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  • · Fachbeitrag · Verhaltensbedingte Kündigung

    Ein LAG, zwei Ansichten: Kündigung wegen einer Impfunfähigkeitsbescheinigung aus dem Netz?

    | Rechtfertigt die Vorlage einer aus dem Internet ausgedruckten ärztlichen „Bescheinigung über die vorläufige Impfunfähigkeit“ durch einen ArbN eine fristlose Kündigung? Das wird von den Arbeitsgerichten in Schleswig-Holstein derzeit unterschiedlich beurteilt. Nachfolgend ein aktueller Stand. |

    1. Wie entschied das Arbeitsgericht Lübeck?

    Das Arbeitsgericht Lübeck (13.4.22, 5 Ca 189/22, Abruf-Nr. 229206) hielt eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist für rechtlich zulässig. Andere Kammern des Arbeitsgerichts Lübeck gaben dagegen in vergleichbaren Konstellationen den Kündigungsschutzklagen in vollem Umfang statt (u. a. 15.6.22, 4 Ca 188/22 und 6.10.22, 3 Ca 187/22). Gegen die letztgenannte Entscheidung ist kein Rechtsmittel eingelegt worden.

    2. Der Sachverhalt

    Die ArbN sind beim ArbG seit 1988 bzw. 2001 als Pflegeassistentin bzw. Krankenschwester beschäftigt und tariflich ordentlich unkündbar. Der ArbG wollte die einrichtungsbezogene Impfpflicht umsetzen und wies seine ArbN an, den Impf- bzw. Genesenenstatus nachzuweisen oder ein ärztliches Impfunfähigkeitszeugnis vorzulegen. Die ArbN haben daraufhin jeweils ein Schriftstück vorgelegt, das eine sechsmonatige vorläufige Impfunfähigkeit bescheinigt und die Unterschrift einer Ärztin ausweist. Die Bescheinigung wurde aus dem Internet ausgedruckt. Eine ‒ sei es digitale ‒ Besprechung mit der Ärztin fand nicht statt. Der ArbG informierte das Gesundheitsamt über die Vorgänge. Zudem kündigte er den ArbN fristlos, hilfsweise ordentlich.

     

    In ihren Kündigungsschutzklagen führten die ArbN u. a. aus, dass die Vorlage einer solchen Bescheinigung nicht zu beanstanden sei. § 20a IfSG schlösse weitere arbeitsrechtliche Maßnahmen des ArbG gegenüber seinen ArbN aus. Allein das Gesundheitsamt könne in dieser Situation handeln und eine ärztliche Untersuchung der betroffenen ArbN veranlassen.

    3. Die beiden Entscheidungen der Kammern am LAG Schleswig-Holstein

    Zwei Kammern des LAG Schleswig-Holstein (7.12.22, 5 Sa 82/22, Abruf-Nr. 234286 und 24.11.22, 4 Sa 139/22, Abruf-Nr. 234287) entschieden über die beiden oben erwähnten Entscheidungen des Arbeitsgerichts Lübeck mit unterschiedlichem Ausgang:

     

    • Die 4. Kammer hält in ihrer Entscheidung vom 24.11.22 die fristlose Kündigung des langjährigen Arbeitsverhältnisses auch nach der Interessenabwägung im Einzelfall für gerechtfertigt.
    • Die 5. Kammer ist dagegen in der Entscheidung vom 7.12.22 der Auffassung, dass die Vorlage der aus dem Internet heruntergeladenen vorläufigen Impfunfähigkeitsbescheinigung schon keinen „an sich“ geeigneten Grund für eine außerordentliche Kündigung darstellt.

     

    Beide Entscheidungen des LAG halten zunächst fest, dass § 20a IfSG in der zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs geltenden Fassung arbeitsrechtliche Maßnahmen im Zusammenhang mit der Vorlage unrichtiger Impfunfähigkeitsbescheinigungen nicht sperrt. § 20a IfSG regelte in Abs. 5 die Handlungsmöglichkeiten des Gesundheitsamts, nicht aber die des ArbG. Nach beiden Entscheidungen verstößt eine im Krankenhaus arbeitende ArbN mit der Vorlage einer aus dem Internet heruntergeladenen Bescheinigung über eine Corona-Impfunverträglichkeit, die weder auf einer ärztlichen Untersuchung noch wenigstens auf einer individuellen ärztlichen Anamnese beruht, gegen eine gesetzlich geregelte Nebenpflicht aus ihrem Arbeitsvertrag. Die Kammern bewerten allerdings die Schwere dieses Pflichtenverstoßes unterschiedlich.

     

    So argumentiert die 4. Kammer

    Die 4. Kammer ist der Ansicht, dass mit der vorgelegten Impfunfähigkeitsbescheinigung bewusst ein falscher Eindruck erweckt werden sollte: Bezogen auf „diesen Patienten“, dessen individuelle Situation aufgrund ärztlicher Einschätzung nach individueller Kontaktierung bewertet worden sei, mit dem Ergebnis einer zeitlich begrenzten Impfunfähigkeit. Der Versuch der ArbN, ihre gesetzliche Nebenpflicht zur Vorlage einer Impfunfähigkeitsbescheinigung zu umgehen, wirke sich besonders belastend auf das Arbeitsverhältnis und gravierend auf das Vertrauensverhältnis aus.

     

    Im Rahmen der Interessenabwägung im Einzelfall sei entscheidend, dass die ArbN ihre individuellen Vorbehalte gegen eine Impfung hätte direkt gegenüber dem ArbG äußern können und müssen. Die Verwendung der aus dem Internet heruntergeladenen Bescheinigung stelle sich als unrechtmäßiges Mittel dar, um sich vorübergehend der Verpflichtung nach § 20a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 IfSG zu entziehen. Diese Vorschrift sichere ein überragendes Gut, die öffentliche Gesundheit. Ein ArbG müsse sich in diesem Zusammenhang nicht auf eine vorherige Abmahnung verweisen lassen. Schließlich würden sich im konkreten Fall auch keine individuellen gesundheitlichen Anhaltspunkte ergeben, aufgrund derer die ArbN ‒ möglicherweise auch durch Erkrankungen in der Vergangenheit begründet ‒ habe befürchten müssen, an Impfnebenfolgen leiden zu müssen.

     

    So argumentiert die 5. Kammer

    Die 5. Kammer des LAG Schleswig-Holstein hält dagegen die Vorlage der „Fake-Impfunfähigkeitsbescheinigung“ für keine schwerwiegende, für eine fristlose Kündigung an sich geeignete Nebenpflichtverletzung. Eine solche ergebe sich auch nicht aus einem zulasten des ArbG begangenen Betrugsversuch. Es fehle an einem Vermögensschaden und im Übrigen am Vorsatz der ArbN, die an ihre Impfunfähigkeit glaubte. Auch die versuchte Täuschung, das vorgelegte Attest sei aufgrund einer ärztlichen Untersuchung erstellt worden, reiche nicht aus. Das vorgelegte Schreiben bescheinige keine diagnostizierte Impfunfähigkeit, sondern enthalte nur die allgemeine Meinungsäußerung einer Ärztin. Es sei als Impfunfähigkeitsbescheinigung offensichtlich untauglich. Im Übrigen hätte es vor Ausspruch einer Kündigung jedenfalls einer Abmahnung bedurft.

    4. Fazit

    Beim BAG sind unter den Aktenzeichen 2 AZR 55/23 (4 Sa 139/22) und 2 AZR 66/23 (5 Sa 82/22) in beiden Fällen Revision eingelegt worden.

     

    PRAXISTIPP | Wenn noch nicht geschehen, sollte der ArbG vorgelegte Bescheinigungen über Impfunfähigkeit u. Ä. genau prüfen. Oft ergeben sich schon aus Inhalt und Erscheinungsbild dieser Bescheinigungen erhebliche Zweifel daran, dass diese das Ergebnis einer ordnungsgemäßen ärztlichen Untersuchung bzw. „Anamnese“ sind. Zumindest ein ernsthaftes Mitarbeitergespräch und eine Abmahnung sind in solchen Fällen wohl auf jeden Fall gerechtfertigt. Ob darüber hinaus die erstmalige Vorlage einer „Fake-Bescheinigung“ ohne vorherige einschlägige Abmahnung bereits den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung rechtfertigt, ist in der Instanzenrechtsprechung noch umstritten. Es bleibt auf Grundlage der eingelegten Revisionen abzuwarten, wie sich das BAG zu dieser Frage positionieren wird.

     

     

     

    Weiterführende Hinweise

    • Diese Konsequenzen drohen, wenn der ArbN eigene Entgeltabrechnungen verfälscht: LAG Hamm in AA 22, 25
    • Täuschung über Arbeitsleistung = sofort raus? LAG Thüringen in AA 22, 168
    • Coronaleugnern kann gekündigt werden: Arbeitsgericht Darmstadt in AA 22, 40
    • Genesenenzertifikat selbst ausgestellt = Kündigung: Arbeitsgericht Dortmund in AA 22, 148
    • Ungeimpfte Pflegekräfte, die arbeiten wollen: Hessisches LAG in AA 22, 167
    Quelle: Ausgabe 04 / 2023 | Seite 61 | ID 49252763