21.07.2022 · IWW-Abrufnummer 230399
Oberlandesgericht Karlsruhe: Urteil vom 21.12.2021 – 9 U 81/19
1 Mit der Übernahme eines Lebensversicherungsvertrages geht auch das Recht zum Widerspruch gemäß § 5 a VVG a. F. auf den neuen Versicherungsnehmer über. Wurde der ursprüngliche Versicherungsnehmer bei Abschluss des Vertrages nicht ordnungsgemäß belehrt, kann sich der Versicherer auch gegenüber dem neuen Versicherungsnehmer nicht auf einen Ablauf der Widerspruchsfrist berufen.
2 Bei der Rückabwicklung einer Lebensversicherung kann der Nutzungsvorteil, den der Versicherer aus dem Sparanteil der Prämien erzielt hat, in der Regel mit der Nettoverzinsung abgeschätzt werden, die der Versicherer im maßgeblichen Zeitraum aus seinen Kapitalanlagen erzielt hat.
3 Aus dem Verwaltungskostenanteil der Prämien sind keine Nutzungsvorteile zu berücksichtigen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn und soweit der Verwaltungskostenanteil vom Versicherer nicht verbraucht wurde, was vom Versicherungsnehmer im Einzelfall darzulegen ist.
4 Bei einer fehlerhaften Belehrung kann sich der Versicherer auch nach Ablauf längerer Zeit nicht auf eine Treuwidrigkeit des Widerspruchs berufen, wenn sich während der Durchführung des Vertrages nur solche Umstände ergeben haben, die zur üblichen und normalen Abwicklung eines Lebensversicherungsvertrages zählen. Dazu gehören die regelmäßige Zahlung der Beiträge, eine Änderung des Bezugsrechts, eine zeitweilige Beitragsfreistellung und verschiedene Erklärungen des Versicherungsnehmers zur vertraglich vorgesehenen Dynamisierung von Beiträgen und Leistungen.
5 Die Übernahme eines Lebensversicherungsvertrages durch einen Dritten begründet in der Regel keinen Vertrauensschutz für den Versicherer, den er einem späteren Widerspruch gemäß § 5 a VVG a. F. entgegenhalten kann.
In dem Rechtsstreit
- Klägerin und Berufungsklägerin -
Prozessbevollmächtigte:
gegen
- Beklagte und Berufungsbeklagte -
Prozessbevollmächtigte:
wegen Rückzahlung geleisteter Versicherungsbeiträge
hat das Oberlandesgericht Karlsruhe - 9. Zivilsenat - durch den Richter am Oberlandesgericht Schulte-Kellinghaus als Einzelrichter am 21.12.2021 aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 12.11.2021 für Recht erkannt:
Tenor:
I.
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Freiburg vom 17.04.2019 - 14 0 185/18 - im Kostenpunkt aufgehoben und im Übrigen wie folgt abgeändert:
1
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 36.629,65 CHF zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 26.06.2018.
2
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Die weitergehende Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
III.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
IV.
Die Kosten des Verfahrens vor dem Landgericht tragen die Klägerin zu 60 %, die Beklagte zu 40 %.
V.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann eine Vollstreckung der Klägerin abwenden, durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des vollstreckbaren Betrages, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet
VI.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin verlangt von der Beklagten im Rechtsstreit die Rückabwicklung eines Rentenversicherungsvertrages.
Im Oktober 1995 beantragte der am 28.06.1966 geborene F. R. (Rechtsvorgänger der Klägerin) bei der T. Lebensversicherungs-AG den Abschluss eines Rentenversicherungsvertrages. Die Beklagte ist aufgrund eines Verschmelzungsvertrages Rechtsnachfolgerin der T. Lebensversicherungs-AG.
Die T. Lebensversicherungs-AG nahm den Versicherungsantrag des Rechtsvorgängers der Klägerin mit Versicherungsschein vom 10.10.1995 (Anlage B 1) an. Vereinbart war eine monatliche Beitragszahlung von 80 CHF. Ab dem 01.11.2024 sollte eine Jahresrente von 2.675,-- CHF an den Versicherungsnehmer gezahlt werden; zu diesem Zeitpunkt sollte dem Versicherungsnehmer außerdem das Recht zustehen, wahlweise eine Kapitalabfindung in Höhe von 40.224,-- CHF zu verlangen. Der Versicherungsnehmer war gleichzeitig versicherte Person und bezugsberechtigt im Erlebensfall. Für den Todesfall war die Klägerin als Bezugsberechtigte vorgesehen. Die zugesagten Versicherungsleistungen sollten sich durch Überschussanteile erhöhen; außerdem war im Versicherungsvertrag die Möglichkeit einer Dynamisierung von Beiträgen und Leistungen vorgesehen.
Im Dezember 1998 vereinbarten die Klägerin und ihr Rechtsvorgänger einen Versicherungsnehmerwechsel in einer privatschriftlichen Urkunde (Anlage B 4) und in einem an die Rechtsvorgängerin der Beklagten gerichteten "Antrag Versicherungsnehmerwechsel" (Anlage B 5). Die Rechtsvorgängerin der Beklagten stimmte der Vertragsübernahme zu und dokumentierte dies in einem neuen Versicherungsschein vom 19.02.1999 (Anlage K 1). Versicherungsnehmerin und Bezugsberechtigte im Erlebensfall war nunmehr die Klägerin. Versicherte Person war weiterhin der Rechtsvorgänger der Klägerin. Im Falle des Todes der Klägerin sollte M. V. bezugsberechtigt sein. Mit der Übernahme des Versicherungsvertrages wurde gleichzeitig eine Dynamisierung dokumentiert. Die monatlichen Beiträge betrugen nunmehr 106,50 CHF, die zum 01.11.2024 fällige Jahresrente 3.260,-- CHF, mit der Möglichkeit einer Kapitalabfindung in Höhe von 54.704,-- CHF.
Mit Schreiben vom 05.04.2017 an die Beklagte erklärte die Klägerin, sie widerspreche dem Zustandekommen des Versicherungsvertrages, da bei Vertragsschluss keine ordnungsgemäße Widerspruchsbelehrung erfolgt sei (Anlage K 2). Sie forderte von der Beklagten eine Rückzahlung sämtlicher auf den Vertrag geleisteten Beiträge zuzüglich der von der Beklagten gezogenen Nutzungen. Sie erklärte weiter, dass es sich bei ihrer Erklärung lediglich um einen Widerspruch und nicht um eine Kündigung des Vertrages handele. Die Beklagte erwiderte mit Schreiben vom 25.04.2017 (Anlage K 3), der im Jahr 1995 abgeschlossene Versicherungsvertrag sei nicht im Wege des sogenannten Policenmodells abgeschlossen worden, sondern im Antragsmodell. Die erforderlichen Vertragsunterlagen hätten der Klägerin, bzw. ihrem Rechtsvorgänger, bereits bei Antragstellung vorgelegen. Mithin bestehe kein Widerspruchsrecht gemäß § 5 a VVG a.F.. Die Beklagte leistete keine Zahlungen.
Im Verfahren vor dem Landgericht hat die Klägerin geltend gemacht, aufgrund ihres Widerspruchs sei der Rentenversicherungsvertrag im Jahr 1995 zwischen ihrem Rechtsvorgänger und der Rechtsvorgängerin der Beklagten nicht wirksam zustandegekommen. Der Vertrag sei im Wege des sogenannten Policenmodells und nicht im Wege des Antragsmodells abgeschlossen worden. Da die erforderliche Widerspruchsbelehrung gefehlt habe, habe die Frist zur Einlegung des Widerspruchs gemäß § 5 a VVG a.F. nicht zu laufen begonnen, so dass die Klägerin noch im Jahr 2017 zum Widerspruch berechtigt gewesen sei. Fürsorglich hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass ein wirksames Zustandekommen des Versicherungsvertrages auch dann nicht anzunehmen wäre, wenn man entgegen ihrer Auffassung von einem Vertragsschluß im Wege des sogenannten Antragsmodells ausgehen würde. Für diesen Fall sei ihr Widerspruch als Rücktrittserklärung zu verstehen. Bei einem Vertragsschluß im Wege des Antragsmodells ergebe sich das Recht zum Rücktritt aus § 8 Abs. 5 VVG a.F.. Der Rechtsvorgänger der Klägerin sei über ein eventuelles Rücktrittsrecht in dem im Oktober 1995 unterschriebenen Antragsformular (Anlage B 2) nur unzureichend belehrt worden. Die Klägerin hat Rückzahlung sämtlicher Beiträge zuzüglich der von der Beklagten aus den Prämien gezogenen Nutzungsvorteile verlangt. Insgesamt hat sie eine Zahlung von 73.286,98 CHF nebst Zinsen gefordert.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Der Vertrag zwischen dem Rechtsvorgänger der Klägerin und der Rechtsvorgängerin der Beklagten sei nicht im Wege des Policenmodells, sondern im Wege des Antragsmodells abgeschlossen worden. Über das Rücktrittsrecht gemäß § 8 Abs. 5 VVG a.F. sei der Rechtsvorgänger der Klägerin ordnungsgemäß belehrt worden. Bei Antragstellung hätten dem Rechtsvorgänger der Klägerin sämtliche erforderlichen Vertragsunterlagen und Informationen vorgelegen. Die dem Rechtsvorgänger der Klägerin damals ausgehändigten Vertragsbedingungen entsprächen inhaltlich den Informationen und Unterlagen in der Anlage B 3. Hilfsweise hat sich die Beklagte auf den Einwand der Verwirkung (§ 242 BGB) berufen, da die Beklagte aus verschiedenen Gründen auf den Bestand des Vertrages vertraut habe. Außerdem hat die Beklagte Einwendungen zur Höhe der geltend gemachten Forderung erhoben.
Mit Urteil vom 17.04.2019 hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Es könne dahinstehen, ob der Vertrag im Jahr 1995 im Wege des Policenmodells oder im Wege des Antragsmodells abgeschlossen worden sei. Außerdem könne dahinstehen, ob der Rechtsvorgänger der Klägerin damals über sein Vertragslösungsrecht (Widerspruch oder Rücktritt) ordnungsgemäß belehrt worden sei. Denn jedenfalls stehe dem Rückabwicklungsbegehren der Klägerin der Einwand des widersprüchlichen Verhaltens (§ 242 BGB) entgegen. Da die Klägerin den Versicherungsvertrag nicht selbst mit der Beklagten abgeschlossen habe, könne sie sich auf einen Belehrungsmangel im Jahr 1995 gegenüber ihrem Rechtsvorgänger nicht berufen. Aufgrund der Vertragsübernahme 1998/1999 habe die Beklagte darauf vertrauen dürfen, dass die Klägerin den Vertrag als wirksam behandeln wolle.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin. Sie hält die Entscheidung des Landgerichts aus Rechtsgründen für unzutreffend. Aufgrund der fehlenden Belehrung über das Widerspruchsrecht gegenüber ihrem Rechtsvorgänger im Jahr 1995 könne sich die Beklagte auf einen Vertrauensschutz gemäß § 242 BGB nicht berufen. Besonders gravierende Umstände, die trotz fehlerhafter Belehrung über das Widerspruchsrecht gemäß § 5 a VVG a.F. einen Einwand der Verwirkung (§ 242 BGB) für den Versicherer begründen könnten, seien nicht gegeben.
Die Klägerin beantragt,
auf die Berufung der Klägerin das Urteil des Landgerichts Freiburg - 14 0 185/18 - vom 17.04.2019 im Kostenpunkt aufzuheben und im Übrigen wie folgt abzuändern:
Die Beklagte wird verurteilt an die Klägerin CHF 73.296,98 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus aus Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das Urteil des Landgerichts. Sie ergänzt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen. Außerdem weist die Beklagte auf ihre weiteren erstinstanzlichen Einwendungen zur Frage des Vertragsabschlusses im Jahr 1995 und zur Höhe eines etwaigen Rückabwicklungsanspruchs hin.
Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
II.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist teilweise begründet. Die Beklagte ist zur Zahlung von 36.629,65 CHF nebst Zinsen verpflichtet.
1) Der Anspruch der Klägerin beruht auf ungerechtfertigter Bereicherung (§§ 812 Abs. 1 Satz 1, 818 Abs. 1 BGB). Zwischen dem Rechtsvorgänger der Klägerin und der Rechtsvorgängerin der Beklagten ist kein wirksamer Versicherungsvertrag zustande gekommen. Daher hat die Beklagte die auf den Vertrag geleisteten Versicherungsbeiträge und die von ihr gezogenen Nutzungen zurückzuzahlen. Die Klägerin ist nach der Vertragsübernahme 1998/1999 aktiv legitimiert.
a) Der Vertrag zwischen dem Rechtsvorgänger der Klägerin und der Rechtsvorgängerin der Beklagten ist im Jahr 1995 im Wege des sogenannten Policenmodells (§ 5 a VVG a.F.) und nicht im Wege des Antragsmodells (§ 8 VVG a.F.) zustande gekommen. Dass die Rechtsvorgängerin der Beklagten ausweislich des vorgelegten Antragsformulars (Anlage B 2) von einem Vertragsschluß im Wege des Antragsmodells ausging, ist rechtlich ohne Bedeutung. Denn dem Rechtsvorgänger der Klägerin wurden bei Antragstellung die Verbraucherinformationen nach § 10 a VVG a.F. nicht, oder zumindest nicht vollständig, übergeben. Daraus ergibt sich gemäß § 5 a Abs. 1 VVG a.F. i.V.m. § 8 Abs. 6 VVG a.F. eine Anwendung der Regelungen zum Policenmodell. Bei Antragstellung fehlten - zumindest - die für den damaligen Versicherungsnehmer erforderlichen Informationen über die Antragsbindungsfrist und zu den garantierten Rückkaufswerten (Anlage D Ziffer 1 f und Ziffer 2 d VAG a.F.).
Dass der Rechtsvorgänger der Klägerin bei Antragstellung weder die erforderlichen Informationen zur Antragsbindungsfrist noch zu den garantierten Rückkaufswerten erhalten hat, ist unstreitig. Die Beklagte hat im Rahmen der ihr obliegenden sekundären Darlegungslast nicht behauptet, dass der Rechtsvorgänger der Klägerin zu diesen beiden Punkten bestimmte Informationen erhalten habe. Sie hat vielmehr darauf hingewiesen, die dem Rechtsvorgänger der Klägerin bei Antragstellung überlassenen Informationen entsprächen den Angaben im vorgelegten Anlagenkonvolut B 3. In diesen vorgelegten Bedingungen und Erläuterungen gibt es keinen Hinweis auf die Antragsbindungsfrist. Zu den Garantiewerten findet sich in den von der Beklagten vorgelegten Unterlagen in § 15 Abs. 3 der Hinweis, die bei Vertragsschluss vereinbarten Garantiebeträge seien aus einer Übersicht ersichtlich, die mit dem Versicherungsschein überlassen werde. Hiervon ausgehend gab es bei Antragstellung keine Mitteilung von Garantiebeträgen.
Aus dem Fehlen der erforderlichen Unterlagen bei Antragstellung ergibt sich unmittelbar gemäß § 5 a Abs. 1 VVG a.F. die Anwendung des Policenmodells mit den Belehrungspflichten gemäß § 5 a Abs. 2 VVG a.F..
Diese Rechtsfolge - Anwendbarkeit des Policenmodells, wenn bei Antragstellung erforderliche Informationen nicht übergeben wurden - hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 18.07.2018 (Versicherungsrecht 2018, 1113) bestätigt. Bereits das Fehlen eines Hinweises zur Antragsbindungsfrist führt zur Anwendung von § 5 a Abs. 1 VVG a.F.. Bei der Antragsbindungsfrist handelt es sich um einen Umstand, der einem berechtigten Informationsbedürfnis des Versicherungsnehmers dient (BGH, a.a.0). Es geht dabei - entgegen dem rechtlichen Missverständnis im Schriftsatz der Beklagten vom 26.11.2021 - nicht um die Konsequez eines Lösungsrechts der Klägerin, sondern lediglich um die Abgrenzung zwischen Antragsmodell und Policenmodell.
b) Aus der Anwendbarkeit der Regelungen über das Policenmodell folgt, dass der Rechtsvorgänger der Klägerin gemäß § 5 a Abs. 1 VVG a.F. vierzehn Tage nach Überlassung der maßgeblichen Unterlagen (Versicherungsschein, Versicherungsbedingungen und Verbraucherinformation) zum Widerspruch berechtigt war, und dass die Beklagte den Versicherungsnehmer, gemäß der Regelung in § 5 a Abs. 2 VVG a.F. bei Aushändigung des Versicherungsscheins entsprechend schriftlich belehren musste. Eine Belehrung über das Widerspruchsrecht gemäß § 5 a Abs. 1 VVG a.F. ist unstreitig nicht erfolgt. Daher konnte die Frist von vierzehn Tagen zur Einlegung eines Widerspruchs nicht zu laufen beginnen. Gemäß § 8 Abs. 6 VVG a.F. sind die Regelungen über das Antragsmodell nicht anwendbar; es kommt daher nicht darauf an, ob und inwieweit die Belehrung im Antragsformular (Anlage B 1) zutreffend gewesen wäre, wenn der Vertrag im Antragsmodell abgeschlossen worden wäre.
c) Mit der Übernahmevereinbarung 1998/1999 ist die Klägerin Versicherungsnehmerin geworden und als Vertragspartnerin der Beklagten an die Stelle ihres Rechtsvorgängers getreten. Ihr stehen daher sämtliche Rechte aus der im Jahr 1995 geschaffenen Vertragsbeziehung zwischen dem früheren Versicherungsnehmer F. R. und der Beklagten (bzw. deren Rechtsvorgängerin) zu. Die Klägerin ist berechtigt, das ursprünglich ihrem Rechtsvorgänger zustehende Widerspruchsrecht gegen das Zustandekommen des Versicherungsvertrages im Jahr 1995 gegenüber der Beklagten auszuüben.
d) Mit dem Schreiben vom 05.04.2017 (das versehentlich als Datum des Vertragsbeginns 01.11.1996 nennt statt 01.11.1995) hat die Klägerin das auf sie übergegangene Widerspruchsrecht gemäß § 5 a Abs. 2 Satz 1 VVG a.F. wirksam ausgeübt. Da die Frist zum Widerspruch von vierzehn Tagen wegen fehlender Belehrung bei Überlassung des Versicherungsscheins im Jahr 1995 nicht zu laufen beginnen konnte, war der Widerspruch noch im Jahr 2017 möglich. Aufgrund des Widersspruchs ist der im Jahr 1995 abgeschlossene Vertrag endgültig unwirksam. Daraus folgt die Rückabwicklung des Vertrages im Wege des Bereicherungsausgleichs. Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich von dem Sachverhalt in der von der Beklagten zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 23.03.2017 (- IV ZR 365/13-, zitiert nach Juris) dadurch, dass es vorliegend nicht um einen Widerspruch gegen den Versicherungsnehmerwechsel im Dezember 1998 geht, sondern um einen Widerspruch gegen das Zustandekommen des ursprünglichen Vertrages.
2) Der Zahlungsanspruch der Klägerin errechnet sich wie folgt:
Gezahlte Prämien: | 23.585,45 CHF |
Nutzungen der Beklagten: | 13.044,20 CHF |
Summe: | 36.629,65 CHF. |
a) Die Höhe der auf den Vertrag eingezahlten Beiträge ist zwischen den Parteien unstreitig. Nutzungen aus dem Sparanteil der Prämien in Höhe von 13.044,20 CHF hat die Beklagte unstreitig gestellt.
b) Die Klägerin geht von wesentlich höheren Nutzungsvorteilen der Beklagten aus. Dabei stützt sie ihre Berechnungen auf die aus den Geschäftsberichten der Beklagten ersichtliche Eigenkapitalrendite. Die Eigenkapitalrendite ist jedoch kein geeigneter Maßstab, um die von der Beklagten erzielten Nutzungen zu schätzen (vergleiche BGH, NJW 2020, 2030 [BGH 29.04.2020 - IV ZR 5/19]). Es kommt daher nicht darauf an, ob und inwieweit die von der Klägerin vorgelegten Berechnungen, die sich auf die Eigenkapitalrendite stützen, rechnerisch zutreffend sind. Zur Schätzung der Nutzungsvorteile ist - entgegen der Auffassung der Beklagten - die Nettoverzinsung ihrer Kapitalanlagen ein geeigneter Maßstab (vergleiche OLG Stuttgart, Urteil vom 07.11.2019 - 7 U 116/19 -, Randnummer 91 ff, zitiert nach JURIS; KG Berlin, Versicherungsrecht 2020, 605; OLG Rostock VuR 2021, 278). Die Klägerin hat - in ihrer erstinstanzlichen Hilfsbegründung - unter Berücksichtigung der Nettoverzinsung Nutzungen der Beklagten aus den Sparbeiträgen lediglich in Höhe von 9584,83 CHF errechnet (Schriftsatz vom 13.11.2018, Seite 4 1125). Da die Beklagte mit einer anderen Berechnungsmethode Nutzungen aus dem Sparanteil in Höhe von 13.044,20 CHF errechnet hat (s.o.), ist davon auszugehen, dass die Klägerin sich dieses Vorbringen - hilfsweise - zu eigen gemacht hat.
c) Nutzungen aus dem Verwaltungskostenanteil der Prämien stehen der Klägerin nicht zu. Nutzungen aus einem Verwaltungskostenanteil können zwar in Betracht kommen, wenn und soweit die Verwaltungskosten vom Versicherer nicht verbraucht worden sind. Es gibt jedoch keinen Erfahrungssatz, dass dies regelmäßig der Fall ist. Aus dem Sachvortrag der Klägerin und aus den erstinstanzlichen vorgelegten Berechnungen ergeben sich keine Darlegungen, dass der Verwaltungskostenanteil - oder bestimmte Teile der Verwaltungskosten - der Beklagten zur Erzielung von Nutzungen zur Verfügung stand. Daher sind Nutzungen aus dem Verwaltungskostenanteil unschlüssig (vergleiche OLG Stuttgart, Urteil vom 13.12.2018 - 7 U 108/18-, Randnummer 85, zitiert nach JURIS; BGH, Urteil vom 26.09.2018 - IV ZR 304/15 -, Randnummer 31, zitiert nach JURIS). Entgegen der Auffassung der Klägerin ergibt sich aus der zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs (ebenso wie aus dem Urteil vom 29.04.2020 - IV ZR 5/19 -, zitiert nach Juris) nicht, dass bei einer Rückabwicklung eines Lebensversicherungsvertrages nach Bereicherungsrecht der Verwaltungskostenanteil der Prämien generell zu verzinsen ist; vielmehr ist eine Verzinsung des Verwaltungskostenanteils nur dann gerechtfertigt, wenn und soweit der Versicherer durch den Einsatz des Verwaltungskostenanteils andere Finanzmittel erspart hat (vgl. die zitierten BGH-Entscheidungen), was sich dem Vorbringen der Klägerin nicht entnehmen lässt.
d) Risikokosten sind beim Bereicherungsausgleich nicht abzuziehen. Die Klägerin hat zwar in ihrer erstinstanzlichen Berechnung 630,91 CHF Risikokosten als Abzugsposition berücksichtigt. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass mit dem streitgegenständlichen Versicherungsvertrag ein Risikoschutz verbunden war. Dementsprechend hat die Beklagte in ihrer Abrechnung Risikokosten nicht abgezogen. Im Rahmen des gestellten Antrags ist davon auszugehen, dass sich die Klägerin dies hilfsweise zu eigen macht.
3) Der Widerspruch der Klägerin im Jahr 2017 war nicht treuwidrig, das Recht zum Widerspruch ist nicht verwirkt (§ 242 BGB).
a) Ein Versicherer genießt bei der Rückabwicklung eines Lebensversicherungsvertrages, der im Wege des Policenmodells gemäß § 5 a VVG a.F. zustande gekommen ist, in der Regel keinen Vertrauensschutz, wenn er den Versicherungsnehmer nicht ordnungsgemäß belehrt hat. Bei einer fehlerhaften - oder fehlenden - Belehrung kann sich der Versicherer in der Regel auch dann nicht auf Treu und Glauben berufen, wenn der Versicherungsnehmer erst nach vielen Jahren von seinem Widerspruchsrecht Gebrauch macht. Der Versicherer kann in diesem Fall einem späten Widerspruch des Versicherungsnehmers nur dann den Einwand von Treu und Glauben entgegensetzen, wenn besonders gravierende Gesichtspunkte von Treu und Glauben im Einzelfall dies erfordern (vergleiche BGH, RuS 2016, 230; BGH, Versicherungsrecht 2017, 275; BGH, Urteil vom 25.01.2017 - IV ZR 173/15 - Randnummer 21, zitiert nach JURIS).
b) Besonders gravierende Umstände, die im Einzelfall - trotz einer fehlenden Belehrung über das Widerspruchsrecht - einen Vertrauensschutz des Versicherers rechtfertigen, liegen nicht vor, wenn sich bei der Durchführung des Vertrages bis zur Rückabwicklung nur solche Umstände ergeben haben, die zur normalen Vertragsabwicklung eines Lebensversicherungsvertrages zählen. Im vorliegenden Fall liegen lediglich solche normalen Umstände vor. Dazu gehören die regelmäßige Beitragszahlung, eine Änderung des Bezugsrechts bei der Vertragsübernahme 1998/1999, eine auf Antrag der Klägerin erfolgte Beitragsfreistellung im Jahr 2013 und verschiedene Erklärungen der Klägerin zur Inanspruchnahme der Dynamisierung von Beiträgen und Leistung (vergleiche zu üblichen Umständen einer normalen Vertragsdurchführung BGH, Urteil vom 25.01.2017 - IV ZR 173/15 -, Randnummer 21, zitiert nach JURIS; BGH, Urteil vom 12.12.2016 - IV ZR 339/15 -, Randnummer 15, zitiert nach JURIS; BGH, Urteil vom 17.05.2017 - IV ZR 499/14, zitiert nach Juris).
c) Der Zeitablauf zwischen dem Vertragsschluss im Jahr 1995 und dem Widerspruch im Jahr 2017 spielt - bei einer fehlenden Widerspruchsbelehrung - keine Rolle. Der Bundesgerichtshof hat mehrfach klargestellt, dass bei einer fehlenden oder fehlerhaften Widerspruchsbelehrung ein langer Zeitraum bis zum Widerspruch nichts daran ändert, dass nur gravierende (oder besonders gravierende) Umstände des Einzelfalles einen Vertrauensschutz zugunsten des Versicherers begründen können (vergleiche BGH, Beschluss vom 13.01.2021 - IV ZR 67/20 -, zitiert nach JURIS; BGH, Beschluss vom 23.06.2021 - IV ZR 157/20 -, zitiert nach JURIS).
d) Die Vertragsübernahme 1998/1999 vom Rechtsvorgänger auf die Klägerin ist kein besonders gravierender Umstand im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der einen Einwand gemäß § 242 BGB begründen könnte. Die Übernahme eines Lebensversicherungsvertrages im privaten Bereich unterscheidet sich nicht von anderen Vertragsänderungen, die zur normalen Durchführung eines Lebensversicherungsvertrages gehören und keinen besonderen Vertrauensschutz begründen können. Aus der Vertragsübernahme 1998/1999 ergaben sich keine Schlussfolgerungen aus der Perspektive der Beklagten, was die Klägerin und ihr Rechtsvorgänger - im Hinblick auf ein Widerspruchsrecht einerseits und im Hinblick auf Vor- und Nachteile des Vertrages andererseits - vor der Übernahmevereinbarung geprüft haben könnten; denn zu diesem Zeitpunkt gingen alle Beteiligten ersichtlich von einem wirksamen Vertrag aus, so dass nichts für einen besonderen Bestätigungswillen der Klägerin ersichtlich war. Auf die Frage, ob und inwieweit die Klägerin zum Zeitpunkt der Vertragsübernahme schutzwürdig war, kommt es nicht an. Denn der Widerspruch der Klägerin richtet sich nicht gegen die Vertragsübernahme, sondern gegen das Zustandekommen des Vertrages im Jahr 1995. An dem gesetzlich festgelegten Schutzbedürfnis des Versicherungsnehmers gemäß § 5 a Abs. 2 VVG a.F. hat sich nichts dadurch geändert, dass das dem Rechtsvorgänger der Klägerin zustehende Widerspruchsrecht nicht mehr von diesem, sondern als übergegangenes Recht später von der Klägerin geltend gemacht wurde. Ob und inwieweit Gesichtspunkte von Treu und Glauben anders zu beurteilen sind, wenn ein gewerblicher Aufkäufer von Lebensversicherungsverträgen gegen Entgelt den Vertrag einer Versicherungsnehmerin übernimmt (vergleiche dazu KG Berlin, Beschluss vom 10.04.2018 - 6 U 128/17-, zitiert nach JURIS) kann dahinstehen. Denn eine solche Konstellation liegt bei einer Vertragsübernahme im privaten Bereich nicht vor.
e) Die Beklagte kann sich auch nicht darauf berufen, die Klägerin sei bei der Vertragsübernahme - und bei sämtlichen anderen Handlungen und Erklärungen während der Vertragslaufzeit - davon ausgegangen, das Vertragsverhältnis sei wirksam. Dies trifft zwar zu, daraus ergeben sich jedoch keine Gesichtspunkte von Treu und Glauben. Es ist ein Merkmal aller Rückabwicklungsfälle gemäß § 5 a VVG a.F. bei unzureichender Belehrung, dass der Versicherungsnehmer - oft über viele Jahre von der Wirksamkeit des Vertrages ausgeht und sämtliche Handlungen im Rahmen der Vertragsabwicklung (Beitragszahlung, Änderungsvereinbarungen etc.) von der Vorstellung geleitet sind, der Vertrag sei wirksam. Das heißt: Die Tatsache, dass die Klägerin bei der Vertragsübernahme 1998/1999 von einem wirksamen Vertrag ausging, unterscheidet sich nicht von der Vertragsabwicklung in anderen Widerspruchsfällen. Daher konnte die Vertragsübernahme bei der Beklagten keine besonderen Erwartungen begründen, die Klägerin würde - auch bei einer späteren Kenntnis von Mängeln - unbedingt am Vertrag festhalten wollen (vergleiche dazu BGH, RuS 2016, 339; BGH, Versicherungsrecht 2017, 275; BGH, NJW-RR 2018, 161 [BGH 27.09.2017 - IV ZR 506/15]).
f) Es sind auch auf Seiten der Beklagten keine besonderen Umstände ersichtlich, die zu einem besonderen Vertrauensschutz führen müssten. Die Rückabwicklung des Vertrages nach Bereicherungsrecht führt dazu, dass die Beklagte im Hinblick auf die Prinzipien des Bereicherungsrechts - im Wesentlichen - nicht schlechter gestellt wird, als wenn der Vertrag nicht abgeschlossen worden wäre. (Lediglich bei den Abschlusskosten hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass sich ein Versicherer bei Rückabwicklung des Vertrages aus europarechtlichen Gründen nicht auf einen Wegfall der Bereicherung berufen könne, vgl. BGH, VersR 2020, 88.) Dass die Beklagte - abweichend vom Regelfall - im Vertrauen auf den Bestand des Vertrages besondere zusätzliche Aufwendungen getätigt hätte, ist nicht ersichtlich.
g) Der Europäische Gerichtshof hat in einer Entscheidung vom 09.09.2021 - C 33/20 u.a. -, zitiert nach Juris) die Anwendung des Verwirkungstatbestandes im deutschen Recht bei der Rückabwicklung von Verbraucherkreditverträgen aus europarechtlichen Gründen beanstandet. Ob und inwieweit sich für die deutsche Rechtspraxis daraus Konsequenzen für die Frage einer Verwirkung bei der Rückabwicklung von Lebensversicherungen ergeben können, kann dahinstehen Denn der Anspruch der Klägerin ist aus den angegebenen Gründen unter Anwendung der vom Bundesgerichtshof entwickelten Rechtsprechung nicht verwirkt.
4. Die geltend gemachten Zinsen stehen der Klägerin gemäß § 291 BGB zu.
5. Die Beklagte hat nach Schluss der mündlichen Verhandlung im Schriftsatz vom 26.11.2021 ergänzend vorgetragen, der Rechtsvorgänger sei im Zusammenhang mit einem Policenbegleitschreiben vom 11.12.1995 auch über ein Widerspruchsrecht gemäß § 5 a VVG a. F. belehrt worden. Eine Prüfung des neuen Sachvortrags - nach Schluss der mündlichen Verhandlung - kommt gemäß § 296 a ZPO nicht in Betracht. Gründe für eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung (§ 156 ZPO) sind nicht ersichtlich, zumal für die Beklagte kein Hindernis bestand, diesen Vortrag früher in den Rechtsstreit einzuführen.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Ziffer 10, 711 ZPO.
7. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) liegen nicht vor. Die für die Entscheidung des Senats maßgeblichen Rechtsfragen sind in der obergerichtlichen Rechtsprechung geklärt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es Sache des Tatrichters, im Einzelfall unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Sachverhalts festzustellen, ob besonders gravierende Umstände im Sinne der Rechtsprechung zur Verwirkung vorliegen. Diesen Grundsätzen entspricht die Entscheidung des Senats. Der Umstand, dass bei veröffentlichten Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte, allerdings bei unterschiedlichen Sachverhalten, teilweise divergierende Tendenzen bei der Prüfung der Verwirkung erkennbar sind (teilweise eher zu Gunsten des Versicherungsnehmers, teilweise eher zu Gunsten des Versicherers) rechtfertigt für den vorliegenden Fall keine Zulassung der Revision.
Der Einzelrichter: Schulte-Kellinghaus Richter am Oberlandesgericht
Hinweis:
Verkündet am 21.12.2021