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  • · Nachricht · EU-Umsatzsteuerrecht

    Verbot missbräuchlicher Praktiken im Mehrwertsteuerbereich gilt unmittelbar und EU-weit

    | Der EuGH hat entscheiden, dass das Verbot missbräuchlicher Praktiken im Mehrwertsteuerbereich unabhängig von einer nationalen Maßnahme anwendbar ist. Es handelt sich um einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, der keine nationale Umsetzungsmaßnahme erfordert. |

     

    Sachverhalt

    Herr C., Herr J. und Herr K. waren Miteigentümer eines Grundstücks in Irland. Auf diesem wurden 15 Ferienwohnungen errichtet, die allesamt zum Verkauf bestimmt waren.

     

    Im Verkaufsjahr und zwar vor dem Verkauf tätigten die Herren mehrere Geschäfte mit der ihnen verbundenen Gesellschaft G:

     

    • Im März des Jahres schlossen sie mit G einen ersten Mietvertrag, mit dem sie der G die Immobilien für einen Zeitraum von 20 Jahren und einen Monat ab diesem Zeitpunkt vermieteten („langfristiger Mietvertrag“).
    • Zeitgleich schlossen die Beteiligten einen zweiten Mietvertrag, mit dem die G die Immobilien an die Miteigentümer für zwei Jahre zurückvermietete.
    • Im April wurden die beiden Mietverträge durch gegenseitigen Verzicht der jeweiligen Mieter beendet, sodass die Steuerpflichtigen das volle Eigentum an den Immobilien wiedererlangten.

     

    Im Mai verkauften die Steuerpflichtigen alle Immobilien an Dritte, die daran das volle Eigentum erwarben. Gemäß den irischen Mehrwertsteuervorschriften fiel auf diese Verkäufe keine Mehrwertsteuer an, da die Immobilien zuvor Gegenstand einer der Mehrwertsteuer unterliegenden ersten Lieferung im Rahmen des langfristigen Mietvertrags gewesen waren. Nur dieser unterlag der Mehrwertsteuer.

     

    Die irische Steuerverwaltung verlangte von den Miteigentümern die Zahlung zusätzlicher Mehrwertsteuer auch für die im Mai getätigten Immobilienverkäufe. Die Verwaltung war nämlich der Auffassung, dass die langfristigen Mietverträge eine erste Lieferung darstellten, die künstlich konstruiert worden sei, um die Mehrwertsteuerpflichtigkeit der späteren Verkäufe zu verhindern. Diese Lieferung sei daher für die Berechnung der Mehrwertsteuer nicht zu berücksichtigen.

     

    Die Steuerpflichtigen erhoben gegen diese Entscheidung Klage. Der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) entschied, dass die Mietverträge, da sie keinen wirtschaftlichen Gehalt hätten, eine missbräuchliche Praxis im Sinne der sich aus dem EuGH-Urteil Halifax in der Rechtssache Halifax ergebenden Rechtsprechung darstellten. Der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken, wie er sich aus dieser Rechtsprechung ergebe, verlange, missbräuchliche Maßnahmen entsprechend der Realität umzuqualifizieren, auch wenn es keine nationalen Rechtsvorschriften gebe, die diesen Grundsatz umsetzten.

     

    Der mit einem Rechtsmittel befasste Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) fragt den EuGH,

     

    • ob dieser Grundsatz unabhängig von einer nationalen Maßnahme zu seiner Durchsetzung in der innerstaatlichen Rechtsordnung unmittelbar angewandt werden kann, um Immobilienverkäufen die Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen und

     

    • ob eine solche Anwendung des Grundsatzes mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar ist, da die fraglichen Geschäfte vor dem Erlass des Urteils Halifax getätigt wurden.

     

    Entscheidung

    Der EuGH stellt zunächst fest, dass der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken, wie er im Urteil Halifax auf die Mehrwertsteuerrichtlinie angewandt wurde, keine durch eine Richtlinie aufgestellte Regel darstellt. Vielmehr hat dieser Grundsatz seine Grundlage in einer ständigen Rechtsprechung, wonach zum einen eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist und zum anderen die Anwendung des Unionsrechts nicht so weit gehen kann, dass die missbräuchlichen Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden.

     

    Dann erklärt der EuGH, dass diese Rechtsprechung in verschiedenen Bereichen des Unionsrechts ergangen ist. Zudem erfolgt die Anwendung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken auf die durch das Unionsrecht vorgesehenen Rechte und Vorteile unabhängig von der Frage, ob diese Rechte und Vorteile ihre Grundlage in den Verträgen, in einer Verordnung oder in einer Richtlinie haben. Nach Ansicht des Gerichtshofs weist der fragliche Grundsatz somit den allgemeinen Charakter auf, der den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts naturgemäß innewohnt.

     

    Folglich kann er einem Steuerpflichtigen entgegengehalten werden, um ihm u. a. das Recht auf Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen, auch wenn das nationale Recht keine Bestimmungen enthält, die eine solche Versagung vorsehen.

     

    Schließlich bestätigt der EuGH, dass eine solche Anwendung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar ist, auch wenn diese Anwendung Geschäfte betrifft, die vor dem Erlass des Urteils Halifax getätigt wurden. Der EuGH stellt hierzu fest, dass durch die Auslegung des Unionsrechts, die er vornimmt, erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite dieses Recht seit seinem Inkrafttreten zu verstehen ist oder gewesen wäre.

     

    Daraus folgt, dass ‒ abgesehen von außergewöhnlichen Umständen ‒ der Richter das Unionsrecht in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden muss. Außerdem hat der EuGH im Urteil Halifax die zeitliche Wirkung seiner Auslegung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken im Mehrwertsteuerbereich nicht begrenzt, und eine solche Begrenzung kann nur in dem Urteil selbst erfolgen, mit dem über die erbetene Auslegung entschieden wird.

     

    PRAXISHINWEIS | Damit dürften das Gedankengut des deutschen § 42 AO (Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten) und der Anwendungsregeln dazu (AEAO zu § 42) auf das Umsatzsteuerrecht (... und anderes EU-Recht ...) in ganz Europa Anwendung finden.

     

    Fundstelle

    • EuGH 22.11.17, Rs. C-251/16, Edward Cussens / John Jennings / Vincent Kingston, astw.iww.de, Abruf-Nr. 198670
    Quelle: ID 45076640