· Fachbeitrag · Arbeitszeit
„Reisezeit“ = Arbeitszeit nach dem ArbZG und was gilt bei der Vergütung nach § 611a Abs. 2 BGB?
von RA und VRiLAG a.D. Dr. Lothar Beseler, Meerbusch
| Nach § 2 Abs. 1 S. 1 ArbZG ist „Arbeitszeit im Sinne dieses Gesetzes … die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen“. Zum Begriff „Arbeitszeit“ im Sinne der EU-Richtlinie 93/104 entschied der EuGH, dass die Richtlinie diese als jede Zeitspanne definiert, während derer ein ArbN gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem ArbG zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder seine Aufgaben wahrnimmt. Dieser Begriff ist im Gegensatz zur Ruhezeit zu sehen, da beide einander ausschließen. |
1. Was fällt unter Arbeitszeit?
Erfüllt der ArbN durch die Dienstreise selbst seine Verpflichtungen, zum Beispiel als Taxifahrer, LKW-Fahrer, Reiseleiter oder Außendienstmitarbeiter im selbst gesteuerten PKW, sind Dienstreisezeiten nach der Beanspruchungstheorie arbeitsschutzrechtlich als „Arbeitszeit“ im Sinne des ArbZG zu werten. Dies gilt ohne Rücksicht darauf, ob der ArbN in oder außerhalb der betriebsüblichen Arbeitszeit tätig wird. Gleiches gilt für den Fall, dass der ArbN während der Dienstreise die Hauptleistungspflicht erfüllt, zum Beispiel in Form des Aktenstudiums oder der Konferenz im Bahnabteil.
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Bei der Dienstfahrt mit dem PKW ist für die Einordnung als „Arbeitszeit“ mit den Grenzen des § 3 ArbZG entscheidend, ob der ArbN mit dem eigenen oder dienstlichen Fahrzeug fahren muss oder nicht. Bietet der ArbG dem ArbN an, mit dem Zug zu fahren oder sonstige öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, und entscheidet sich der ArbN dennoch für die PKW-Fahrt, weil er dadurch zeitlich ungebundener ist oder er gern Auto fährt, liegt keine „Arbeitszeit“ im Sinne des ArbZG vor. Die Gründe für die Fahrt liegen in diesem Fall im privaten Bereich. Dies gilt auch, wenn der ArbG dem ArbN die Entscheidung überlässt, ob er mit dem eigenen PKW fahren will oder nicht. Nimmt der ArbN das Auto, wird auch hier nur dann von „Arbeitszeit“ im Sinne des ArbZG gesprochen werden können, wenn er mit öffentlichen Verkehrsmitteln unter zumutbaren Bedingungen den Bestimmungsort nicht erreichen kann, oder er Arbeitsmittel mit dem PKW mangels Alternativen transportieren muss.
Wenn ein ArbN zu einer betrieblichen Schulungsveranstaltung am Sonntag anreist, handelt es sich also nur im Ausnahmefall um „Arbeitszeit“ im genannten Sinn, sodass der ArbG die gesetzlichen Grenzen der Sonntagsarbeit nicht einzuhalten braucht. |
Die Einordnung von Fahrten als Arbeit im Sinne des § 611 BGB und der dafür aufgewendeten Zeit als „Arbeitszeit“ lässt die Frage ihrer Vergütung ungeklärt. Denn das ArbZG regelt nicht die Vergütung für aufgewandte Arbeitszeit. Die Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) findet, mit Ausnahme des in ihrem Art. 7 Abs. 1 geregelten besonderen Falls des bezahlten Jahresurlaubs, keine Anwendung auf die Vergütung der ArbN. Dieser Aspekt liegt nach Art. 153 Abs. 5 AEUV außerhalb der Zuständigkeit der EU.
2. Einordnung als Arbeitszeit und Vergütung der Reisezeit
Es muss zwischen der Frage, ob Reisezeit im Sinne des ArbZG „Arbeitszeit“ ist und der Frage, ob Reisezeit zu vergüten ist, differenziert werden.
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Muss der ArbN während der Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder als Beifahrer keine Arbeitsleistungen, z. B. in Form von Aktenstudium oder Nutzung des Laptops oder bei einer Konferenz im Bahnabteil erfüllen, ist die aufgewandte Zeit zwar keine „Arbeitszeit“ i. S. d. § 2 ArbZG. Der ArbG muss diese Zeit aber bezahlen. Da der ArbN aufgrund des Arbeitsvertrags dem ArbG seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt und dieser ihn während der Arbeitszeit von A nach B entsendet, ist vergütungsrechtlich die aufgewandte Zeit als Arbeitszeit zu bezahlen. |
Die Qualifikation einer bestimmten Zeitspanne als Arbeitszeit im Sinne des ArbZG führt nicht zwingend zu einer Vergütungspflicht, wie umgekehrt die Herausnahme bestimmter Zeiten aus der Arbeitszeit nicht die Vergütungspflicht ausschließen muss. Die gesetzliche Vergütungspflicht des ArbG knüpft nach § 611a Abs. 2 BGB an die Leistung der versprochenen Dienste an. Dazu zählt nicht nur die eigentliche Tätigkeit, sondern jede vom ArbG im Synallagma verlangte sonstige Maßnahme, die mit der Tätigkeit oder der Art und Weise deren Erbringung unmittelbar zusammenhängt.
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Zu den „versprochenen Diensten“ i. S. d. § 611 BGB gehört auch die vom ArbG angeordnete Fahrt vom Betrieb zu einer auswärtigen Arbeitsstelle. Dann ist die Fahrt zur auswärtigen Arbeitsstelle eine vertragliche Hauptleistungspflicht, weil das wirtschaftliche Ziel der Gesamttätigkeit darauf gerichtet ist, verschiedene Kunden aufzusuchen ‒ sei es, um dort Dienstleistungen zu erbringen, sei es, um Geschäfte für den ArbG zu vermitteln oder abzuschließen. Dazu gehört zwingend die jeweilige Anreise. |
Nicht nur die Fahrten zwischen den Kunden, auch die zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zurück bilden mit der übrigen Tätigkeit eine Einheit und sind insgesamt die Dienstleistung im Sinne der §§ 611, 612 BGB. Das ist unabhängig davon, ob Fahrtantritt und -ende vom Betrieb des ArbG oder von der Wohnung des ArbN aus erfolgen. Dies gilt erst recht, wenn der ArbN bei An- und Abreise ein Fahrzeug mit den für die auswärtige Tätigkeit erforderlichen Werkzeugen, Ersatzteilen und Ähnliches führen muss und es sich dann um „Arbeitszeit“ im Sinne des ArbZG handelt. Derartige Fahrten sind eine primär fremdnützige, den betrieblichen Belangen des ArbG dienende Tätigkeit und damit „Arbeit“. Durch das Anordnen der Fahrten macht der ArbG diese zur arbeitsvertraglichen Verpflichtung. Dasselbe gilt für Reisen, die wegen einer vorübergehenden Entsendung zur Arbeit ins Ausland erforderlich sind. Diese sind fremdnützig und damit jedenfalls dann Arbeit im vergütungsrechtlichen Sinn, wenn sie ausschließlich im Interesse des ArbG erfolgen und in untrennbarem Zusammenhang mit der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung stehen.
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In diesem Fall gehören ‒ wie die Fahrt des ArbN zu und von einer (inländischen) auswärtigen Arbeitsstelle ‒ Hin- und Rückreise bei der vorübergehenden Entsendung ins Ausland zu den vertraglichen Hauptleistungspflichten (BAG 17.10.18, 5 AZR 553/17, Abruf-Nr. 204974). Dieses bedeutet, dass der ArbG dem ArbN die Reisezeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln (zum Beispiel Flugzeug) vergüten muss, ohne dabei die Grenzen des ArbZG beachten zu müssen. |
Allerdings kann von der Vergütungspflicht für eine andere als die eigentliche Tätigkeit und damit auch für Reisezeiten durch Arbeits- und Tarifvertrag abgewichen werden (BAG a.a.O.). Es kann deshalb unter Beachtung des § 307 BGB für die Reisezeit ‒ sei es als „Arbeitszeit“ im Sinne des ArbZG oder als „nur“ vergütungsrechtliche Arbeit ‒ eine Pauschale gezahlt werden. So erhalten nach dem BMTV vom 20.6.11 Mitarbeiter für Fahrten zu auswärtigen Montagearbeiten im Nahbereich (sogenannte „Nahmontage“), die mit dem Arbeitstag enden, keine gesonderte Vergütung, sondern einen pauschalen Zuschlag, die „Nahauslösung“. Eine Vergütung für den Zeitaufwand der Hin- und Rückreise schließt der Tarifvertrag ausdrücklich aus. Allerdings muss der ArbG bei dieser Pauschalregelung das Mindestlohngesetz beachten. Der Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn ist erfüllt, wenn die vom ArbG für einen Kalendermonat gezahlte Bruttovergütung den Betrag erreicht, der sich aus der Anzahl der in diesem Monat tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden multipliziert mit dem Bruttomindeststundenlohn ergibt (BAG NZA 18, 1211).
Weiterführende Hinweise
- Computer hochfahren und anmelden = Arbeitszeit: Arbeitsgericht Magdeburg in AA 17, 139
- Zuschläge: „Nachtarbeit“ versus „Schichtarbeit“: LAG München in AA 17, 41