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  • 04.01.2012 · IWW-Abrufnummer 114142

    Landgericht Dortmund: Urteil vom 27.10.2011 – 2 O 299/10

    Wird gem. 3 7 I (3) AUB 95 wegen einer Vorinvalidität ein Abzug von der Gesamtinvalidität vorgenommen, kommt eine weitere Anspruchskürzung gem. § 8 AUB 95 wegen der die Vorinvalidität begründenden Gesundheitsschädigung nicht in Betracht.


    Landgericht Dortmund

    2 O 299/10

    Tenor:

    Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 12.550,00 € (i. W.: zwölftausendfünfhundertfünfzig Euro) nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 31.07.2010 sowie vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 837,52 € zu zahlen.

    Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

    Von den Kosten des Rechtsstreits tragen 3/5 der Kläger und 2/5 die Beklagte.

    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für den Kläger jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils beizutreibenden Betrages. Der Kläger kann die Vollstreckung durch die Beklagte gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

    T a t b e s t a n d
    Der Kläger unterhielt im Jahre 2009 bei der Beklagten eine Unfallversicherung unter Geltung der AUB 95. Vereinbart war u. a. eine Invaliditätsgrundsumme von 125.000,00 € mit Progressionsstaffel 500 %. Seit seinem 17. Lebensjahr leidet der Kläger an Morbus Bechterew. Diese Erkrankung hat zu einer Versteifung der Bewegungssegmente der Wirbelsäule mit Bewegungseinschränkung der Brustwirbelsäule und der unteren Halswirbelsäule geführt. Am 09.03.2009 erlitt der Kläger einen Rodelunfall, bei dem er sich u. a. eine vollständige discoligamentäre Zerreißung im Segment C 6/7 mit Deckplattenkompressionsfraktur des 7. Halswirbelkörpers sowie Frakturen im Bereich der Gelenkfassetten und des Bogens in diesem Segment zuzog. Die Verletzung wurde zunächst mit einer Halskrause versorgt, bevor wegen der erheblichen Gefahr einer Querschnittslähmung am 13.03.2009 operativ eine ventrale Stabilisierung der Wirbelsäule mit einer Platte sowie die anschließende dorsale Versteifung der Wirbel C 6/7 mittels eines Schraube-Stab-Systems erfolgte. Nach komplikationslosem postoperativen Verlauf wurde der Kläger am 20.03.2009 in weitere ambulante Betreuung entlassen.
    Er beklagt seit dem Unfall dauerhafte starke Schmerzen und Schluckbeschwerden durch die Operation und hat deshalb bei der Beklagten Invaliditätsansprüche geltend gemacht. Nach Einholung eines medizinischen Gutachtens hat die Beklagte eine unfallbedingte Invalidität von 5 % anerkannt und 6.275,00 € an den Kläger gezahlt. Dieser behauptet gestützt auf eine von ihm eingeholte ärztliche Stellungnahme eine unfallbedingte Invalidität von mindestens 30 % und begehrt Zahlung einer daraus berechneten Invaliditätsleistung.
    Der Kläger beantragt,
    die Beklagte zu verurteilen, an ihn 31.375,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 31.07.2010 sowie vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 1.307,81 € zu zahlen.
    Die Beklagte beantragt,
    die Klage abzuweisen.
    Sie hält an ihrer vorgerichtlichen Leistungsentscheidung fest und will neben einer Vorinvalidität auch die Mitwirkung des beim Kläger schon vor dem Unfall bestehenden Morbus Bechterew als Krankheit oder Gebrechen leistungsmindernd berücksichtigt wissen.
    Das Gericht hat zur Höhe der Gesamtinvalidität und der unstreitigen Vorinvalidität aufgrund des Morbus Bechterew sowie der unfallbedingten Invalidität ein Sachverständigengutachten eingeholt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten der Sachverständigen I und Oberarzt S vom 24.01.2011 nebst ergänzender Stellungnahme vom 26.05.2011 sowie die mündliche Erläuterung des Gutachtens durch den Sachverständigen S im Termin vom 15.09.2011, wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien auf den vorgetragenen Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
    E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
    Die Klage ist nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
    Dem Kläger steht aus dem zwischen den Parteien abgeschlossenen Unfallversicherungsvertrag gemäß § 178 Abs. 1 VVG, § 7 I (2) c AUB 95 ein Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung weiterer 12.550,00 € nebst Zinsen sowie gemäß § 280 BGB ein Anspruch auf die nicht anrechenbaren vorgerichtlichen Anwaltskosten zu. Denn beim Kläger ist eine unfallbedingte Invalidität von 15 % verblieben. Daraus errechnet sich, da die vereinbarte progressive Invaliditätsstaffel nicht greift, aus einer vereinbarten Versicherungsgrundsumme von 125.500,00 € eine Invaliditätsleistung von 18.825,00 €, auf die die Beklagte bereits 6.275,00 € gezahlt hat, so dass der Kläger noch Anspruch auf eine weitere Invaliditätsleistung in Höhe von 12.550,00 € hat.
    1. Durch den unstreitig am 09.03.2009 erlittenen Rodelunfall mit Deckplattenkompressionsfraktur des 7. Halswirbelkörpers sowie Frakturen im Bereich der Gelenkfassetten und des Bogens in diesem Segment hat der Kläger nach den Ausführungen der durch das Gericht bestellten Sachverständigen eine unfallbedingte Invalidität von 15 % erlitten. Die insgesamt beim Kläger bestehende Invalidität durch Versteifung der Brust und Halswirbelsäule, verursacht einerseits den seit dem 7. Lebensjahr bestehenden Morbus Bechterew sowie die Unfallverletzungsfolgen andererseits beträgt nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen, denen sich das Gericht anschließt, 35 %. Davon entfallen 20 % auf die durch den Morbus Bechterew und dessen Folgen, die als dauerhafte Gesundheitsbeeinträchtigung und damit als Vorinvalidität gemäß § 7 I (3) AUB 95 von der Gesamtinvalidität in Abzug zu bringen war, da die unfallbedingte Verletzung und die daraus resultierende Funktionsbeeinträchtigung denjenigen Bereich der Wirbelsäule betroffen hat, der bereits durch den Morbus Bechterew beeinträchtigt gewesen ist. Gem. BGH VersR 2011, 202 erfolgt der Abzug von der Invalidität und nicht, wie noch das OLG Brandenburg als Vorinstanz angenommen hatte, von der Leistung, was bei Anwendung der auch zwischen den Parteien vereinbarten Progressionsstaffel zu einer höheren Leistung für den Versicherten geführt hätte.
    Der Sachverständige S hat diese Ergebnisse des schriftlichen Sachverständigengutachtens in der mündlichen Erläuterung des Gutachtens im Termin vom 15.09.2011 gegen die Angriffe der Beklagten verteidigt. Er hat ausgeführt, dass er entgegen der Einschätzung des von der Beklagten eingeschalteten medizinischen Sachverständigen von einer Invalidität von deutlich mehr als 5 % ausgehe. Denn durch den Unfall sei die Beweglichkeit der Halswirbelsäule noch weiter als ohnehin schon bestehend eingeschränkt worden. Es habe keine vollständige Versteifung der Halswirbelsäule vorgelegen, da der Kläger vor dem Unfall mit dem Kopf noch habe nicken und den Kopf habe auch zurücksetzen sowie um ca. 30 Grad habe drehen können. Denn die beiden oberen Segmente der Halswirbelsäule seien noch nicht vollständig versteift gewesen. Der Unfall habe dann dazu geführt, dass der noch bewegliche Teil der Wirbelsäule wenn auch nur um wenige Grade weiter eingeschränkt worden sei. Dies habe dazu geführt, dass der Kläger nunmehr nicht einmal Brustschwimmen könne, da er den Kopf nicht mehr über Wasser halten könne und auch Schwierigkeiten habe, aus einem Glas zu trinken. Ferner müsse berücksichtigt werden, dass das im Körper verbliebene Metallgewebe Einfluss auf die Beweglichkeit des Kopfes und die Oberarmmuskulatur habe und dadurch beim Kläger Schmerzen sowie für Operationen der beim Kläger vorgenommenen Art typische Schluckbeschwerden verursache.
    Nach diesen nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen hat das Gericht keinen Zweifel, dass beim Kläger unter Berücksichtigung von Gesamt- und Vorinvalidität eine 15 %ige unfallbedingte Invalidität verblieben ist, die die Beklagte mit einem Betrag von insgesamt 18.825,00 € bedingungsgemäß zu entschädigen hat.
    2. Die von der Beklagten begehrte weitere Leistungsminderung gemäß § 8 AUB, weil der vorbestehende Morbus Bechterew als Krankheit oder Gebrechen an der unfallbedingten Gesundheitsbeschädigung oder deren Folgen im Ausmaß von mindestens 25 % mitgewirkt hat, ist hingegen nicht vorzunehmen. Anlass für dieses Begehren waren Ausführungen im schriftlichen Sachverständigengutachten, wonach sich die Unfallverletzung aufgrund der Vorinvalidität deutlich gravierender als bei einer nicht vorgeschädigten Wirbelsäule ausgewirkt hat, da durch die in den übrigen Abschnitten versteifte Wirbelsäule eine Kompensationsfähigkeit durch angrenzende Bewegungssegmente nicht mehr gegeben war, sondern im Gegenteil durch die Versteifung eine verstärkte Angulierung mit Vorverlagerung des Kopfes beim Kläger resultiert. Es kann dahinstehen, ob diese Ausführungen des Sachverständigen überhaupt eine Leistungskürzung nach § 8 AUB 95 rechtfertigen können. Jedenfalls scheidet eine Leistungskürzung nach § 8 AUB 95 neben der Berücksichtigung von Vorinvalidität gemäß § 7 I (3) AUB 95 bereits aus Rechtsgründen aus.
    Die AUB 95 geben allerdings keine unmittelbare Auskunft über das Verhältnis der Leistungskürzung wegen Vorinvalidität einerseits und der Leistungskürzung wegen Mitwirkung von Krankheiten oder Gebrechen andererseits. Dem Aufbau der AUB, die zunächst in § 7 des Ausmaß der versicherten Invalidität mit Berücksichtigung der Vorinvalidität regeln und erst im Anschluss hieran den Kürzungstatbestand nach § 8 AUB folgen lassen, lässt sich immerhin entnehmen, dass die Leistungskürzung nach § 7 I (3) AUB Vorrang von der Leistungskürzung nach § 8 AUB hat (vgl. OLG Karlsruhe, r + s 2004, 474). Insoweit besteht in Rechtsprechung und Literatur auch Einigkeit. Umstritten ist indes, ob dieses Vorrangverhältnis dahingehend zu verstehen ist, dass primär die Leistungskürzung nach § 7 I (3) AUB vorzunehmen ist und nachrangig die Leistungskürzung nach § 8 AUB – das umgekehrte Rangverhältnis kann je nach Formulierung der AUB bei Anwendung von Progressionsstaffeln zu höheren Leistungsansprüchen führen (BGH, VersR 200, 444; OLG Saarbrücken, VersR 1998, 836)- oder ob die Anwendung der Leistungskürzung gemäß § 7 I (3) AUB eine weitere Leistungsminderung nach § 8 AUB ausschließt, soweit dieselbe Vorschädigung sowohl als Vorinvalidität als auch als mitwirkende(s) Krankheit oder Gebrechen einzustufen ist. Denn die Vorinvalidität unterscheidet sich von dem Gebrechen bzw. der Krankheit nach § 8 AUB nur dadurch, dass die Vorinvalidität immer eine andauernde Funktionsbeeinträchtigung bedeutet, während die Krankheit oder das Gebrechen nach § 8 AUB dauerhaft sein kann, aber nicht sein muss, so dass beide Kürzungstatbestände theoretisch auf ein und dieselbe Vorschädigung anwendbar sein können.
    Ein Teil von Rechtsprechung und Literatur nimmt an, dass sowohl § 7 I (3) AUB als auch § 8 AUB kumulativ, wenn auch in dem genannten Rangverhältnis Anwendung finden können (OLG Schleswig, OLGR Schleswig 2006, 396; OGH, VersR 2009, 997-bei gleicher Bedingungslage-; Leverenz in Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl., Bd. 9 Ziffer 3 AUB 2008 Rn. 14 und Ziffer 2.1 AUB 2008 Rn. 238; Grimm, Unfallversicherung, 4. Aufl., Ziffer 2 AUB 99 Rn. 40 und Ziffer 3 AUB 99 Rn. 6; Naumann/Brinkmann, Die private Unfallversicherung, § 5 Rn. 55; Kloth, Private Unfallversicherung, Kapitel J VI. Rn. 12). Demgegenüber steht ein anderer Teil von Rechtsprechung und Literatur auf dem Standpunkt, dass Vorinvalidität einerseits und Mitwirkung von Krankheit und Gebrechen andererseits nicht doppelt berücksichtigt werden dürfen (OLG Karlsruhe r + s 2004, 474, 475; Knappmann in Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl., Ziffer 3 AUB 2008 Rn. 3; Rixecker, zfs 2004, 575 in Anm. zu OLG Düsseldorf, zfs 2004, 574; Marlow in Veith/Gräfe, Versicherungsprozess, 2. Aufl., § 8 Rn. 167 durch Bezugnahme auf OLG Karlsruhe a.a.O.; Dörner in Langheid/Wandt, Münchener Kommentar VVG, § 178 Rn. 241).
    Das erkennende Gericht schließt sich der letztgenannten Auffassung an, wonach die Anwendung von § 7 I (3) AUB -Vorinvalidität – die Berücksichtigung von § 8 AUB ausschließt. Dies folgt aus dem Verständnis des durchschnittlichen Versicherungsnehmers von den AUB 95 bei deren aufmerksamer und um Verständnis bemühter Durchsicht (vgl. zur Auslegung von Versicherungsbedingungen BGH VersR 2009, 623; r + s 2008, 25). Der verständige Versicherungsnehmer kann den AUB, die eine entsprechende Regelung gerade nicht treffen, nicht entnehmen, dass dieselbe vorbestehende körperliche Beeinträchtigung doppelt leistungsmindernd berücksichtigt werden soll, einerseits als Vorinvalidität und andererseits als Mitwirkung von Krankheit oder Gebrechen, was insbesondere bei hoher Vorinvalidität und damit entsprechend hoher Leistungskürzung zusätzlich auch bei der Mitwirkung von Krankheit oder Gebrechen zu einer so deutlichen Leistungskürzung führen würde, dass ihm im Verhältnis der vereinbarten Versicherungssumme nur noch geringe Beträge zustehen würden. Zumindest ist für den verständigen Versicherungsnehmer mangels ausdrücklicher Regelung in den AUB unklar, ob beide Kürzungsmöglichkeiten nebeneinander bestehen oder ob die vorrangige Kürzung nach § 7 I (3) AUB 95 die weitere Leistungsminderung nach § 8 AUB 95 verdrängt - wie auch die widerstreitenden Auffassungen in Rechtsprechung und Literatur ausweisen -, so dass nach der Unklarheitenregelung des § 305 c Abs. 2 BGB die für den Versicherungsnehmer günstigere Auslegung Anwendung findet ( BGH VersR 2003, 1163).
    Damit scheidet eine weitere Leistungskürzung nach § 8 AUB 95 aus. Denn die in Betracht kommende Mitwirkung von Krankheit oder Gebrechen beruht auf derselben Ursache, die bereits für den Abzug von Vorinvalidität herangezogen worden ist. Dass die unfallbedingte Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule den Kläger wegen der Vorinvalidität härter trifft, als den gesunden Versicherungsnehmer, weil die schon vorgeschädigte Wirbelsäule die unfallbedingten Schädigungen nicht mehr ausgleichen kann, ist die zwangsläufige und unvermeidliche Folge der Vorinvalidität und stellt keine von der Vorinvalidität losgelöste zusätzliche Ursache dar, die mit der weiteren Leistungskürzung nach § 8 AUB 95 zu berücksichtigen wäre.
    3. Der Zinsanspruch beruht auf § 788 Abs. 1 BGB.
    Die vorgerichtlichen Anwaltskosten kann der Kläger gemäß § 280 BGB wegen unberechtigter Leistungsablehnung ersetzt verlangen, allerdings berechnet nach einem Gegenstandswert in Höhe der austenorierten Summe.
    Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 11, 709 und 711 ZPO.

    RechtsgebietAUB 95Vorschriften § 7 I (3) AUB 95 § 8 AUB 95