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  • · Fachbeitrag · AGG

    Öffentlicher ArbG muss Ausweichtermin für schwerbehinderte Bewerber anbieten

    von RA Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FOM Hochschule Bremen

    | Eine unmittelbare Benachteiligung gemäß § 3 Abs. 1 AGG wegen einer Schwerbehinderung eines ArbN bei einer Einstellung liegt vor, wenn dieser vorab ausgenommen und vorzeitig aus dem Bewerbungsverfahren ausgeschlossen wird. Bittet der schwerbehinderte Bewerber nach einer Einladung zum Vorstellungstermin um einen Ausweichtermin, so kann der öffentliche ArbG dieser Bitte nicht damit entgegentreten, dass praktische oder organisatorische Gesichtspunkte der Durchführung der Auswahlgespräche auch mit nicht schwerbehinderten Menschen dies verhindern. |

     

    Sachverhalt

    Die schwerbehinderte Klägerin begehrt vom beklagten Landkreis eine Entschädigungszahlung nach dem AGG aufgrund einer Diskriminierung wegen ihrer Behinderung. Die 56-jährige Klägerin ist freiberuflich als Rechtsanwältin und Parlamentsstenografin tätig. Sie hatte sich um die Stelle einer Volljuristin des beklagten Landkreises beworben.

     

    Sie wurde mit zu einem Vorstellungsgespräch unter Ausschluss der Erstattung des Kostenaufwandes eingeladen. In diesem Schreiben formulierte der Beklagte, dass die Klägerin ihn darüber informieren sollte, wenn sie den Termin nicht wahrnehmen könnte. Ein Ausweichtermin könnte jedoch nicht vereinbart werden. Die Klägerin bat dennoch um eine Terminsverlegung, da sie aus beruflichen Gründen und nachsorgebedingt diesen Termin und auch weitere andere Termine nicht wahrnehmen könne. Der Beklagte teilte daraufhin mit, dass er wie angekündigt keine Ausweichtermine mitteilen könne, da dies das Stellenbesetzungsverfahren verzögern würde und der Aufwand für ein erneutes Zusammenkommen des Besetzungsausschusses zu hoch wäre.

     

    Die Klägerin begehrt die Zahlung einer Entschädigung nach dem AGG. Sie vertritt die Ansicht, dass die Einladungsfrist von drei Arbeitstagen sei zu kurz bemessen gewesen. Der Beklagte habe einen Ausweichtermin überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Zudem sei die Schwerbehindertenvertretung (SBV) nicht unmittelbar nach Eingang der Bewerbung unterrichtet worden.

     

    Das Arbeitsgericht Fulda (19.7.19, 1 Ca 38/19) gab der Klage statt. Da die Klägerin das Einladungsschreiben erst drei Arbeitstage (sechs Tage) vor dem Vorstellungstermin erreicht habe, habe der Beklagte seiner Pflicht zur Einladung zum Vorstellungsgespräch nicht genügt.

     

    Entscheidungsgründe

    Das Hessische LAG (12.10.20, 7 Sa 1042/19, Abruf-Nr. 235326) bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung. Der Landkreis habe die Klägerin unmittelbar gem. § 3 Abs. 1 AGG benachteiligt. Sie habe eine Indiztatsache im Sinne des § 22 AGG dargelegt, die der Beklagte nicht widerlegt habe.

     

    Unterlasse es der ArbG, den fachlich nicht offensichtlich ungeeigneten schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen oder die SBV zu beteiligen, werde eine Benachteiligung gesetzlich vermutet. Vorliegend habe der Beklagte die SBV nicht unmittelbar darüber informiert, dass die Klägerin um einen Ausweichtermin gebeten habe, dieser aber seitens des beklagten Landkreises nicht gewährt worden sei. Sinn und Zweck der Informationspflichten gegenüber der SBV sei es, dass der ArbG frühzeitig Transparenz über die eingegangenen Bewerbungen schwerbehinderter Menschen herstelle. Hierbei habe der ArbG so umfassend zu informieren, dass die SBV in die Lage versetzt werde, die Interessen der schwerbehinderten Menschen sachgerecht zu vertreten. Diese gesetzliche Zielsetzung habe der Beklagte vereitelt.

     

    Die Klägerin habe sich auch nicht rechtsmissbräuchlich beworben, indem sie die Stelle gar nicht habe antreten, sondern nur den formellen Status als Bewerberin haben wollte. Die Klägerin habe ein sprachlich einwandfreies Bewerbungsschreiben verfasst, dabei ihre berufliche Tätigkeit beschrieben und auch ihre Interessensgebiete oder Schwerpunkte klar benannt. Sie habe dabei auch die enthaltenen Anforderungen der begehrten Stelle in Bezug genommen. Auch eine Vielzahl von erfolglosen Bewerbungen habe der Beklagte nicht dargelegt. Der weit entfernte Wohnort der Klägerin begründe gleichfalls keinen Rechtsmissbrauchseinwand.

     

    Aufgrund veränderter beruflicher oder persönlicher Situationen könne es dazu kommen, dass Menschen mit einem bestimmten Wohnsitz und einem bestimmten Dienstsitz sich auf eine andere Stelle bewerben. Auch habe die Klägerin sich auch nicht bewusst verspätet beworben, denn die Auswahlentscheidung des Beklagten sei noch nicht getroffen worden. Schließlich sei es auch nicht bedeutsam, wie viele Beschäftigungsjahre die Klägerin noch im öffentlichen Dienst erreichen könne, da dies eine Frage der ganz persönlichen Gestaltung ihrer Altersversorgung sei.

     

    Relevanz für die Praxis

    Zwar wurde die Revision nicht ausdrücklich zugelassen, das Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde wurde indes dem BAG vorgelegt. Der 8. Senat hatte sich nun dieser angenommen und die Sache für Ende Oktober 2022 für die mündliche Verhandlung terminiert (BAG, 8 AZR 258/21). Eine Entscheidung konnte gleichwohl nicht mehr ergehen, da die Parteien sich sodann verglichen haben. Dies ist bedauerlich, da das Hessische LAG eine sehr weite Auslegung sowohl des Einladungserfordernisses für öffentliche ArbG gegenüber schwerbehinderten Bewerbern, als auch darauf fußend des Anhörungsrechts der SBV vorgenommen hat. Diese weite Auslegung ist durch das BAG zuvor noch nicht erfolgt, so dass klarstellende Worte aus Erfurt für die Arbeitsrechtspraxis hilfreich gewesen wären.

     

    Das Hessische LAG ist davon ausgegangen, dass öffentliche ArbG verpflichtet sind, schwerbehinderten Bewerbern einen Ersatztermin für ein Vorstellungsgespräch anzubieten. Aus dem Gesetzeswortlaut des § 165 SGB IX ergibt sich dies indes nicht. Es spricht jedoch gleichwohl einiges dafür, diese weite Auslegung vorzunehmen. Der 8. Senat betonte in der Vergangenheit bereits mehrfach, dass das der Norm zu Grunde liegende gesetzgeberische Ziel der Förderung schwerbehinderter Menschen bei der Auslegung berücksichtigt werden müsse (siehe etwa BAG 29.4.21, 8 AZR 279/20, Abruf-Nr. 225087). Der Gesetzgeber habe den öffentlichen ArbG ganz bewusst eine Vorbildfunktion zukommen lassen. Sie sind verpflichtet, schwerbehinderte Stellenbewerber zum Vorstellungsgespräch einzuladen, soweit diese nicht offensichtlich fachlich ungeeignet sind.

     

    Eine solche Einladung darf daher auch nicht zu einer reinen Formsache werden. Dies stünde aber zu befürchten, wenn eine Teilnahme an einem wenige Tage später stattfindenden Termin verlangt und zugleich jede Ausweichmöglichkeit versagt wird. Der öffentliche ArbG dürfte vor diesem Hintergrund auch nicht darauf zurückziehen können, alle anderen Bewerber genauso zu behandeln, da es sich bei den gesetzlichen Anordnungen des § 165 SGB IX gerade um besondere Förderpflichten gegenüber schwerbehinderten Menschen handele.

     

    Zutreffend dürfte auch die Einschätzung des Hessischen LAG sein, dass eine SBV über den Eingang einer Bewerbung eines schwerbehinderten Bewerbers zu informieren ist. Der Gesetzgeber hat die Position der SBV durch den § 178 Abs. 2 SGB IX bewusst umfassend dahingehend formuliert, dass die SBV in allen Angelegenheiten ihren Aufgabenbereich betreffend unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören ist.

     

    Weiterführende Hinweise

    • Höchstbetrag in Sozialplan steht Ausgleich für Schwerbehinderung nicht entgegen: BAG in AA 23, 64
    • Kündigung ohne Zustimmung des Integrationsamts = Benachteiligung wegen Behinderung? BAG in AA 23, 23
    • Schwerbehinderter Bewerber kann sich auch im Video-Interview vorstellen: LAG Hamm in AA 22, 208
    Quelle: Ausgabe 06 / 2023 | Seite 101 | ID 49475349