11.05.2023 · IWW-Abrufnummer 235232
Oberlandesgericht Karlsruhe: Urteil vom 02.05.2023 – 12 U 208/22
1. Eine Widerspruchsbelehrung, nach der die Frist für den Widerspruch mit dem "Erhalt des Versicherungsscheins" beginnen soll, ist fehlerhaft.
2. Die spätere Ausübung des Widerspruchsrechts verstößt jedoch gegen Treu und Glauben, da lediglich ein geringfügiger Belehrungsfehler vorliegt, sofern dem Versicherungsnehmer die Verbraucherinformation und die Versicherungsbedingungen tatsächlich mit dem Versicherungsschein übersandt wurden.
Oberlandesgericht Karlsruhe
In dem Rechtsstreit
- Klägerin und Berufungsklägerin -
Prozessbevollmächtigter:
gegen
Prozessbevollmächtigte:
I.
Die Klägerin, eine Société en commandite par actions (RAIF) mit Sitz in Luxemburg und beim Landgericht Karlsruhe als Rechtsdienstleister gemäß § 10 Abs. 1, 3 RDG registriert, erhebt Ansprüche aus der Rückabwicklung zweier Versicherungsverträge aus abgetretenem Recht.
Der Versicherungsnehmer L. schloss mit Antrag vom 29.11.2004 bei der Beklagten im Wege des Policenmodells eine Rentenversicherung unter der Versicherungsscheinnummer ...15 ab. Versicherungsbeginn war der 01.12.2004. Der Ablauf der Beitragszahlung war für den 30.11.2009 und der Beginn der Rentenzahlung war für den 01.12.2016 vorgesehen. Das Policenbegleitschreiben vom 07.12.2004 enthielt auf der zweiten Seite folgende Belehrung:
"Widerspruchsrecht
Wie Ihnen bereits auf Grund unseres Hinweises im Versicherungsantrag bekannt ist, können Sie innerhalb einer bestimmten Frist nach Erhalt des Versicherungsscheins dem Versicherungsvertrag uns gegenüber in Textform widersprechen. Bitte beachten Sie hierzu, dass auf Grund einer Änderung des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) die Widerspruchsfrist ab dem 01.10.2004 von 14 auf 30 Tage verlängert wurde. Diese Regelung gilt selbstverständlich auch für Ihren Vertrag. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerspruchs."
Der Vertrag wurde vollständig durchgeführt; die Rechtsvorgängerin der Beklagten zahlte die mit Schreiben vom 26.11.2016 errechnete Ablaufleistung von 37.133,18 € aus.
Mit Vereinbarung vom 11./13.06.2018 trat der Versicherungsnehmer sämtliche Ansprüche betreffend die Rückabwicklung des Versicherungsvertrags mit sofortiger Wirkung an die Klägerin ab, die die Abtretung annahm.
Der Widerspruch des Versicherungsnehmers datiert vom 18.05.2021. Die klägerseits verlangte bereicherungsrechtliche Rückabwicklung lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 10.06.2021 ab.
Der Versicherungsnehmer R. schloss bei der Beklagten im Wege des Policenmodells eine fondsgebundene Rentenversicherung unter der Versicherungsscheinnummer ...01 ab. Der Versicherungsbeginn war auf den 01.08.2004 datiert. Das Policenbegleitschreiben vom 21.07.2004 enthielt auf der Rückseite folgende Belehrung:
"WIDERSPRUCHSRECHT
Wie Ihnen bereits auf Grund unseres Hinweises im Versicherungsantrag bekannt ist, können Sie innerhalb von 14 Tagen nach Erhalt des Versicherungsscheins dem Versicherungsvertrag uns gegenüber in Textform widersprechen. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerspruchs. Genaue Angaben über Beginn und Ablauf der Frist enthält die Ziffer "Können Sie nach Abschluss des Versicherungsvertrags dem Vertrag noch widersprechen?" in der beigefügten "Verbraucherinformation zu Ihrer Fondsgebundenen Rentenversicherung nach Tarif ... ".
Der Versicherungsnehmer führte zwei weitere Versicherungsverträge bei der Beklagten. Auf seinen Antrag hin wurde dem Versicherungsnehmer im Jahr 2007 ein Policendarlehen gewährt. Mit Schreiben vom 28.01.2009 erklärte der Versicherungsnehmer die Kündigung, die ihm die Beklagte bestätigte. Mit Schreiben vom 02.02.2009 erbat der Versicherungsnehmer die Zurücknahme der Kündigung und beantragte eine sofortige Beitragsbefreiung. Die Beklagte bestätigte mit Schreiben vom 05.02.2009 die Wiederinkraftsetzung der Versicherung und mit weiteren Schreiben die Beitragsfreistellung zum 01.03.2009.
Mit Schreiben vom 22.02.2010 erklärte der Versicherungsnehmer die Kündigung, woraufhin die Beklagte 2.210,56 € an ihn auszahlte.
Mit Vereinbarung vom 24./30.10.2018 trat der Versicherungsnehmer sämtliche Ansprüche betreffend die Rückabwicklung des Versicherungsvertrages mit sofortiger Wirkung an die Klägerin ab, die die Abtretung annahm.
Der Widerspruch des Versicherungsnehmers datiert auf den 24.10.2018. Die klägerseits verlangte bereicherungsrechtliche Rückabwicklung lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 06.06.2019 ab.
Die Klägerin hat vorgetragen:
Die Beklagte habe die Prämien jeweils ohne rechtlichen Grund erlangt. Die Vorlage der Verbraucherinformationen müsse die Beklagte vortragen. Die Widerspruchsbelehrungen seien jeweils fehlerhaft. Daher hätten die Versicherungsnehmer ihre Gestaltungsrechte noch im Jahr 2018 wirksam ausgeübt. Die Aktivlegitimation der Klägerin ergebe sich jeweils aus der Abtretung; der Versicherungsvertrag enthalte kein Abtretungsverbot. Auf Verwirkung könne sich die Beklagte nicht berufen, da sie die Situation mit den fehlerhaften Widerspruchsbelehrungen selbst herbeigeführt habe. Gravierende Umstände im Sinne der Rechtsprechung lägen nicht vor. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs setze ein Rechtsmissbrauch bestimmte subjektive Momente bei den Versicherungsnehmern voraus. Aufgrund des wirksam erklärten Widerspruchs habe die Klägerin jeweils Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der geleisteten Prämien abzüglich des Wertes des genossenen Risikoschutzes sowie auf Herausgabe der seitens der Beklagten gezogenen Nutzungen.
Die Klägerin hat zuletzt beantragt:
1.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen Betrag von 3.367,69 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 13.06.2021 sowie eine Verzugskostenpauschale von 40,- € zu zahlen.
2.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen Betrag von 3.657,80 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 09.06.2019 sowie eine Verzugskostenpauschale von 40,- € zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat vorgetragen:
Die Klägerin sei nicht aktivlegitimiert. Der Forderungskauf verstoße jeweils gegen § 2 RDG und sei deshalb unwirksam. Darüber hinaus sei der Forderungskauf jeweils sittenwidrig und daher nichtig. Die Widerspruchsbelehrungen seien jeweils ordnungsgemäß erfolgt. Sämtliche Versicherungsbedingungen und relevanten Verbraucherinformationen hätten den Versicherungsnehmern bei Vertragsschluss vorgelegen. Unabhängig von der Wirksamkeit des Vertragsschlusses seien die geltend gemachten Ansprüche jedenfalls verwirkt. Das Geschäftsmodell der Klägerin, die Lebensversicherungsverträge gewerblich verwerte, stehe nicht im Einklang mit dem Schutzzweck des Gesetzes. Ferner sei zu berücksichtigen, dass nach Unionsrecht nur die Vertragswahlfreiheit, nicht jedoch das Ziel der bloßen Profitmaximierung schutzwürdig sei. Die Berechnung der Anspruchshöhe durch die Klägerin sei jeweils unschlüssig und beruhe lediglich auf Schätzwerten.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zahlungsansprüche stünden der Klägerin nicht zu. Zwar seien die Widerspruchsbelehrungen fehlerhaft, weil es an dem Hinweis fehle, dass die Widerspruchsfrist erst beginne, wenn dem Versicherungsnehmer neben dem Versicherungsschein auch die Versicherungsbedingungen und die Verbraucherinformationen überlassen worden seien. Durch diesen Belehrungsmangel werde den Versicherungsnehmern aber - unter Berücksichtigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19.12.2019 (C-355/18 u.a.) - nicht die Möglichkeit genommen, ihr Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Die Verbraucherinformationen und Policenbedingungen seien laut den Policenbegleitschreiben an die Versicherungsnehmer jeweils übersandt worden. Die Belehrungen seien auch ausreichend drucktechnisch hervorgehoben. Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer habe erkennen müssen, dass die Widerspruchsfrist mit dem Abschluss des Vertrags beginnt. Zudem stehe der Ausübung der Widerspruchsrechte jedenfalls im Fall R. auch der Einwand der Verwirkung entgegen.
Dagegen richtet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, mit der sie ihre erstinstanzlichen Anträge weiter verfolgt. Zur Begründung trägt sie vor:
Im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sei ein missbräuchliches Verhalten des Versicherungsnehmers nur bei Vorliegen subjektiver Momente, namentlich der Absicht, sich einen unionsrechtlich nicht vorgesehenen Vorteil zu verschaffen, anzunehmen. In der Fallgruppe unzureichender Widerspruchsbelehrungen könne sich die Beklagte im Hinblick auf die Entscheidung des Gerichtshofs vom 09.09.2021 (C-33/20 u.a.) nicht auf Verwirkung berufen. Der Berufung auf Verwirkung oder Rechtsmissbrauch stehe auch entgegen, dass es an einer Nachbelehrung fehle.
Die Beklagte tritt der Berufung entgegen.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird, soweit der Senat keine abweichenden Feststellungen getroffen hat, auf das erstinstanzliche Urteil sowie auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.
II.
Die Berufung ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.
1. Gegen die Aktivlegitimation der Klägerin bestehen, was der Senat bereits wiederholt in vergleichbaren Fällen entschieden hat, keine Bedenken.
a) Die Versicherungsnehmer haben die streitgegenständlichen Forderungen jeweils mit "Forderungskauf- und Abtretungsvertrag mit Erlösbeteiligung" wirksam an die Klägerin abgetreten. Die Klägerin zieht aufgrund dieser Vereinbarungen die Forderungen auf eigene, nicht auf fremde Rechnung ein (Senat, Beschluss vom 05.10.2021 - 12 U 341/20, nicht veröffentlicht).
Im Übrigen wäre die Abtretungsvereinbarung auch im Falle der Qualifizierung als erlaubnispflichtige Inkassodienstleistung nicht wegen Verstoßes gegen § 3 RDG nach § 134 BGB nichtig, da die Klägerin zur Einziehung der Forderung aufgrund ihrer Registrierung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG berechtigt ist. Ihre Zulassung als Inkassodienstleister deckt auch die Vornahme von mit der Inkassotätigkeit notwendig verbundenen rechtlichen Prüfungen (vgl. BGH, Urteil vom 27.11.2019 - VIII ZR 285/18, juris Rn. 111 ff.).
b) Entgegen der Ansicht der Beklagten sind die zwischen der Klägerin und den Zedenten geschlossenen Verträge auch nicht nach § 138 BGB nichtig. Ein auffälliges Missverhältnis der wechselseitigen Leistungen im Sinne von § 138 Abs. 2 BGB ist nicht ersichtlich. Zu Recht weist das Landgericht darauf hin, dass sich die Klägerin nicht nur zur Zahlung eines Kaufpreises in Höhe von 20 % des von der Klägerin prognostizierten Beitreibungserlöses zuzüglich 20 % eines etwaigen Mehrerlöses verpflichtet, sondern darüber hinaus auch das Risiko der Beitreibbarkeit der Forderung und der Aufwendung der damit verbundenen Kosten übernommen hat (Anlagen K 6 und K 7). Daher sind die Vereinbarungen auch nicht als wucherähnliches Rechtsgeschäft zu qualifizieren.
c) Soweit die Beklagte meint, die Abtretung des Widerspruchsrechts an einen Policenaufkäufer laufe dem Normzweck des § 5a VVG a.F. zuwider, ist dies irrelevant, da der Widerspruch hier jeweils von den Versicherungsnehmern erklärt und allein daraus resultierende Ansprüche an die Klägerin abgetreten wurden.
2. Ansprüche auf Rückabwicklung der streitgegenständlichen Verträge bestehen jedoch nicht, da die Versicherungsnehmer im Jahr 2018 bzw. 2021 den Verträgen nicht mehr wirksam nach § 5a VVG a.F. widersprechen konnten.
a) Der Widerspruch des Versicherungsnehmers L. gegen das Zustandekommen des Vertrags Nr. ...15 ist als rechtsmissbräuchlich zu werten (§ 242 BGB).
aa) Allerdings war die Widerspruchsbelehrung, wovon auch das Landgericht zu Recht ausgeht, bei der gebotenen abstrakten Beurteilung nicht ordnungsgemäß, da die fristauslösenden Unterlagen unvollständig benannt sind (vgl. Senat, Urteil vom 30.05.2018 - 12 U 14/18, juris Rn. 22; BGH, Urteil vom 24.08.2015 - IV ZR 175/14, juris Rn. 13; Urteil vom 28.09.2016 - IV ZR 192/14, juris Rn. 13 f.). Der Versicherungsnehmer wurde nicht darüber informiert, dass die Widerspruchsfrist erst zu laufen beginnt, wenn ihm neben dem Versicherungsschein auch die Verbraucherinformationen und die Versicherungsbedingungen übergeben worden sind (§ 5a Abs. 2 Satz 1 VVG a.F.).
Weitere Mängel der Belehrung sind nicht festzustellen. Insbesondere war die Belehrung auf der Rückseite des Policenbegleitschreibens hinreichend drucktechnisch hervorgehoben. Die Widerspruchsbelehrung ist dort unter der Überschrift "Widerspruchsrecht" als einziger Absatz kursiv gedruckt; sowohl durch den Kursivdruck als auch durch die Stellung als zweiter Absatz unter den "Wichtigen Hinweisen" ist gewährleistet, dass die Belehrung auch bei flüchtiger Betrachtung nicht übersehen werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 06.05.2020 - IV ZR 102/19, juris Rn. 14). Auch über die Widerspruchsfrist wurde zutreffend informiert. Diese betrug - der Belehrung entsprechend - 30 Tage. Das Policenbegleitschreiben datiert vom 07.12.2004, so dass davon auszugehen ist, dass der Versicherungsschein und die weiteren erforderlichen Unterlagen dem Versicherungsnehmer frühestens am 08.12.2004 zugegangen waren. Anwendbar war daher § 5a VVG a.F. in der ab dem 08.12.2004 gültigen Fassung (vgl. BGH, Urteil vom 16.12.2015 - IV ZR 71/14, juris Rn. 11).
bb) Aus dem inhaltlichen Fehler der Belehrung ergibt sich kein fortbestehendes Widerspruchsrecht, da ein Bereicherungsanspruch der Klägerin jedenfalls nach § 242 BGB wegen rechtsmissbräuchlicher Ausübung des Widerspruchsrechts ausgeschlossen ist (vgl. BGH, Urteil vom 15.02.2023 - IV ZR 353/21, juris Rn. 13 ff. zur unrichtigen Information über die Form des Widerspruchs).
Wird dem Versicherungsnehmer durch die fehlerhafte Belehrung nicht die Möglichkeit genommen, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, wäre es unverhältnismäßig, es ihm zu ermöglichen, sich von den Verpflichtungen aus einem in gutem Glauben geschlossenen Vertrag zu lösen (EuGH, Urteil vom 19.12.2019, Rust-Hackner u.a., C-355/18 u.a., juris Rn. 81 f.). Unter diesen (engen) Voraussetzungen liegt ein geringfügiger Belehrungsfehler vor, der einer Ausübung des Widerspruchsrechts nach § 242 BGB entgegensteht (BGH aaO Rn. 14 ff.; Urteil vom 15.03.2023 - IV ZR 40/21, juris Rn. 12).
So ist es auch hier. Durch die unvollständige Information über die den Fristbeginn auslösenden Unterlagen wurde dem Versicherungsnehmer nicht die Möglichkeit genommen, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben (so auch OLG Hamm, Beschluss vom 29.10.2020 - I-20 U 142/20, juris Rn. 51 ff.; OLG Nürnberg, Beschluss vom 22.02.2021 - 8 U 3888/20, juris Rn. 22; vgl. auch OLG Stuttgart, Urteil vom 31.03.2022 - 7 U 221/21, juris Rn. 34 ff. zu einer fehlerhaften Belehrung über die Widerspruchsfrist). Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19.12.2019 (aaO) ist bei der Prüfung, ob dem Versicherungsnehmer diese Möglichkeit genommen wird, eine Gesamtwürdigung vorzunehmen, bei der dem nationalen Rechtsrahmen und den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen ist. Bei der Anwendung des aus § 242 BGB hergeleiteten Übermaßverbots ist zu prüfen, ob es sich um eine nur geringfügige, im Ergebnis folgenlose Vertragsverletzung handelt (BGH aaO Rn. 15 f.). Entscheidend ist hier, dass dem Versicherungsnehmer, was auch die Klagepartei selbst vorträgt (Seite 2 der Klageschrift) die Verbraucherinformationen und die Versicherungsbedingungen - der Auflistung der Anlagen im Policenbegleitschreiben entsprechend - mit dem Versicherungsschein übersendet worden sind. Unter diesen Umständen war es ausgeschlossen, dass der Versicherungsnehmer durch die unvollständige Information in der Widerspruchsbelehrung an einem wirksamen, insbesondere fristgerechten Widerspruch gehindert wird. Vielmehr wurde er zutreffend darüber informiert, dass die Frist mit Abschluss des Vertrags beginnt und konnte die Frist aufgrund der Information in der Belehrung zutreffend berechnen. Zudem lagen ihm alle Unterlagen vor, die er für seine Entscheidung, ob er dem Zustandekommen des Vertrags widersprechen will, benötigte. Er konnte daher sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Information über die fristauslösenden Unterlagen ausüben. Es handelt sich um eine geringfügige, im Ergebnis folgenlose Verletzung der Pflicht des Versicherers zur ordnungsgemäßen Belehrung. Nach dem aus § 242 BGB hergeleiteten Übermaßverbot wäre die Einräumung eines Widerspruchsrechts unter diesen Umständen unverhältnismäßig.
Dabei verkennt der Senat nicht, dass der Bundesgerichtshof bislang bei dem hier vorliegenden Belehrungsfehler von einem Widerspruchsrecht auch nach jahrelanger Durchführung des Vertrags ausgegangen ist (Urteil vom 28.09.2016 - IV ZR 192/14, juris Rn. 12 ff.) und den Fehler als nicht nur marginal bewertet hat (aaO Rn. 19). Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19.12.2019 (C-355/18) und der hieran anknüpfenden Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15.02.2023 (IV ZR 353/21) ist diese bisherige Rechtsprechung jedenfalls in den Fällen obsolet, in denen der Belehrungsmangel - wie hier - nicht geeignet war, den Versicherungsnehmer von einem wirksamen Widerspruch abzuhalten, im Ergebnis also folgenlos geblieben ist.
Nichts anderes ergibt sich aus der klägerseits zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15.03.2023 - IV ZR 40/21 (juris). Danach bleibt der Versicherungsnehmer beim Fehlen eines Hinweises auf die erforderliche Textform des Widerspruchs im Unklaren darüber, in welcher Form er die Widerspruchserklärung abzugeben hat, woraus eine nicht unerhebliche Erschwernis der Ausübung des Widerspruchsrechts resultiert (aaO Rn. 14). An einer solchen Erschwernis fehlt es hier aus den dargelegten Gründen.
cc) Die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Ausübung des Widerspruchsrechts in dem Fall, dass dem Versicherungsnehmer durch den Belehrungsfehler nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, steht nach der bereits zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 15.02.2023 - IV ZR 353/21, juris Rn. 23 ff.) in Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass der Gerichtshof mit seiner Entscheidung vom 09.09.2021 (Volkswagen Bank u.a., C-33/20 u.a.), die sich nicht mit der Differenzierung nach der Bedeutung des Belehrungsmangels befasst, von seiner Entscheidung vom 19.12.2019 (Rust-Hackner u.a., C-355/18 u.a.) abweichen wollte (BGH aaO Rn. 25).
dd) Die Frage, ob das Policenmodell mit den Lebensversicherungsrichtlinien der Europäischen Union unvereinbar ist, ist hier nicht entscheidungserheblich. Auch im Falle einer unterstellten Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des Policenmodells ist es dem - im Wesentlichen - ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer, der sich aus den genannten Gründen nicht auf die geringfügige Fehlerhaftigkeit der Belehrung berufen kann, nach Treu und Glauben wegen widersprüchlicher Rechtsausübung verwehrt, sich nach jahrelanger Durchführung des Vertrages auf dessen angebliche Unwirksamkeit zu berufen und daraus Bereicherungsansprüche herzuleiten (BGH aaO Rn. 27 ff.).
b) Auch hinsichtlich des Vertrags des Versicherungsnehmers R. (Nr. ...01) stehen der Klägerin die geltend gemachten Ansprüche nicht zu.
aa) Auch insoweit war die Widerspruchsbelehrung im Policenbegleitschreiben fehlerhaft, da der Fristbeginn allein an den Erhalt des Versicherungsscheins geknüpft wurde. Offen bleiben kann, ob die Belehrung, was die Klagepartei in Abrede stellt und anhand der von der Beklagten vorgelegten Reproduktion nicht erkennbar ist, hinreichend drucktechnisch hervorgehoben war.
bb) Auch dann, wenn der Belehrungsfehler mangels hinreichender drucktechnischer Hervorhebung der Belehrung nicht als geringfügig anzusehen war, ist der Widerspruch im Jahr 2018 als treuwidrig zu werten (§ 242 BGB).
(1) Fehlt es - wie hier - an einer ordnungsgemäßen Widerspruchsbelehrung, kann der Versicherer grundsätzlich kein schutzwürdiges Vertrauen in Anspruch nehmen, weil er die Situation selbst herbeigeführt hat (BGH, Urteil vom 01.06.2016 - IV ZR 343/15, juris Rn. 21; BGH, Urteil vom 07.05.2014 - IV ZR 76/11, juris Rn. 39). Etwas anderes kann sich im Einzelfall ergeben, wenn der Versicherungsnehmer durch sein Verhalten den Eindruck erweckt hat, den Vertrag unbedingt fortsetzen zu wollen, und sein nachträglicher Widerspruch deshalb treuwidrig erscheint. Insoweit reicht die "normale" Vertragsdurchführung - sei es auch über einen langen Zeitraum - nicht aus (Senat, Urteil vom 06.12.2016 - 12 U 137/16, juris Rn. 26; Urteil vom 30.05.2018 - 12 U 14/18, juris Rn. 26), ebenso wenig bloße Vertragsänderungen (BGH, Urteil vom 21.12.2016 - IV ZR 217/15, juris Rn. 14). In Fällen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Widerspruchsbelehrung oder einer fehlenden oder unvollständigen Verbraucherinformation kann die Geltendmachung des Widerspruchsrechts nur ausnahmsweise Treu und Glauben widersprechen und damit unzulässig sein, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen (BGH, Beschluss vom 03.06.2020 - IV ZB 9/19, juris Rn. 14; Beschluss vom 11.11.2015 - IV ZR 117/15, juris Rn. 17; Beschluss vom 27.01.2016 - IV ZR 130/15, juris Rn. 16; Urteil vom 01.06.2016 - IV ZR 482/14, juris Rn. 24; Urteil vom 21.12.2016 - IV ZR 217/15, juris Rn. 14; Urteil vom 26.09.2018 - IV ZR 304/15, juris Rn. 23).
(2) Unter Beachtung dieser hohen Anforderungen ist der Widerspruch hier als treuwidrig anzusehen. Das Zeitmoment ist gegeben, da der Versicherungsnehmer dem Zustandekommen des Vertrags erst 14 Jahre nach Vertragsschluss widersprochen hat. Auch gravierende, das Vertrauen in den Fortbestand begründende Umstände lagen vor.
Entscheidend ist, dass der Versicherungsnehmer den Versicherungsvertrag mit Schreiben vom 28.01.2009 "mit sofortiger Wirkung" gekündigt hat mit anschließender Bestätigung der Kündigung durch die Beklagte; sodann hat der Versicherungsnehmer um Aufhebung der Kündigung gebeten und die Fortführung unter Beitragsbefreiung gewünscht, woraufhin die Beklagte die Aufrechterhaltung des Vertrags mit Schreiben vom 05.02.2009 bestätigt hat. Hierdurch hat der Versicherungsnehmer den Eindruck erweckt, er wolle an dem Vertrag unbedingt festhalten und von einem Lösungsrecht keinen Gebrauch machen. Der Sachverhalt ist vergleichbar mit der Wiederinkraftsetzung eines gekündigten Vertrags auf Betreiben des Versicherungsnehmers, die nach der Rechtsprechung sowohl nach Kündigung durch den Versicherer (BGH, Beschluss vom 11. November 2015 - IV ZR 117/15, juris Rn. 17 f.), als auch nach Kündigung durch den Versicherungsnehmer (OLG Köln, Urteil vom 26. Februar 2016 - I-20 U 178/15, juris Rn. 5) für die Annahme einer Verwirkung ausreicht (vgl. Senat, Beschluss vom 09.07.2019 - 12 U 1/19 n.v.).
Dass die Beklagte keine Nachbelehrungen ausgebracht hat, ändert daran, anders als die Klägerin meint, nichts. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Beklagte mit einer solchen Nachbelehrung von sich aus auf die Beendigung des Schwebezustands hätte hinwirken können (offen gelassen von BGH, Urteil vom 15.03.2023 - IV ZR 40/21, juris Rn. 24), führt das Fehlen einer solchen Nachbelehrung nicht dazu, dass die Beklagte nicht mehr schutzwürdig wäre, wenn der Vertragspartner - wie hier geschehen - durch sein Verhalten gravierende Vertrauenstatbestände setzt.
Die Behauptung der Klägerin, die Beklagte habe im Hinblick auf mögliche Rückabwicklungen von Lebensversicherungsverträgen Rücklagen gebildet, ist unerheblich. Die Beklagte musste seit Bekanntwerden der Rechtsprechung zum "ewigen Widerspruchsrecht" generell mit der Möglichkeit der Rückabwicklung von Verträgen rechnen. Diese generelle Betrachtung lässt aber die Frage unberührt, ob das Widerspruchsrecht bezüglich eines bestimmten Vertrags durch das konkrete Verhalten eines Versicherungsnehmers verwirkt ist.
(3) Soweit die Klägerin der Auffassung ist, eine Verwirkung des Widerspruchsrechts gemäß § 5a Abs. 1 VVG a. F. komme aufgrund der Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs überhaupt nicht oder allenfalls dann in Betracht, wenn zusätzlich eine subjektive Komponente des Verbrauchers vorläge, folgt dem der Senat nicht. Diesbezüglich ist auch keine Vorlage an den Gerichtshof erforderlich.
Ohne Erfolg macht die Klägerin geltend, die Frage des Rechtsmissbrauchs könne im unionsrechtlich geregelten Bereich nicht anhand der Anforderungen des nationalen Rechts, sondern ausschließlich anhand des unionsrechtlichen Verbots des Rechtsmissbrauchs beurteilt werden. Im Bereich der Lebensversicherungsrichtlinien ist ein Rückgriff auf den nationalen Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB zulässig, während es auf den allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts zum Rechtsmissbrauch und dessen Voraussetzungen nicht ankommt, soweit die praktische Wirksamkeit der Richtlinien nicht beeinträchtigt wird (BGH, Urteil vom 15.02.2023 - IV ZR 353/21, juris Rn. 33). Für eine Beeinträchtigung der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts ist hier nichts ersichtlich. Denn der Gesichtspunkt von Treu und Glauben greift nur in Fällen jahrelanger Durchführung des Vertrags und bei besonders gravierenden Umständen des Einzelfalls, wenn - wie hier - der Versicherungsnehmer hinreichend deutlich zum Ausdruck gegeben hat, er wolle an dem Vertrag unbedingt festhalten.
Die Annahme von Rechtsmissbrauch setzt auch keine subjektive Komponente voraus. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 15.02.2023 (IV ZR 353/21, juris Rn. 39 f.) klargestellt, dass die Ausführungen im Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 09.09.2021 (Volkswagen Bank u.a., C-33/20 u.a.) zum subjektiven Element des Rechtsmissbrauchs allein den unionsrechtlichen Grundsatz des Rechtsmissbrauchs betreffen, also Vorgänge, die nur zu dem Zweck stattfinden, missbräuchliche Vorteile aus dem Unionsrecht zu ziehen oder Vorschriften des Unionsrechts zu umgehen. Darum geht es hier nicht. Vielmehr ist das widersprüchliche Verhalten des Versicherungsnehmers entscheidend, das für diesen erkennbar ein schutzwürdiges Vertrauen bei dem Versicherer geweckt hat (aaO Rn. 40). Dass etwas anderes für den nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer gelten soll, ist der Entscheidung des Bundesgerichtshofs nicht zu entnehmen, da hierin nur ergänzend ("im Übrigen ...") darauf verwiesen wird, dass der Fall des nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmers nicht streitgegenständlich ist (aaO Rn. 40). Vielmehr entspricht die Anwendung der nationalen Regeln über den Rechtsmissbrauch im Fall von besonders gravierenden Umständen der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (zuletzt BGH, Beschluss vom 08.09.2021 - IV ZR 133/20, juris Rn. 17), ohne dass insoweit Bedenken wegen des Gebots der praktischen Wirksamkeit der europarechtlichen Vorgaben bestünden (Senat, Beschluss vom 09.02.2022 - 12 U 80/21, juris Rn. 8).
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Die Zulassung der Revision ist nicht veranlasst. Vielmehr ist die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen das Lösungsrecht gemäß § 5a Abs. 1 VVG a.F. durch den Grundsatz von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB eingeschränkt bzw. verwirkt sein kann, sowohl im nationalen Recht als auch unter dem Gesichtspunkt des Europäischen Rechts spätestens durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15.02.2023 (IV ZR 353/21 aaO) zweifelsfrei geklärt.
Urteil vom 02.05.2023
In dem Rechtsstreit
- Klägerin und Berufungsklägerin -
Prozessbevollmächtigter:
gegen
Prozessbevollmächtigte:
wegen Rückabwicklung von zwei Rentenversicherungen
hat das Oberlandesgericht Karlsruhe - 12. Zivilsenat - durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. xxx, den Richter am Amtsgericht xxx und die Richterin am Oberlandesgericht Dr. xxx aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 02.05.2023 für Recht erkannt:
Tenor:
- Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 15.07.2022, Az. 21 O 250/21, wird zurückgewiesen.
- Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
- Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Karlsruhe ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
- Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin, eine Société en commandite par actions (RAIF) mit Sitz in Luxemburg und beim Landgericht Karlsruhe als Rechtsdienstleister gemäß § 10 Abs. 1, 3 RDG registriert, erhebt Ansprüche aus der Rückabwicklung zweier Versicherungsverträge aus abgetretenem Recht.
Der Versicherungsnehmer L. schloss mit Antrag vom 29.11.2004 bei der Beklagten im Wege des Policenmodells eine Rentenversicherung unter der Versicherungsscheinnummer ...15 ab. Versicherungsbeginn war der 01.12.2004. Der Ablauf der Beitragszahlung war für den 30.11.2009 und der Beginn der Rentenzahlung war für den 01.12.2016 vorgesehen. Das Policenbegleitschreiben vom 07.12.2004 enthielt auf der zweiten Seite folgende Belehrung:
"Widerspruchsrecht
Wie Ihnen bereits auf Grund unseres Hinweises im Versicherungsantrag bekannt ist, können Sie innerhalb einer bestimmten Frist nach Erhalt des Versicherungsscheins dem Versicherungsvertrag uns gegenüber in Textform widersprechen. Bitte beachten Sie hierzu, dass auf Grund einer Änderung des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) die Widerspruchsfrist ab dem 01.10.2004 von 14 auf 30 Tage verlängert wurde. Diese Regelung gilt selbstverständlich auch für Ihren Vertrag. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerspruchs."
Der Vertrag wurde vollständig durchgeführt; die Rechtsvorgängerin der Beklagten zahlte die mit Schreiben vom 26.11.2016 errechnete Ablaufleistung von 37.133,18 € aus.
Mit Vereinbarung vom 11./13.06.2018 trat der Versicherungsnehmer sämtliche Ansprüche betreffend die Rückabwicklung des Versicherungsvertrags mit sofortiger Wirkung an die Klägerin ab, die die Abtretung annahm.
Der Widerspruch des Versicherungsnehmers datiert vom 18.05.2021. Die klägerseits verlangte bereicherungsrechtliche Rückabwicklung lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 10.06.2021 ab.
Der Versicherungsnehmer R. schloss bei der Beklagten im Wege des Policenmodells eine fondsgebundene Rentenversicherung unter der Versicherungsscheinnummer ...01 ab. Der Versicherungsbeginn war auf den 01.08.2004 datiert. Das Policenbegleitschreiben vom 21.07.2004 enthielt auf der Rückseite folgende Belehrung:
"WIDERSPRUCHSRECHT
Wie Ihnen bereits auf Grund unseres Hinweises im Versicherungsantrag bekannt ist, können Sie innerhalb von 14 Tagen nach Erhalt des Versicherungsscheins dem Versicherungsvertrag uns gegenüber in Textform widersprechen. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerspruchs. Genaue Angaben über Beginn und Ablauf der Frist enthält die Ziffer "Können Sie nach Abschluss des Versicherungsvertrags dem Vertrag noch widersprechen?" in der beigefügten "Verbraucherinformation zu Ihrer Fondsgebundenen Rentenversicherung nach Tarif ... ".
Der Versicherungsnehmer führte zwei weitere Versicherungsverträge bei der Beklagten. Auf seinen Antrag hin wurde dem Versicherungsnehmer im Jahr 2007 ein Policendarlehen gewährt. Mit Schreiben vom 28.01.2009 erklärte der Versicherungsnehmer die Kündigung, die ihm die Beklagte bestätigte. Mit Schreiben vom 02.02.2009 erbat der Versicherungsnehmer die Zurücknahme der Kündigung und beantragte eine sofortige Beitragsbefreiung. Die Beklagte bestätigte mit Schreiben vom 05.02.2009 die Wiederinkraftsetzung der Versicherung und mit weiteren Schreiben die Beitragsfreistellung zum 01.03.2009.
Mit Schreiben vom 22.02.2010 erklärte der Versicherungsnehmer die Kündigung, woraufhin die Beklagte 2.210,56 € an ihn auszahlte.
Mit Vereinbarung vom 24./30.10.2018 trat der Versicherungsnehmer sämtliche Ansprüche betreffend die Rückabwicklung des Versicherungsvertrages mit sofortiger Wirkung an die Klägerin ab, die die Abtretung annahm.
Der Widerspruch des Versicherungsnehmers datiert auf den 24.10.2018. Die klägerseits verlangte bereicherungsrechtliche Rückabwicklung lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 06.06.2019 ab.
Die Klägerin hat vorgetragen:
Die Beklagte habe die Prämien jeweils ohne rechtlichen Grund erlangt. Die Vorlage der Verbraucherinformationen müsse die Beklagte vortragen. Die Widerspruchsbelehrungen seien jeweils fehlerhaft. Daher hätten die Versicherungsnehmer ihre Gestaltungsrechte noch im Jahr 2018 wirksam ausgeübt. Die Aktivlegitimation der Klägerin ergebe sich jeweils aus der Abtretung; der Versicherungsvertrag enthalte kein Abtretungsverbot. Auf Verwirkung könne sich die Beklagte nicht berufen, da sie die Situation mit den fehlerhaften Widerspruchsbelehrungen selbst herbeigeführt habe. Gravierende Umstände im Sinne der Rechtsprechung lägen nicht vor. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs setze ein Rechtsmissbrauch bestimmte subjektive Momente bei den Versicherungsnehmern voraus. Aufgrund des wirksam erklärten Widerspruchs habe die Klägerin jeweils Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der geleisteten Prämien abzüglich des Wertes des genossenen Risikoschutzes sowie auf Herausgabe der seitens der Beklagten gezogenen Nutzungen.
Die Klägerin hat zuletzt beantragt:
1.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen Betrag von 3.367,69 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 13.06.2021 sowie eine Verzugskostenpauschale von 40,- € zu zahlen.
2.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen Betrag von 3.657,80 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 09.06.2019 sowie eine Verzugskostenpauschale von 40,- € zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat vorgetragen:
Die Klägerin sei nicht aktivlegitimiert. Der Forderungskauf verstoße jeweils gegen § 2 RDG und sei deshalb unwirksam. Darüber hinaus sei der Forderungskauf jeweils sittenwidrig und daher nichtig. Die Widerspruchsbelehrungen seien jeweils ordnungsgemäß erfolgt. Sämtliche Versicherungsbedingungen und relevanten Verbraucherinformationen hätten den Versicherungsnehmern bei Vertragsschluss vorgelegen. Unabhängig von der Wirksamkeit des Vertragsschlusses seien die geltend gemachten Ansprüche jedenfalls verwirkt. Das Geschäftsmodell der Klägerin, die Lebensversicherungsverträge gewerblich verwerte, stehe nicht im Einklang mit dem Schutzzweck des Gesetzes. Ferner sei zu berücksichtigen, dass nach Unionsrecht nur die Vertragswahlfreiheit, nicht jedoch das Ziel der bloßen Profitmaximierung schutzwürdig sei. Die Berechnung der Anspruchshöhe durch die Klägerin sei jeweils unschlüssig und beruhe lediglich auf Schätzwerten.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zahlungsansprüche stünden der Klägerin nicht zu. Zwar seien die Widerspruchsbelehrungen fehlerhaft, weil es an dem Hinweis fehle, dass die Widerspruchsfrist erst beginne, wenn dem Versicherungsnehmer neben dem Versicherungsschein auch die Versicherungsbedingungen und die Verbraucherinformationen überlassen worden seien. Durch diesen Belehrungsmangel werde den Versicherungsnehmern aber - unter Berücksichtigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19.12.2019 (C-355/18 u.a.) - nicht die Möglichkeit genommen, ihr Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Die Verbraucherinformationen und Policenbedingungen seien laut den Policenbegleitschreiben an die Versicherungsnehmer jeweils übersandt worden. Die Belehrungen seien auch ausreichend drucktechnisch hervorgehoben. Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer habe erkennen müssen, dass die Widerspruchsfrist mit dem Abschluss des Vertrags beginnt. Zudem stehe der Ausübung der Widerspruchsrechte jedenfalls im Fall R. auch der Einwand der Verwirkung entgegen.
Dagegen richtet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, mit der sie ihre erstinstanzlichen Anträge weiter verfolgt. Zur Begründung trägt sie vor:
Im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sei ein missbräuchliches Verhalten des Versicherungsnehmers nur bei Vorliegen subjektiver Momente, namentlich der Absicht, sich einen unionsrechtlich nicht vorgesehenen Vorteil zu verschaffen, anzunehmen. In der Fallgruppe unzureichender Widerspruchsbelehrungen könne sich die Beklagte im Hinblick auf die Entscheidung des Gerichtshofs vom 09.09.2021 (C-33/20 u.a.) nicht auf Verwirkung berufen. Der Berufung auf Verwirkung oder Rechtsmissbrauch stehe auch entgegen, dass es an einer Nachbelehrung fehle.
Die Beklagte tritt der Berufung entgegen.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird, soweit der Senat keine abweichenden Feststellungen getroffen hat, auf das erstinstanzliche Urteil sowie auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.
II.
Die Berufung ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.
1. Gegen die Aktivlegitimation der Klägerin bestehen, was der Senat bereits wiederholt in vergleichbaren Fällen entschieden hat, keine Bedenken.
a) Die Versicherungsnehmer haben die streitgegenständlichen Forderungen jeweils mit "Forderungskauf- und Abtretungsvertrag mit Erlösbeteiligung" wirksam an die Klägerin abgetreten. Die Klägerin zieht aufgrund dieser Vereinbarungen die Forderungen auf eigene, nicht auf fremde Rechnung ein (Senat, Beschluss vom 05.10.2021 - 12 U 341/20, nicht veröffentlicht).
Im Übrigen wäre die Abtretungsvereinbarung auch im Falle der Qualifizierung als erlaubnispflichtige Inkassodienstleistung nicht wegen Verstoßes gegen § 3 RDG nach § 134 BGB nichtig, da die Klägerin zur Einziehung der Forderung aufgrund ihrer Registrierung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG berechtigt ist. Ihre Zulassung als Inkassodienstleister deckt auch die Vornahme von mit der Inkassotätigkeit notwendig verbundenen rechtlichen Prüfungen (vgl. BGH, Urteil vom 27.11.2019 - VIII ZR 285/18, juris Rn. 111 ff.).
b) Entgegen der Ansicht der Beklagten sind die zwischen der Klägerin und den Zedenten geschlossenen Verträge auch nicht nach § 138 BGB nichtig. Ein auffälliges Missverhältnis der wechselseitigen Leistungen im Sinne von § 138 Abs. 2 BGB ist nicht ersichtlich. Zu Recht weist das Landgericht darauf hin, dass sich die Klägerin nicht nur zur Zahlung eines Kaufpreises in Höhe von 20 % des von der Klägerin prognostizierten Beitreibungserlöses zuzüglich 20 % eines etwaigen Mehrerlöses verpflichtet, sondern darüber hinaus auch das Risiko der Beitreibbarkeit der Forderung und der Aufwendung der damit verbundenen Kosten übernommen hat (Anlagen K 6 und K 7). Daher sind die Vereinbarungen auch nicht als wucherähnliches Rechtsgeschäft zu qualifizieren.
c) Soweit die Beklagte meint, die Abtretung des Widerspruchsrechts an einen Policenaufkäufer laufe dem Normzweck des § 5a VVG a.F. zuwider, ist dies irrelevant, da der Widerspruch hier jeweils von den Versicherungsnehmern erklärt und allein daraus resultierende Ansprüche an die Klägerin abgetreten wurden.
2. Ansprüche auf Rückabwicklung der streitgegenständlichen Verträge bestehen jedoch nicht, da die Versicherungsnehmer im Jahr 2018 bzw. 2021 den Verträgen nicht mehr wirksam nach § 5a VVG a.F. widersprechen konnten.
a) Der Widerspruch des Versicherungsnehmers L. gegen das Zustandekommen des Vertrags Nr. ...15 ist als rechtsmissbräuchlich zu werten (§ 242 BGB).
aa) Allerdings war die Widerspruchsbelehrung, wovon auch das Landgericht zu Recht ausgeht, bei der gebotenen abstrakten Beurteilung nicht ordnungsgemäß, da die fristauslösenden Unterlagen unvollständig benannt sind (vgl. Senat, Urteil vom 30.05.2018 - 12 U 14/18, juris Rn. 22; BGH, Urteil vom 24.08.2015 - IV ZR 175/14, juris Rn. 13; Urteil vom 28.09.2016 - IV ZR 192/14, juris Rn. 13 f.). Der Versicherungsnehmer wurde nicht darüber informiert, dass die Widerspruchsfrist erst zu laufen beginnt, wenn ihm neben dem Versicherungsschein auch die Verbraucherinformationen und die Versicherungsbedingungen übergeben worden sind (§ 5a Abs. 2 Satz 1 VVG a.F.).
Weitere Mängel der Belehrung sind nicht festzustellen. Insbesondere war die Belehrung auf der Rückseite des Policenbegleitschreibens hinreichend drucktechnisch hervorgehoben. Die Widerspruchsbelehrung ist dort unter der Überschrift "Widerspruchsrecht" als einziger Absatz kursiv gedruckt; sowohl durch den Kursivdruck als auch durch die Stellung als zweiter Absatz unter den "Wichtigen Hinweisen" ist gewährleistet, dass die Belehrung auch bei flüchtiger Betrachtung nicht übersehen werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 06.05.2020 - IV ZR 102/19, juris Rn. 14). Auch über die Widerspruchsfrist wurde zutreffend informiert. Diese betrug - der Belehrung entsprechend - 30 Tage. Das Policenbegleitschreiben datiert vom 07.12.2004, so dass davon auszugehen ist, dass der Versicherungsschein und die weiteren erforderlichen Unterlagen dem Versicherungsnehmer frühestens am 08.12.2004 zugegangen waren. Anwendbar war daher § 5a VVG a.F. in der ab dem 08.12.2004 gültigen Fassung (vgl. BGH, Urteil vom 16.12.2015 - IV ZR 71/14, juris Rn. 11).
bb) Aus dem inhaltlichen Fehler der Belehrung ergibt sich kein fortbestehendes Widerspruchsrecht, da ein Bereicherungsanspruch der Klägerin jedenfalls nach § 242 BGB wegen rechtsmissbräuchlicher Ausübung des Widerspruchsrechts ausgeschlossen ist (vgl. BGH, Urteil vom 15.02.2023 - IV ZR 353/21, juris Rn. 13 ff. zur unrichtigen Information über die Form des Widerspruchs).
Wird dem Versicherungsnehmer durch die fehlerhafte Belehrung nicht die Möglichkeit genommen, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, wäre es unverhältnismäßig, es ihm zu ermöglichen, sich von den Verpflichtungen aus einem in gutem Glauben geschlossenen Vertrag zu lösen (EuGH, Urteil vom 19.12.2019, Rust-Hackner u.a., C-355/18 u.a., juris Rn. 81 f.). Unter diesen (engen) Voraussetzungen liegt ein geringfügiger Belehrungsfehler vor, der einer Ausübung des Widerspruchsrechts nach § 242 BGB entgegensteht (BGH aaO Rn. 14 ff.; Urteil vom 15.03.2023 - IV ZR 40/21, juris Rn. 12).
So ist es auch hier. Durch die unvollständige Information über die den Fristbeginn auslösenden Unterlagen wurde dem Versicherungsnehmer nicht die Möglichkeit genommen, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben (so auch OLG Hamm, Beschluss vom 29.10.2020 - I-20 U 142/20, juris Rn. 51 ff.; OLG Nürnberg, Beschluss vom 22.02.2021 - 8 U 3888/20, juris Rn. 22; vgl. auch OLG Stuttgart, Urteil vom 31.03.2022 - 7 U 221/21, juris Rn. 34 ff. zu einer fehlerhaften Belehrung über die Widerspruchsfrist). Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19.12.2019 (aaO) ist bei der Prüfung, ob dem Versicherungsnehmer diese Möglichkeit genommen wird, eine Gesamtwürdigung vorzunehmen, bei der dem nationalen Rechtsrahmen und den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen ist. Bei der Anwendung des aus § 242 BGB hergeleiteten Übermaßverbots ist zu prüfen, ob es sich um eine nur geringfügige, im Ergebnis folgenlose Vertragsverletzung handelt (BGH aaO Rn. 15 f.). Entscheidend ist hier, dass dem Versicherungsnehmer, was auch die Klagepartei selbst vorträgt (Seite 2 der Klageschrift) die Verbraucherinformationen und die Versicherungsbedingungen - der Auflistung der Anlagen im Policenbegleitschreiben entsprechend - mit dem Versicherungsschein übersendet worden sind. Unter diesen Umständen war es ausgeschlossen, dass der Versicherungsnehmer durch die unvollständige Information in der Widerspruchsbelehrung an einem wirksamen, insbesondere fristgerechten Widerspruch gehindert wird. Vielmehr wurde er zutreffend darüber informiert, dass die Frist mit Abschluss des Vertrags beginnt und konnte die Frist aufgrund der Information in der Belehrung zutreffend berechnen. Zudem lagen ihm alle Unterlagen vor, die er für seine Entscheidung, ob er dem Zustandekommen des Vertrags widersprechen will, benötigte. Er konnte daher sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Information über die fristauslösenden Unterlagen ausüben. Es handelt sich um eine geringfügige, im Ergebnis folgenlose Verletzung der Pflicht des Versicherers zur ordnungsgemäßen Belehrung. Nach dem aus § 242 BGB hergeleiteten Übermaßverbot wäre die Einräumung eines Widerspruchsrechts unter diesen Umständen unverhältnismäßig.
Dabei verkennt der Senat nicht, dass der Bundesgerichtshof bislang bei dem hier vorliegenden Belehrungsfehler von einem Widerspruchsrecht auch nach jahrelanger Durchführung des Vertrags ausgegangen ist (Urteil vom 28.09.2016 - IV ZR 192/14, juris Rn. 12 ff.) und den Fehler als nicht nur marginal bewertet hat (aaO Rn. 19). Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19.12.2019 (C-355/18) und der hieran anknüpfenden Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15.02.2023 (IV ZR 353/21) ist diese bisherige Rechtsprechung jedenfalls in den Fällen obsolet, in denen der Belehrungsmangel - wie hier - nicht geeignet war, den Versicherungsnehmer von einem wirksamen Widerspruch abzuhalten, im Ergebnis also folgenlos geblieben ist.
Nichts anderes ergibt sich aus der klägerseits zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15.03.2023 - IV ZR 40/21 (juris). Danach bleibt der Versicherungsnehmer beim Fehlen eines Hinweises auf die erforderliche Textform des Widerspruchs im Unklaren darüber, in welcher Form er die Widerspruchserklärung abzugeben hat, woraus eine nicht unerhebliche Erschwernis der Ausübung des Widerspruchsrechts resultiert (aaO Rn. 14). An einer solchen Erschwernis fehlt es hier aus den dargelegten Gründen.
cc) Die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Ausübung des Widerspruchsrechts in dem Fall, dass dem Versicherungsnehmer durch den Belehrungsfehler nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, steht nach der bereits zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 15.02.2023 - IV ZR 353/21, juris Rn. 23 ff.) in Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass der Gerichtshof mit seiner Entscheidung vom 09.09.2021 (Volkswagen Bank u.a., C-33/20 u.a.), die sich nicht mit der Differenzierung nach der Bedeutung des Belehrungsmangels befasst, von seiner Entscheidung vom 19.12.2019 (Rust-Hackner u.a., C-355/18 u.a.) abweichen wollte (BGH aaO Rn. 25).
dd) Die Frage, ob das Policenmodell mit den Lebensversicherungsrichtlinien der Europäischen Union unvereinbar ist, ist hier nicht entscheidungserheblich. Auch im Falle einer unterstellten Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des Policenmodells ist es dem - im Wesentlichen - ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer, der sich aus den genannten Gründen nicht auf die geringfügige Fehlerhaftigkeit der Belehrung berufen kann, nach Treu und Glauben wegen widersprüchlicher Rechtsausübung verwehrt, sich nach jahrelanger Durchführung des Vertrages auf dessen angebliche Unwirksamkeit zu berufen und daraus Bereicherungsansprüche herzuleiten (BGH aaO Rn. 27 ff.).
b) Auch hinsichtlich des Vertrags des Versicherungsnehmers R. (Nr. ...01) stehen der Klägerin die geltend gemachten Ansprüche nicht zu.
aa) Auch insoweit war die Widerspruchsbelehrung im Policenbegleitschreiben fehlerhaft, da der Fristbeginn allein an den Erhalt des Versicherungsscheins geknüpft wurde. Offen bleiben kann, ob die Belehrung, was die Klagepartei in Abrede stellt und anhand der von der Beklagten vorgelegten Reproduktion nicht erkennbar ist, hinreichend drucktechnisch hervorgehoben war.
bb) Auch dann, wenn der Belehrungsfehler mangels hinreichender drucktechnischer Hervorhebung der Belehrung nicht als geringfügig anzusehen war, ist der Widerspruch im Jahr 2018 als treuwidrig zu werten (§ 242 BGB).
(1) Fehlt es - wie hier - an einer ordnungsgemäßen Widerspruchsbelehrung, kann der Versicherer grundsätzlich kein schutzwürdiges Vertrauen in Anspruch nehmen, weil er die Situation selbst herbeigeführt hat (BGH, Urteil vom 01.06.2016 - IV ZR 343/15, juris Rn. 21; BGH, Urteil vom 07.05.2014 - IV ZR 76/11, juris Rn. 39). Etwas anderes kann sich im Einzelfall ergeben, wenn der Versicherungsnehmer durch sein Verhalten den Eindruck erweckt hat, den Vertrag unbedingt fortsetzen zu wollen, und sein nachträglicher Widerspruch deshalb treuwidrig erscheint. Insoweit reicht die "normale" Vertragsdurchführung - sei es auch über einen langen Zeitraum - nicht aus (Senat, Urteil vom 06.12.2016 - 12 U 137/16, juris Rn. 26; Urteil vom 30.05.2018 - 12 U 14/18, juris Rn. 26), ebenso wenig bloße Vertragsänderungen (BGH, Urteil vom 21.12.2016 - IV ZR 217/15, juris Rn. 14). In Fällen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Widerspruchsbelehrung oder einer fehlenden oder unvollständigen Verbraucherinformation kann die Geltendmachung des Widerspruchsrechts nur ausnahmsweise Treu und Glauben widersprechen und damit unzulässig sein, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen (BGH, Beschluss vom 03.06.2020 - IV ZB 9/19, juris Rn. 14; Beschluss vom 11.11.2015 - IV ZR 117/15, juris Rn. 17; Beschluss vom 27.01.2016 - IV ZR 130/15, juris Rn. 16; Urteil vom 01.06.2016 - IV ZR 482/14, juris Rn. 24; Urteil vom 21.12.2016 - IV ZR 217/15, juris Rn. 14; Urteil vom 26.09.2018 - IV ZR 304/15, juris Rn. 23).
(2) Unter Beachtung dieser hohen Anforderungen ist der Widerspruch hier als treuwidrig anzusehen. Das Zeitmoment ist gegeben, da der Versicherungsnehmer dem Zustandekommen des Vertrags erst 14 Jahre nach Vertragsschluss widersprochen hat. Auch gravierende, das Vertrauen in den Fortbestand begründende Umstände lagen vor.
Entscheidend ist, dass der Versicherungsnehmer den Versicherungsvertrag mit Schreiben vom 28.01.2009 "mit sofortiger Wirkung" gekündigt hat mit anschließender Bestätigung der Kündigung durch die Beklagte; sodann hat der Versicherungsnehmer um Aufhebung der Kündigung gebeten und die Fortführung unter Beitragsbefreiung gewünscht, woraufhin die Beklagte die Aufrechterhaltung des Vertrags mit Schreiben vom 05.02.2009 bestätigt hat. Hierdurch hat der Versicherungsnehmer den Eindruck erweckt, er wolle an dem Vertrag unbedingt festhalten und von einem Lösungsrecht keinen Gebrauch machen. Der Sachverhalt ist vergleichbar mit der Wiederinkraftsetzung eines gekündigten Vertrags auf Betreiben des Versicherungsnehmers, die nach der Rechtsprechung sowohl nach Kündigung durch den Versicherer (BGH, Beschluss vom 11. November 2015 - IV ZR 117/15, juris Rn. 17 f.), als auch nach Kündigung durch den Versicherungsnehmer (OLG Köln, Urteil vom 26. Februar 2016 - I-20 U 178/15, juris Rn. 5) für die Annahme einer Verwirkung ausreicht (vgl. Senat, Beschluss vom 09.07.2019 - 12 U 1/19 n.v.).
Dass die Beklagte keine Nachbelehrungen ausgebracht hat, ändert daran, anders als die Klägerin meint, nichts. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Beklagte mit einer solchen Nachbelehrung von sich aus auf die Beendigung des Schwebezustands hätte hinwirken können (offen gelassen von BGH, Urteil vom 15.03.2023 - IV ZR 40/21, juris Rn. 24), führt das Fehlen einer solchen Nachbelehrung nicht dazu, dass die Beklagte nicht mehr schutzwürdig wäre, wenn der Vertragspartner - wie hier geschehen - durch sein Verhalten gravierende Vertrauenstatbestände setzt.
Die Behauptung der Klägerin, die Beklagte habe im Hinblick auf mögliche Rückabwicklungen von Lebensversicherungsverträgen Rücklagen gebildet, ist unerheblich. Die Beklagte musste seit Bekanntwerden der Rechtsprechung zum "ewigen Widerspruchsrecht" generell mit der Möglichkeit der Rückabwicklung von Verträgen rechnen. Diese generelle Betrachtung lässt aber die Frage unberührt, ob das Widerspruchsrecht bezüglich eines bestimmten Vertrags durch das konkrete Verhalten eines Versicherungsnehmers verwirkt ist.
(3) Soweit die Klägerin der Auffassung ist, eine Verwirkung des Widerspruchsrechts gemäß § 5a Abs. 1 VVG a. F. komme aufgrund der Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs überhaupt nicht oder allenfalls dann in Betracht, wenn zusätzlich eine subjektive Komponente des Verbrauchers vorläge, folgt dem der Senat nicht. Diesbezüglich ist auch keine Vorlage an den Gerichtshof erforderlich.
Ohne Erfolg macht die Klägerin geltend, die Frage des Rechtsmissbrauchs könne im unionsrechtlich geregelten Bereich nicht anhand der Anforderungen des nationalen Rechts, sondern ausschließlich anhand des unionsrechtlichen Verbots des Rechtsmissbrauchs beurteilt werden. Im Bereich der Lebensversicherungsrichtlinien ist ein Rückgriff auf den nationalen Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB zulässig, während es auf den allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts zum Rechtsmissbrauch und dessen Voraussetzungen nicht ankommt, soweit die praktische Wirksamkeit der Richtlinien nicht beeinträchtigt wird (BGH, Urteil vom 15.02.2023 - IV ZR 353/21, juris Rn. 33). Für eine Beeinträchtigung der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts ist hier nichts ersichtlich. Denn der Gesichtspunkt von Treu und Glauben greift nur in Fällen jahrelanger Durchführung des Vertrags und bei besonders gravierenden Umständen des Einzelfalls, wenn - wie hier - der Versicherungsnehmer hinreichend deutlich zum Ausdruck gegeben hat, er wolle an dem Vertrag unbedingt festhalten.
Die Annahme von Rechtsmissbrauch setzt auch keine subjektive Komponente voraus. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 15.02.2023 (IV ZR 353/21, juris Rn. 39 f.) klargestellt, dass die Ausführungen im Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 09.09.2021 (Volkswagen Bank u.a., C-33/20 u.a.) zum subjektiven Element des Rechtsmissbrauchs allein den unionsrechtlichen Grundsatz des Rechtsmissbrauchs betreffen, also Vorgänge, die nur zu dem Zweck stattfinden, missbräuchliche Vorteile aus dem Unionsrecht zu ziehen oder Vorschriften des Unionsrechts zu umgehen. Darum geht es hier nicht. Vielmehr ist das widersprüchliche Verhalten des Versicherungsnehmers entscheidend, das für diesen erkennbar ein schutzwürdiges Vertrauen bei dem Versicherer geweckt hat (aaO Rn. 40). Dass etwas anderes für den nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer gelten soll, ist der Entscheidung des Bundesgerichtshofs nicht zu entnehmen, da hierin nur ergänzend ("im Übrigen ...") darauf verwiesen wird, dass der Fall des nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmers nicht streitgegenständlich ist (aaO Rn. 40). Vielmehr entspricht die Anwendung der nationalen Regeln über den Rechtsmissbrauch im Fall von besonders gravierenden Umständen der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (zuletzt BGH, Beschluss vom 08.09.2021 - IV ZR 133/20, juris Rn. 17), ohne dass insoweit Bedenken wegen des Gebots der praktischen Wirksamkeit der europarechtlichen Vorgaben bestünden (Senat, Beschluss vom 09.02.2022 - 12 U 80/21, juris Rn. 8).
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Die Zulassung der Revision ist nicht veranlasst. Vielmehr ist die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen das Lösungsrecht gemäß § 5a Abs. 1 VVG a.F. durch den Grundsatz von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB eingeschränkt bzw. verwirkt sein kann, sowohl im nationalen Recht als auch unter dem Gesichtspunkt des Europäischen Rechts spätestens durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15.02.2023 (IV ZR 353/21 aaO) zweifelsfrei geklärt.