· Fachbeitrag · Unfallversicherung
Dynamiknachträge ändern nur die Prämie, nicht aber die zuvor vereinbarte Progression
von VRiOLG a.D. Werner Lücke, Telgte
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Sachverhalt und Entscheidungsgründe
Der 86-jährige VN hatte sich bei einem Sturz am Handgelenk und an der Wirbelsäule verletzt. Seine seit rund 60 Jahren bestehende Unfallversicherung war zu einem nicht mitgeteilten Zeitpunkt mit einem Progressionsnachtrag versehen worden. Seither wurden ihm jährlich Dynamiknachträge übersandt. Er hat mit der Behauptung, zu 75 Prozent invalide zu sein, unter Berücksichtigung der Progression die dafür vereinbarten Beträge geltend gemacht. Der VR bestreitet eine über - die ohne die Progression bereits entschädigte - Invalidität von 60 Prozent hinausgehende Invalidität. Er ist der Auffassung, die Progression komme aufgrund des Altersvorbehalts nicht zum Zuge. Das LG hat die Klage des VN aus folgenden Erwägungen abgewiesen:
- Ein höherer Gesamtinvaliditätsgrad als 60 Prozent liegt nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht vor. Nach § 8 II (2.) a) der vereinbarten AUB [Nr. 2.1.2.2.1 AUB 2008] wird für den Verlust einer Hand im Handgelenk ein Invaliditätsgrad von 55 Prozent angenommen. Stellt man hier unter Berücksichtigung der „Gelenkrechtsprechung“ des BGH (VersR 03, 1163) auf das Gelenk allein ab, berechnet sich der Invaliditätsgrad der Hand hier mit 38,5 Prozent (70 Prozent von 55 Prozent). Hinzu kommen weitere 20 Prozent für die allgemeine Invalidität, die dazu zu addieren sind. Der VR hat Leistungen nach einem Invaliditätsgrad von 60 Prozent bereits erbracht.
- Weitere Leistungsansprüche folgen nicht aus einem Eingreifen der Progression. § 8 II. (8.) a) der vereinbarten AUB, wonach die Progression nur bei einem Unfall greift, der sich vor Vollendung des 65. Lebensjahres des Versicherten ereignet hat, ist für sich genommen eindeutig und klar.
- Eine vorrangige Individualabrede, § 305b BGB, des Inhalts, dass die Progression auch bei einem Unfall nach Vollendung des 65. Lebensjahres eingreifen soll, ist nicht gegeben. Dabei hat eine Individualabrede gegenüber einer Klausel in AGB nicht nur dann den Vorrang, wenn ein direkter Widerspruch zwischen den jeweiligen Regelungen besteht. Es genügt vielmehr ein mittelbarer Widerspruch in der Weise, dass eine Klausel ihrem Inhalt nach von der Regelung einer Individualvereinbarung zum Nachteil des Vertragspartners des Verwenders der AGB abweicht (Palandt, BGB, 71. Aufl., § 305b, Rn. 4; OLG Karlsruhe VersR 84, 830). Eine solche Individualvereinbarung lässt sich indes nicht aus dem Versicherungsschein herleiten, welcher dem VN anlässlich der Dynamisierung übersandt wurde.
- Erfolgte die Progressionsvereinbarung vor Vollendung des 65. Lebensjahres des VN, durfte dieser die Vereinbarung der Progression nicht dahin verstehen, dass diese auch bei Unfällen nach Vollendung seines 65. Lebensjahres noch eingreifen sollte. Die Parteien vereinbarten für die Leistungsart Invalidität erhöhte Leistungen. Hierfür war Voraussetzung, dass sich der Unfall vor Vollendung des 65. Lebensjahres ereignete. Mehr lässt sich der Vereinbarung zunächst nicht entnehmen.
- Anderes könnte nur gelten, wenn die Vereinbarung nach Vollendung des 65. Lebensjahres des VN erfolgte. Die Vereinbarung eines bestimmten Tarifs, welcher nach den auch für den VR auf der Hand liegenden Umständen wegen eines Ausschlusses in den AVB oder einer primären Risikobegrenzung von vornherein niemals eingreifen könnte, dürfte ein VN dahin verstehen können, dass der Ausschluss oder die Risikobegrenzung nicht gelten soll. Für die Vereinbarung der Progression erst nach Vollendung des 65. Lebensjahres ist vorliegend jedoch nichts vorgetragen.
- In der Übersendung der jeweiligen Dynamiknachträge liegt kein Angebot, die Progression nunmehr auch bei Unfällen nach Vollendung des 65. Lebensjahres eingreifen zu lassen. Die Annahme, der VR gebe ein Angebot ab, gerichtet auf Abänderung des Vertrags auch hinsichtlich der Progression, liegt fern. Dies gilt in besonderem Maße, weil Anlass der Übersendung der Dynamiknachtrag war, mithin eine Änderung ausdrücklich nur in Bezug auf Prämie und Versicherungssumme erfolgen sollte. Gegen die Annahme eines für den VN erkennbaren Änderungswillens des VR spricht auch, dass die Erteilung eines die Dynamisierung der Versicherungsleistung beurkundenden Nachtrags zum Versicherungsschein einen formelhaften, automatisierten Vorgang darstellt, der regelhaft abläuft („elektronische Routine“, OLG Saarbrücken r+s 04, 206).
Praxishinweis
Sind mehrere Glieder und/oder Organe aus der Gliedertabelle betroffen, wird addiert. Dasselbe gilt, wenn eine teilweise oder vollständige Funktionsunfähigkeit von in der Gliedertabelle genannten Körperteilen und solchen, die dort nicht genannt sind, zusammenkommt. Dies ist, weil in den Bedingungen so geregelt, unproblematisch (§ 7 I (2) d) AUB 94; Nr. 2.1.2.2.4 AUB 2008).
An seiner im Urteil erwähnten Gelenksrechtsprechung hält der BGH unverrückbar fest, auch wenn als sicher gelten kann, dass ein durchschnittlicher VN diese Rechtsprechung auch in Anbetracht der ersichtlich missglückten Formulierung in § 7 I (2) AUB 94 („Arm/Bein im …gelenk“) nicht als eine ernsthaft in Betracht zu ziehende Auslegungsmöglichkeit ansehen wird. Auf diese gefestigte Rechtsprechung muss sich die Praxis gleichwohl einstellen (vergl. dazu die Checkliste VK 11, 81). Im Geltungsbereich der AUB 2008 ist die Rechtsprechung nach der Änderung des Bedingungswortlauts aber nicht mehr anwendbar. Hier ist der Zusatz „im …gelenk“ weggefallen.
Das LG weist zutreffend darauf hin, dass Individualabreden stets Vorrang haben, auch wenn sie mit gleichzeitig mitübersandten AGB kollidieren. Überzeugend ist auch, dass die Übersendung von Dynamiknachträgen für den Erklärungsempfänger erkennbar nur die neuen Versicherungssummen und die neuen Beiträge dokumentieren soll und deshalb nicht als Angebot zur Abänderung der Progressionsvereinbarung angesehen werden kann. Dies gilt auch, wenn wegen des Alters des VN eine Progression der Leistungen von vornherein ausscheidet.
Interessant ist, dass das LG anderes ernsthaft für möglich hält, wenn die Progressionsvereinbarung erst nach dem 65. Lebensjahr getroffen worden ist. Dies kommt nur in Betracht, wenn die Vereinbarung dann als die AUB abändernde Individualabrede verstanden werden kann. Dies ist nicht regelhaft der Fall, weil auch die Progressionsvereinbarung AGB-mäßig getroffen wird. Es ist deshalb eine Frage des Einzelfalls, zu dem dann ausdrücklich entsprechend vorgetragen werden muss. Naheliegend ist das aber m.E. nur, wenn entsprechende Wünsche oder jedenfalls Vorstellungen im Beratungsgespräch geäußert worden ist. Ohnehin bleibt abzuwarten, wie das Gericht im „Ernstfall“ entscheiden würde.