· Fachbeitrag · Unfallversicherung
Wann kommt in der Unfallversicherung ein selbstständiges Beweisverfahren in Betracht?
von VRiOLG a.D. Werner Lücke, Telgte
Die Einholung eines Sachverständigengutachtens im selbstständigen Beweisverfahren zu den in § 485 Abs. 2 S. 1 ZPO genannten Zwecken setzt regelmäßig nur voraus, dass der zugrunde liegende Leistungsanspruch nicht evident unbegründet ist (OLG Nürnberg 9.10.14, 8 W 2040/14, Abruf-Nr. 143220). |
Sachverhalt und Entscheidungsgründe
Der VN unterhält eine Unfallversicherung, bei der auch eine Borreliose-Infektion als Folge eines Zeckenbisses (Ziffer 5.2.4.2 der AUB 2008) versichert ist. Nachdem er ein neurologisches Gutachten eingeholt hatte, lehnte der VR es ab, die geltend gemachten Leistungen zu erbringen. Daraufhin beantragte der VN im Rahmen eines selbstständigen Beweisverfahrens die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens dazu, dass die Neuroborreliose auf eine drei Wochen alte Infektion zurückgehe und weiterhin zu den Fragen, ob eine Facialisparese links, allgemeine Kraftlosigkeit und Wetterfühligkeit mit Stimmungsschwankungen auf die Neuroborreliose zurückzuführen ist, die Erkrankung ein chronisches Stadium erreicht hat und wie hoch der Grad der unfallbedingten Invalidität ist.
Der VR beantragt, den Antrag zurückzuweisen. Er stimmt dem selbstständigen Beweisverfahren nicht zu und meint, dass das Verfahren nicht der Vermeidung eines Rechtsstreits dient. Der Antrag sei unschlüssig. Eine vorvertragliche Infektion könne nicht ausgeschlossen werden. Es fehle eine ausreichende, fristgerechte Invaliditätsfeststellung. Zudem werde ein Zeckenstich als Ursache der geltend gemachten Borreliose bestritten.
Auf die Beschwerde des VN hat das OLG dem Antrag stattgegeben.
- Nach § 485 Abs. 2 ZPO kann eine Partei die schriftliche Begutachtung durch einen Sachverständigen beantragen, wenn sie ein rechtliches Interesse u.a. daran hat, dass der Zustand einer Person und die Ursache eines Personenschadens festgestellt wird. Dabei ist ein rechtliches Interesse nach Satz 2 dieser Vorschrift anzunehmen, wenn die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann. Der Begriff des „rechtlichen Interesses“ ist weit zu fassen. Insbesondere ist es dem Gericht grundsätzlich verwehrt, bereits im Rahmen des selbstständigen Beweisverfahrens eine Schlüssigkeits- oder Erheblichkeitsprüfung vorzunehmen. Dementsprechend kann ein rechtliches Interesse nur verneint werden, wenn ein Rechtsverhältnis, ein möglicher Prozessgegner oder ein Anspruch nicht ersichtlich ist. Dabei kann es sich nur um völlig eindeutige Fälle handeln, in denen evident ist, dass der behauptete Anspruch keinesfalls bestehen kann (BGH NJW 04, 330; Kloth, Private Unfallversicherung, 2. Aufl., U, Rn. 25). Bei der Auslegung des Begriffs des rechtlichen Interesses ist auch zu berücksichtigen, dass die Möglichkeit besteht, dass ein Sachverständiger zu einem für den Antragsteller ungünstigen Ergebnis gelangt. Ein selbstständiges Beweisverfahren kann einen Rechtsstreit deshalb auch vermeiden, wenn das Beweisergebnis den Antragsteller bewegen kann, von der ursprünglich vielleicht beabsichtigten Klage abzusehen (OLG Celle VersR 11, 1418; OLG Karlsruhe VersR 14, 217). Zudem steht einem rechtlichen Interesse auch nicht entgegen, wenn möglicherweise eine abschließende Klärung durch das Sachverständigengutachten nicht möglich ist und eine weitere Sachaufklärung erforderlich erscheint (BGH VersR 14, 264).
- Die Argumente des VR greifen nicht. Das Fehlen einer fristgerechten ärztlichen Feststellung ist nicht evident, weil man das vorgelegte ärztliche Attest unterschiedlich werten kann. Der Senat teilt auch nicht die Auffassung des LG, dass der Grad der Invalidität nicht zum „Zustand“ des VN i.S.v. § 485 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO gehört. Die Invalidität ist nach Ziffer 2.1.1.1 der Versicherungsbedingungen als unfallbedingt dauerhaft beeinträchtigte körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit definiert. Dies beschreibt im Zusammenspiel den Zustand einer Person. Vergleichbar damit ist auch anerkannt, dass der Wert von Sachgegenständen zu deren Zustand gehört (vgl. Musielak-Huber, ZPO, § 485, Rn. 12 m.w.N.).
Praxishinweis
Wenn man mit dem OLG und der von ihm zitierten Rechtsprechung für § 485 Abs. 2 S. 2 ZPO genügen lässt, dass der Antragsteller bei ungünstigem Ergebnis des Gutachtens vielleicht von einer Klage absieht, kann das selbstständige Beweissicherungsverfahren stets durchgeführt werden, wenn das Bestehen des zu sichernden Anspruchs nicht offensichtlich von vornherein ausscheidet. Das sollte bei anwaltlicher Vertretung ohnehin nicht in Betracht kommen. Zu beachten ist allerdings, dass im selbstständigen Beweissicherungsverfahren nur die in § 485 Abs. 2 S. 1 enumerativ aufgezählten Umstände begutachtet werden können (BGH VersR 14, 1351).
Eine andere Frage ist, ob man ein solches Verfahren in der Unfallversicherung überhaupt in Betracht ziehen sollte. Es muss stutzig machen, dass dies in der Praxis so gut wie nicht vorkommt. Nach Ablehnung durch den VR konnte direkt auf Zahlung geklagt werden. Die erforderlichen gerichtlichen Feststellungen lassen sich schon wegen der Notwendigkeit einer fristgerechten ärztlichen Feststellung und der dafür erforderlichen ärztlichen Dokumentationen regelmäßig treffen. Es ist sehr viel sinnvoller, wenn der Anwalt rechtzeitig eingeschaltet worden ist, auf dieser Ebene für ausreichende Untersuchungen und Dokumentation zu sorgen. Selbst der Kostenvorteil ist nur ein scheinbarer, weil die Kosten Bestandteil eines späteren Prozesses werden und sich, etwa bei fehlender ärztlicher Feststellung, sehr schnell als unnütz verursacht herausstellen können. Das Risiko, dass sich ein Beweissicherungsverfahren letztlich als nicht zweckmäßig oder nicht sinnvoll erweisen kann, trägt allein der Antragsteller. Stehen ihm keine Ansprüche gegen den Antragsgegner zu, muss er dessen Kosten im Beweissicherungsverfahren erstatten. Kommt es nicht zum Prozess, kann der Antragsgegner dies auch gemäß § 494a ZPO durchsetzen.