafür entwickelten Testskalen erfordert, schließt dies nicht aus, dass andere Informationen aus ärztlicher Sicht die von einem Patienten für die Vergangenheit beklagten Beeinträchtigungen belegen und so zu einer richterlichen Überzeugung für ein Mindestmaß der Beeinträchtigung in der Vergangenheit führen können. So ist es hier. Der Sachverständige hat bekräftigt, dass er nach seiner fachlichen Erfahrung und Einschätzung letztlich keine Zweifel an einer Berufsunfähigkeit der Klägerin ab Mai 2016 habe. Dieses Subsumtionsergebnis Berufsunfähigkeit zu treffen, ist freilich Sache des Gerichts. Der Senat ist aber eben, sachverständig beraten und im Einklang mit der sachverständigen Einschätzung, aus den vorstehenden Gründen ohne vernünftige Zweifel überzeugt, dass ab Mai 2016 Berufsunfähigkeit bestand.“

    3. Medizinisch nicht zumutbare Tätigkeit reicht aus

    Für die Berufsunfähigkeit genügt es, wenn die Tätigkeit medizinisch nicht zumutbar ist.

     

    Würde man stets gleichsam gemessene, präzis bestimmte, unumstößlich gesicherte Befunde fordern, wäre im Falle von Erkrankungen, die nicht etwa auf plötzliche Ereignisse zurückzuführen sind und nicht mit sofort eintretenden, erkennbaren Beeinträchtigungen einhergehen, die Feststellung einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit für die Vergangenheit in vielen Fällen praktisch nicht möglich. Das folgt schon daraus, dass die Begutachtungen und die damit einhergehenden testpsychologischen Untersuchungen zur Validierung regelmäßig erst geraume Zeit nach dem vom VN geltend gemachten Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit stattfinden. Eine solche Betrachtungsweise verlangt § 286 ZPO nicht.

     

    PRAXISTIPP | Als zusätzliches Argument kann auch darauf verwiesen werden, dass eine solche Betrachtungsweise den vom VR versprochenen Versicherungsschutz, wie ihn der durchschnittliche VN verstehen darf, teilweise entwerten würde.

     

    4. Unterschiedliche Ergebnisse der Sachverständigen

    Kommen mehrere Sachverständige zu unterschiedlichen Ergebnissen, muss das Gericht ausführen, warum es dem einen folgt und dem anderen nicht.

     

    Hierauf wies bereits der BGH hin: Klärt das Gericht entscheidungserhebliche Widersprüche zwischen den Schlussfolgerungen eines gerichtlich bestellten Sachverständigen und denjenigen eines Privatgutachters nicht hinreichend auf, sondern folgt ohne logische und nachvollziehbare Begründung den Ausführungen eines von ihnen, fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts (§ 286 ZPO). Damit ist das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) derjenigen Partei verletzt, die sich das ihr günstige Beweisergebnis zu eigen gemacht hat (BGH 5.11.19, VIII ZR 344/18, Abruf-Nr. 212697).

     

    Checkliste / Vorgehensweise bei widersprüchlichen Gutachten

    Erkennbar widersprüchliche Gutachten sind keine ausreichende Grundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts. Da Art. 103 Abs. 1 GG als Prozessgrundrecht sichern soll, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, muss das Gericht die einander widersprechenden Ausführungen sorgfältig und kritisch würdigen sowie den Sachverhalt weiter aufklären. Hierzu hat der BGH eine dreistufige Vorgehensweise vorgegeben:

     

    • In welcher (geeigneten) Weise der Tatrichter seiner Pflicht zur Aufklärung des Widerspruchs nachkommt, steht grundsätzlich in seinem Ermessen. Zweckmäßigerweise kann das Gericht den Sachverständigen unter Gegenüberstellung mit dem Privatgutachter anhören (vgl. BGH NJW-RR 09, 1192 Rn. 7; NJW-RR 11, 704 Rn. 8).

     

    • Kann der Sachverständige im Ergebnis die sich aus dem Privatgutachten ergebenden Einwendungen nicht ausräumen, muss der Tatrichter im Rahmen seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung erforderlichenfalls gemäß § 412 Abs. 1 ZPO ein weiteres Gutachten einholen (vgl. BGH VersR 04, 790 unter II 1 a; NJW 16, 639 Rn. 5).

     

    • Erst wenn solche Aufklärungsbemühungen erfolglos geblieben sind, dürfen Diskrepanzen vom Tatrichter frei gewürdigt werden. Dabei muss das Gericht jedoch die einander widersprechenden Ansichten der Gutachter gegeneinander abwägen sowie mit einleuchtender und logisch nachvollziehbarer Begründung einem von ihnen den Vorzug geben (vgl. BGH VersR 08, 1676 Rn. 11; NJW-RR 19, 17 Rn. 19).
     

     

    PRAXISTIPP | Auch der Anwalt muss im Vorfeld die gleiche Tätigkeit ausführen und dem Gericht aufzeigen, warum eines der Ergebnisse vorzugswürdiger ist.

     

     

    • Beispiel

    Das OLG Hamm (a. a. O.) hat in einem entsprechenden Fall folgendermaßen abgewogen: „Daraus, dass die Untersuchung durch B. im November 2018 im Vergleich zur Untersuchung, die der Sachverständige I. hat durchführen lassen, geringere kognitive Beeinträchtigungen abgebildet hat, ergeben sich keine durchgreifenden Zweifel an der schon damals bestehenden Berufsunfähigkeit. Solche ergeben sich auch nicht daraus, dass der von der Beklagten beauftragte Gutachter H., gestützt auf die testpsychologische Zusatzbegutachtung Z., keine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit angenommen hat. Denn der Sachverständige I. hat einleuchtend und überzeugend ausgeführt, dass die Gutachterin Z. seinerzeit im Gegensatz zu ihm keine Fatigue-Skala erhoben hat. Dies allein erklärt bereits, warum es aus Sicht des Gutachters H. an einer Objektivierung der von der Klägerin beklagten Beeinträchtigungen fehlte. Zudem hatte H. ein Zusatzgutachten empfohlen und der daraufhin von der Beklagten selbst beauftragte Gutachter L. bejahte Berufsunfähigkeit. Unabhängig davon gilt im Übrigen ohnehin, dass der Sachverständige I. ‒ wie dargestellt ‒ eine umfassendere Beurteilung vorgenommen hat. Ferner wäre auch in diesem Zusammenhang wiederum zu beachten, dass, wie es I. vor dem Senat getan hat, zusätzlich nach der medizinischen Zumutbarkeit der Tätigkeit zu fragen ist, bevor Berufsunfähigkeit verneint wird.“

     
    Quelle: Ausgabe 10 / 2024 | Seite 171 | ID 50062157