· Fachbeitrag · Berufsunfähigkeitszusatzversicherung
Verwiesen werden kann nur auf einen Beruf, für den es auch einen tatsächlichen Arbeitsmarkt gibt
(OLG Nürnberg 26.2.15, 8 U 266/13, Abruf-Nr. 143991) |
Sachverhalt und Entscheidungsgründe
Die VN war an zwei Arbeitstagen mit je 5 Stunden als Arzthelferin beschäftigt. Ihre einfache Wegstrecke betrug 13 km. Wegen einer psychischen Erkrankung konnte sie unstreitig „ihren“ Beruf zu mindestens 50 % nicht mehr ausüben. Der VR lehnte gleichwohl Leistungen aus der bestehenden Berufsunfähigkeitszusatzversicherung (BUZ) ab und verwies sie auf eine Tätigkeit als Verwaltungsangestellte bei Krankenkassen oder Kliniken.
Das OLG verurteilte den VR antragsgemäß, die vereinbarten Rentenleistungen zu erbringen. Die vertragsgemäße Berufsunfähigkeit war unstreitig. Zudem ist die VN außerstande, eine Verweisungstätigkeit auszuüben.Bei der Verweisungstätigkeit wies das OLG auf die prozessualen Voraussetzungen der Darlegungs- und Beweislast hin.
Zunächst müsse der VR den Vergleichs-/Verweisungsberuf bezüglich der ihn jeweils prägenden Merkmale näher konkretisieren. Erst wenn der VR eine solche abstrakt Verweisung dargelegt hat, muss der VN vortragen und beweisen, dass er nicht auf diese andere Tätigkeit verwiesen werden darf. Hinsichtlich der Verweisung durch den VR stützte sich das OLG auf die bisherige BGH-Rechtsprechung und machte zwei Punkte deutlich:
- Die BUZ schützt nicht vor den Unwägbarkeiten des Arbeitsmarkts. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt muss damit grundsätzlich unberücksichtigt bleiben (so schon BGH VersR 89, 579).
- Erforderlich ist aber, dass es die angesonnene Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt überhaupt und nicht nur in unbedeutendem Umfange gibt. Es muss also ein Arbeitsmarkt überhaupt existieren (so schon BGH VersR 99, 1134).
MERKE | Daher scheiden Verweisungen auf Tätigkeiten, die nur in Einzelfällen nach den besonderen Anforderungen eines bestimmten Betriebs geschaffen oder auf spezielle Bedürfnisse eines bestimmten Mitarbeiters zugeschnitten worden sind („Nischenarbeitsplätze“), grundsätzlich ebenso aus wie Verweisungen auf Tätigkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt in so geringer Zahl bereitstehen, dass von einem Arbeitsmarkt praktisch nicht mehr die Rede sein kann.
- Bei der Prüfung, ob ein Arbeitsmarkt für die Verweisungstätigkeit überhaupt besteht, ist sowohl in geographischer Sicht - Aspekt der Mobilität - als auch unter dem Gesichtspunkt der zu berücksichtigenden Stellen - zeitlicher Umfang der Tätigkeit und sozialversicherungsrechtliche Einordnung - darauf abzustellen, was dem VN zumutbar ist. Dies ergibt sich aus der Auslegung von § 2 Abs. 1 BB-BUZ („seiner bisherigen Lebensstellung entspricht“) und dem Grundsatz von Treu und Glauben.
- Kernpunkt der OLG-Entscheidung war mithin die Frage, ob eine geringfügig Beschäftigte mit einem Arbeitsweg von 13 km auf eine Tätigkeit verwiesen werden kann, die eine deutlich weitere Fahrstrecke nach sich zieht.
- Die Versicherungsbedingungen regeln den Umfang des für die Verweisung in Betracht kommenden geographischen Gebiets nicht ausdrücklich. Auch der pauschale Hinweis auf berufliche Mobilität ist für sich allein kein taugliches Entscheidungskriterium.
MERKE | In der Regel gilt: Ein zur Ausübung einer Verweisungstätigkeit erforderlicher Wohnortwechsel ist unzumutbar.
- Zumutbar kann jedoch ein Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort sein, wie es viele Arbeitnehmer tun. Dies führt zu einer regelmäßigen Begrenzung des Verweisungsgebiets auf berufliche Einsatzorte, die der VN von seiner Wohnung aus täglich in zumutbarer Entfernung erreichen kann.
Nach Ansicht des OLG war der VN hier eine räumliche Mobilität von maximal 40 km Fahrstrecke zumutbar. Da nach der Beweisaufnahme feststand, dass in diesem Umkreis kein Arbeitsmarkt für eine Tätigkeit als Verwaltungsangestellte bei Krankenkassen, Krankenhäusern und Kliniken in Form einer geringfügigen Beschäftigung bestand, war die Verweisung unzulässig.
Praxishinweis
Die Überlegungen des OLG zur räumlichen Mobilität der VN sind naheliegend. Der VN-Anwalt sollte in entsprechenden Fällen die Verweisungstätigkeit auch unter diesem Gesichtspunkt prüfen. Dazu bietet sich eine Rechnung auf Basis der OLG-Entscheidung an. Dieses hatte folgende Überlegungen angestellt:
- Zu berücksichtigen ist einerseits die bisherige Wegstrecke und andererseits der erzielbare Stundenlohn.
- Legt man zur Schätzung der erforderlichen Fahrtkosten die Kostenerstattung nach § 5 JVEG von 0,25 EUR je gefahrenen Kilometer zugrunde, so musste die VN bisher ca. 15 % ihres Verdiensts (6,50 EUR bei zuletzt etwa 44 EUR Tagesverdienst) für Fahrtkosten aufwenden.
- Bei einer Entfernung von 39 km steigt dieser Wert auf 37 % (19,50 EUR bei einem möglichen Tagesverdienst in der Verweisungstätigkeit von 52,50 EUR).
- Bei einer weiteren Entfernung würde die VN anders ausgedrückt 2 von 5 Stunden pro Tag alleine für die Fahrtkosten arbeiten.
- Bei solchen wirtschaftlichen Gegebenheiten nimmt auch in ländlichen Regionen keine verständig handelnde Arzthelferin oder im Verweisungsberuf Beschäftigte längere Anfahrtswege als 40 km bei einer Teilzeittätigkeit im Bereich von 10 Wochenstunden auf sich.
Weiterführende Hinweise
- VR kann nicht wahllos auf andere zumutbare Berufe verweisen: LG Coburg VK 09, 210.
- Keine Verweisung bei befristeter Beschäftigungsmaßnahme: OLG Nürnberg VK 12, 37.