14.11.2014 · IWW-Abrufnummer 143267
Bundesgerichtshof: Urteil vom 26.02.2003 – IV ZR 238/01
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 25. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 24. Juli 2001 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger, mitarbeitender Inhaber eines Automatenaufstellbetriebes, begehrt von der beklagten Versicherungsgesellschaft über die von dieser freiwillig gezahlte Rente für eine 40%ige Berufsunfähigkeit hinaus die volle vereinbarte Rente (monatlich 4. 453 DM) für die Zeit ab 1. Januar 1994.
Nach den Vertragsbedingungen der 1976 von den Parteien vereinbarten Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung gewährt die Beklagte bei teilweiser Berufsunfähigkeit die für vollständige Berufsunfähigkeit festgesetzten Leistungen nur in der Höhe, die dem Grad der Berufsunfähigkeit entspricht. Teilweise Berufsunfähigkeit von weniger als einem Viertel gibt keinen Anspruch. Ab einer teilweisen Berufsunfähigkeit von mindestens Dreiviertel werden die vollen Leistungen erbracht.
Der Kläger ist seit 1975 selbständiger Automatenaufsteller, der in Gaststätten Geldspielgeräte, Billardtische und Musikboxen aufstellt, die Geräte wartet und auswechselt und jeden seiner etwa 80 bis 100 Kunden alle 14 Tage aufsucht, um die Automaten zu leeren, das Geld mit Hilfe einer Geldzählmaschine zu zählen, dem Gastwirt seinen Anteil auszukehren und den eigenen Anteil mitzunehmen. Die Abrechnungstätigkeit übte der Kläger persönlich und allein aus, bis er zum 1. Mai 1989 zusätzlich zu den bis dahin von ihm beschäftigten Mitarbeitern (zwei Monteure und für die Büroarbeiten seine Ehefrau) seinen Sohn einstellte, der ihn seitdem auf seinen Abrechnungsfahrten begleitet und ihm das Tragen schwerer Gegenstände abnimmt (Laptop, das eingesammelte Hartgeld, insbesondere aber die 20 kg schwere Geldzählmaschine).
1986 wurde bei dem Kläger wegen einer Ulcus-Erkrankung eine 2/3-Magenresektion vorgenommen. Seit 1987 zahlt die Beklagte ihm eine Berufsunfähigkeitsrente. Vom 1. Oktober 1987 bis zum 1. Oktober 1990 betrug sie 60% der vollen Rente; vom 2. Oktober 1990 bis zum 1. Januar 1994 35%, und seit dem 1. Oktober 1990 zahlt die Beklagte 40%. Demgegenüber begehrt der Kläger ab 1. Januar 1994 die volle Rente mit der Begründung, er sei spätestens seit Anfang 1989 zu mindestens 75% berufsunfähig. Nicht nur habe er nach wie vor erhebliche Magenbeschwerden, deretwegen er täglich fünf kleine Mahlzeiten einnehmen und anschließend jeweils eine halbstündige Ruhepause einhalten müsse, sondern er leide auch an Erkrankungen des Bewegungsapparates, vor allem der Wirbelsäule, der Knie- und der Hüftgelenke, die sich seit den 70er Jahren kontinuierlich verschlimmert und ihm spätestens seit Anfang 1989 das Tragen schwerer Gegenstände, insbesondere der Geldzählmaschine, unmöglich gemacht hätten. Allein aus diesem Grund habe er zum 1. Mai 1989 seinen Sohn als Begleiter bei den Abrechnungsfahrten eingestellt.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg. Die Feststellungen des Berufungsgerichts tragen die Klageabweisung nicht.
I.
Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Der Kläger sei nicht zu mehr als 40% berufsunfähig. Aufgrund des vom Landgericht eingeholten orthopädischen Sachverständigengutachtens stehe zwar zur Überzeugung des Senats fest, daß der Kläger keine schweren Gegenstände tragen dürfe. Auch sei bewiesen, daß der Kläger früher Geräte aufgestellt und vor Ort oder in seiner Werkstatt repariert und daß er die Geräte entleert und mit den Gastwirten den Gewinn abgerechnet habe, wozu er die schweren Spielgeräte bzw. die schwere Geldzählmaschine, habe heben und tragen müssen. Durch seine krankheitsbedingte Unfähigkeit zu diesen für seinen Beruf prägenden, wesentlichen Einzelverrichtungen sei der Kläger als mitarbeitender Betriebsinhaber jedoch noch nicht berufsunfähig. Dazu genüge nicht, daß er Einzelverrichtungen, die er sich bisher ausgesucht hatte, nicht mehr ausüben könne. Der Kläger übe vielmehr immer noch eine angemessene Tätigkeit aus, weil er weiter seine Mitarbeiter überwache und einsetze, die Kundenwerbung weiterbetreibe und die Spielgeräte entleere und mit seinen Kunden abrechne. Wegen dieser fortdauernden Erledigung seiner alten Aufgaben habe er, ungeachtet der Einstellung eines neuen Mitarbeiters, seinen Betrieb auch nicht umorganisiert. Der Kläger falle zwar bei dem Transport und der Reparatur der Spielgeräte völlig aus, jedoch mache dieser Teil seiner Tätigkeit nach seinen eigenen Angaben nur 10% seiner Arbeitszeit aus, während er 80% für das Abkassieren und die Abrechnung verwende. Beim Abkassieren und Abrechnen sei ihm aber nur das Tragen der Geldzählmaschine und das Tragen des eingesammelten Hartgeldes zur Bank unmöglich. Er habe nicht nachgewiesen, daß diese beiden Tragevorgänge mehr als 30% seiner gesamten Arbeitszeit ausmachten, so daß nicht davon ausgegangen werden könne, daß er zu mehr als 40% berufsunfähig sei.
II.
Diese Ausführungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Berufsunfähigkeit liegt nach den Vertragsbedingungen vor, wenn der Versikcherte infolge Krankheit oder Körperverletzung ganz oder teilweise außerstande ist, seinen Beruf oder eine andere Erwerbstätigeit auszuüben, die seiner Lebensstellung, seinen Kenntnissen und Fähigkeiten angemessen ist. Bei einem mitarbeitenden Betriebsinhaber muß zunächst, genau wie bei jedem anderen Versicherten, die Voraussetzung erfüllt sein, daß er zu seiner konkreten beruflichen Tätigkeit, so wie sie bis zum Eintritt der Gesundheitsbeeinträchtigung ausgestaltet war, in einem Ausmaß nicht mehr imstande ist, das nach den Versicherungsbedingungen einen Rentenanspruch begründet. Darüber hinaus muß der mitarbeitende Betriebsinhaber aber darlegen und erforderlichenfalls beweisen, daß ihm eine zumutbare Betriebsorganisation keine gesundheitlich noch zu bewältigende Betätigungsmöglichkeit eröffnen kann, die bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit ausschließen würde (BGH, Urteil vom 12. Juni 1996 - IV ZR 118/95 - VersR 1996, 1090 unter II 3 a). Bei der Prüfung der ersten Voraussetzung ist dem Berufungsgericht ein Rechtsfehler unterlaufen, der dazu geführt hat, daß es die - erforderliche - Prüfung der zweiten Voraussetzung unterlassen hat.
1.
Das Berufungsgericht hat übersehen, daß der gerichtliche Sachverständige bei seiner Feststellung, daß der Kläger keine schweren Gegenstände mehr tragen könne, dem insoweit rechtsirrtümlichen Beweisbeschluß des Landgerichts folgend, auf einen falschen Stichtag abgestellt hat, nämlich auf den 1. Januar 1994, der den Beginn des vom Kläger geltend gemachten Leistungszeitraums markiert. Sollte die Unfähigkeit des Klägers, schwer zu tragen, tatsächlich erst an diesem Tage eingetreten sein, so hätte sie keine Berufsunfähigkeit herbeigeführt. Denn bei dieser geht es darum, wie sich gesundheitliche Beeinträchtigungen bei einer konkreten Berufsausübung auswirken (BGH, Urteil vom 12. Juni 1996 - IV ZR 116/95 - VersR 1996, 959 unter II 1). Dabei ist maßgebend die letzte konkrete Berufsausübung, so wie sie noch in gesunden Tagen ausgestaltet war, d. h. solange die Leistungsfähigkeit des Versicherten noch nicht beeinträchtigt war (BGH, Urteil vom 22. September 1993 - IV ZR 203/92 - VersR 1993, 1470 unter 3). Die Abrechnungstätigkeit des Klägers war aber bereits lange vor dem 1. Januar 1994, nämlich schon seit dem 1. Mai 1989, dem Tage der Einstellung seines Sohnes als Begleiter, so ausgestaltet, daß er gar nicht mehr schwer zu tragen brauchte; denn dies nahm ihm seitdem sein Sohn ab. Falls der Kläger seinen Sohn noch "in gesunden Tagen" eingestellt hatte, hat eine nachträglich eingetretene Unfähigkeit zum Tragen ihn also nicht berufsunfähig gemacht. Der Kläger hat aber substantiiert behauptet, daß er bereits seit Anfang 1989 nicht mehr in der Lage sei, schwere Lasten zu heben, und allein aus diesem Grund seinen Sohn als Gehilfen eingestellt habe. Dieser Vortrag ist indessen durch das gerichtliche Sachverständigengutachten noch nicht bewiesen, weil das Landgericht dem Gutachter fälschlich die Frage vorgelegt hat, ob der Kläger seit dem 1. Januar 1994 nicht mehr schwer tragen könne, und der Sachverständige dementsprechend auch eine auf dieses Datum bezogene bejahende Antwort gegeben hat.
Ist aber somit bislang offen, ob und wie sich die behaupteten gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers Anfang 1989 auf seine Fähigkeit zur weiteren Berufsausübung auswirkten, so fehlt es an einer Beurteilungsgrundlage dafür, wie hoch der Grad seiner Berufsunfähigkeit anzusetzen ist und ob der Kläger sich durch Umorganisation ein Berufsunfähigkeit ausschließendes Tätigkeitsfeld verschaffen konnte.
Das Berufungsurteil konnte daher keinen Bestand haben. Es war aufzuheben und die Sache zur Nachholung der erforderlichen weiteren Feststellungen an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
2.
Dabei wird das Berufungsgericht die folgenden rechtlichen Gesichtspunkte berücksichtigen müssen:
a)
Falls der Kläger schon vor der Einstellung seines Sohnes nicht mehr schwer tragen konnte, darf das Berufungsgericht bei der Bemessung des Grades der hierdurch hervorgerufenen Berufsunfähigkeit des Klägers nicht nur auf den - vom Berufungsgericht nicht bezifferten - Zeitanteil abstellen, der auf das Tragen der Geldzählmaschine entfiel. Das Tragen der Geldzählmaschine war keine abtrennbare und deshalb gesondert zu veranschlagende berufliche Einzelverrichtung, sondern ein untrennbarer Bestandteil des Abrechnungsvorgangs, der aus An- und Abfahrt, der Leerung der Automaten, dem Zählen des Hartgeldes mittels der Geldzählmaschine, der Berechnung des Anteils des jeweiligen Gastwirts, der Auszahlung dieses Anteils an den Gastwirt und dem Abtransport des eigenen Anteils des Klägers bestand. Diese Abrechnung war ein einheitlicher Lebensvorgang, zu dem das Tragen der Geldzählmaschine dazugehörte; denn ohne diese konnte der Kläger nicht abrechnen.
b)
Bei der etwaigen Prüfung, ob der Kläger die Tätigkeiten in seinem Betrieb auch nicht auf zumutbare Weise so umschichten kann, daß ihm eine die bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit ausschließende Tätigkeit verbleibt (BGH, Urteil vom 12. Juni 1996, aaO unter 3), wird zu beachten sein, daß der Kläger entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts, eine Umorganisation seines Betriebes bereits vorgenommen hat, indem er seinen Sohn einstellte (zur Umorganisation durch Einstellung weiterer Mitarbeiter vgl. BGH, Urteil vom 25. September 1991 - IV ZR 145/90 - VersR 1998, 1358 unter 2 b). Es kommt deshalb darauf an, ob diese Umorganisation für ihn unzumutbar war. Eine Umorganisation ist für den Versicherten nur dann zumutbar, wenn sie nicht mit auf Dauer ins Gewicht fallenden Einkommenseinbußen verbunden ist (BGH, Urteile vom 5. April 1989 - IV ZR 35/88 - VersR 1989, 579 [BGH 05.04.1989 - IV a ZR 35/88] und vom 25. September 1991 - IV ZR 145/90 - VersR 1991, 1358).
c)
Schließlich darf das Berufungsgericht das Magenleiden des Klägers nicht unberücksichtigt lassen. Sollte der Kläger aus orthopädischer Sicht Anfang 1989 zu weniger als 75% berufsunfähig oder sollte ihm die Umorganisation zumutbar gewesen sein, so müßte das Berufungsgericht die Frage klären, ob, seit wann und inwieweit ihn sein Magenleiden an der Fortsetzung seiner früheren Tätigkeit hindert.