· Fachbeitrag · Haftungsrecht
Haftung von Kindern im Straßenverkehr
von RAin Dr. Gudrun Möller, FA Familienrecht, Münster
| Ein achtjähriges Kind, das beim Radfahren längere Zeit nach hinten blickt und dabei eine Fußgängerin anfährt, haftet. Das hat das OLG Celle entschieden. |
Sachverhalt
Während des Urlaubs mit ihren Eltern fuhr ein achtjähriges Kind (K) ‒ das bereits seit seinem fünften Lebensjahr mit dem Fahrrad am Straßenverkehr teilnimmt ‒ auf einer Uferpromenade mit dem Fahrrad. Die Eltern (E) gingen einige Meter zu Fuß dahinter. Während K vorwärts fuhr, sah es über einen längeren Zeitraum nach hinten zu den Eltern und steuerte dabei auf eine Fußgängerin (F) zu. Bei dem Versuch auszuweichen, stürzte und verletzte sich die F. Die E hatten versucht, K ‒ das noch eine Vollbremsung einleitete ‒ zu warnen. Die F nahm K und E vor dem LG erfolglos auf Zahlung von Schadenersatz und Schmerzensgeld in Anspruch. Die Berufung ist teilweise erfolgreich.
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Einem altersgerecht entwickelten achtjährigen Kind, das bereits seit seinem fünften Lebensjahr im Straßenverkehr Fahrrad fährt, muss bewusst sein, dass eine länger andauernde Vorwärtsfahrt mit dem Fahrrad, während der Kopf rückwärtsgewandt und damit das Blickfeld vom Fahrweg abgewandt ist, gefahrenträchtig ist (Abruf-Nr. 214343). |
Entscheidungsgründe
Die F hat einen Anspruch gegen K auf Schadenersatz (§ 249 Abs. 1 i. V. m. § 287 Abs. 1 ZPO) und Schmerzensgeld gem. § 823 Abs. 1, § 828 Abs. 3, § 253 Abs. 2 BGB. K haftet gem. § 823 Abs. 1, § 828 Abs. 3 BGB dem Grund nach für die Schäden der F. Danach sind Minderjährige für die Schäden, die sie einem anderen zufügen, nur nicht verantwortlich, wenn sie bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht haben. Das Kind muss fähig sein zu einem allgemeinen Verständnis des Unrechtsgehalts seines Verhaltens und der Pflicht, dafür einstehen zu müssen. Den konkreten Schaden muss es sich nicht vorstellen können. Vielmehr genügt die Fähigkeit, zu erkennen, dass es in irgendeiner Weise für sein Verhalten zur Verantwortung gezogen werden kann (BGHZ 39, 281, 285).
Nicht zu prüfen ist, ob der Minderjährige fähig war, seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu steuern, wie es für die strafrechtliche Deliktsfähigkeit Jugendlicher erforderlich ist (§ 3 JGG). Ein Minderjähriger, der imstande ist, die Verantwortlichkeit für sein Tun einzusehen, ist ohne Rücksicht auf seine Steuerungsfähigkeit deliktsfähig i. S. v. § 828 Abs. 3 BGB (vgl. nur BGH 10.3.70, VI ZR 182/68 [Ls.]). Gemessen daran hat K den Sturz der F schuldhaft verursacht. K ist auf die F zugefahren und hat erst im letzten Moment eine Vollbremsung eingeleitet. Dieses Fahrverhalten hat zu Ausweichbewegungen der F und zu einem Gleichgewichtsverlust geführt. Folge: F ist gestürzt und hat sich verletzt.
K hatte auch die erforderliche Einsicht. Das allgemeine Verständnis, dass eine längere Rückschau während der Fahrt gefährlich sein kann, liegt vor. Einem altersgerecht entwickelten achtjährigen Kind, das seit seinem fünften Lebensjahr regelmäßig und auch im Straßenverkehr Fahrrad fährt, muss bewusst sein, dass es während der Fahrt nicht über einen längeren Zeitraum nach hinten blicken darf. Es handelte sich auch nicht um ein Augenblicksversagen.
Es hätte dem K oblegen, darzutun und ggf. zu beweisen, dass es nicht die erforderliche Einsicht hatte, um seine Verantwortlichkeit zu erkennen (vgl. BGH 29.4.97, VI ZR 110/96, Rn. 9, juris). K hat nicht vorgetragen, dass es an der notwendigen Einsichtsfähigkeit gefehlt habe.
K hat auch schuldhaft gehandelt, § 276 Abs. 2 BGB. Danach handelt fahrlässig, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.
MERKE | Der Begriff der Fahrlässigkeit ist zivilrechtlich nach objektiven und nicht nach individuellen Merkmalen zu bestimmen. |
Entscheidend ist, ob ein altersgerecht entwickeltes Kind im Alter des K hätte voraussehen können und müssen, dass die Fahrweise Fußgänger verletzen konnte und ob von ihm bei dieser Erkenntnis in der konkreten Situation die Fähigkeit erwartet werden konnte, sich demgemäß zu verhalten, oder ob ein Mangel an Verstandesreife Kinder dieser Altersgruppe an einem solchen Verhalten hindert (BGH 29.4.97, VI ZR 110/96, juris). Hier muss es dem K bewusst sein, dass es gefahrträchtig ist, während der Fahrt nach hinten zu blicken. Es wäre auch möglich und zumutbar gewesen, sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten. Denn es handelte sich um keine plötzlich eingetretene Situation, in der sich K reflexhaft für eine bestimmte Handlung entschieden hat (BGH 27.1.70, VI ZR 157/68, Nachlaufen hinter einem auf die Fahrbahn rollenden Ball ‒ juris).
Ein Mitverschulden der F gem. § 254 Abs. 1 BGB liegt nicht vor. Die F stand zulässigerweise am Rand der Promenade und konnte nicht ausweichen.
Die F hat auch einen Anspruch auf Feststellung gem. § 256 Abs. 1 ZPO, dass K sämtliche künftige Schäden aus dem Vorfall ersetzen muss, weil aufgrund der Verletzung Spätschäden möglich sind.
Die F hat aber keinen Anspruch gegen die E gem. § 832 BGB. Wer u. a. kraft Gesetzes verpflichtet ist, eine Person wegen Minderjährigkeit zu beaufsichtigen, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Ausnahme: Er genügt seiner Aufsichtspflicht oder der Schaden wäre auch bei gehöriger Aufsicht entstanden. Diese Voraussetzung liegt vor. Die E haben ihre Aufsichtspflicht gegenüber K nicht verletzt. Das Maß der gebotenen Aufsicht richtet sich nach Alter, Eigenart und Charakter der Minderjährigen, wobei sich die Grenze der erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen danach bestimmt, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen tun müssen, um Schädigungen Dritter durch ihr Kind zu verhindern. Es kommt zudem auf die Gefährlichkeit des jeweiligen Verhaltens und die Schadensgeneigtheit des jeweiligen Umfeldes an, also auf das Ausmaß der vorhersehbaren Gefahren, die von der konkreten Situation für Dritte ausgehen.
Kinder müssen über die Gefahren des Straßenverkehrs frühzeitig belehrt werden. Sie müssen als Radfahrer behutsam in den Straßenverkehr eingeführt werden. Eltern müssen ihre Kinder langsam daran gewöhnen, sich auf die vielfältigen Gefahren einzustellen und ihr Verhalten danach zu steuern. Das betrifft sowohl die Verkehrsregeln als auch die Fahrtechnik. Beides muss eingeübt werden. Die sinnvolle Hinführung des Kindes zu einem selbstständigen, verantwortungsbewussten und umsichtigen Verhalten im Verkehr ist aber nur möglich, wenn ein Kind auch altersgerecht angepasste Gelegenheiten bekommt, sich ohne ständige Beobachtung, Kontrolle und Anleitung selbst im Verkehr zu bewähren (BGH 7.7.87, VI ZR 176/86, juris). Die Erziehung der Kinder zu verantwortungsbewussten Verkehrsteilnehmern liegt auch im Gemeinschaftsinteresse. Sie unterliegt insoweit nicht der Alleinverantwortung der Eltern, dass diese stets „für ihre Kinder“ haften müssen (OLG Koblenz 21.1.09, 12 U 1299/08, juris).
Nach diesen Maßstäben ist es aus Sicht des Senats nicht zu beanstanden, dass die E das Kind K in der Situation vor dem Unfall auf der Hafenpromenade mit dem Fahrrad fahren ließen, während sie selbst ‒ ihre Fahrräder schiebend ‒ in einigem Abstand folgten. Ein altersgerecht entwickeltes Kind braucht gewisse Freiräume pädagogisch vertretbarer Maßnahmen, die sich aus den Erziehungszielen der §§ 1631 Abs. 1 und 1626 Abs. 2 BGB ergeben (vgl. OLG Hamm 16.9.99, 6 U 92/99, juris).
Relevanz für die Praxis
Die Entscheidung ist überzeugend. Bezüglich der Haftung Minderjähriger gilt nach § 828 BGB Folgendes:
- Minderjährige unter 7 Jahren sind für anderen zugefügte Schäden nicht verantwortlich.
- Solange sie keine 10 Jahre alt sind, haften Kinder auch nicht für Schäden durch einen Unfall mit einem Kraftfahrzeug oder im Schienenverkehr.
- Von 7 bis 17 Jahren haften Minderjährige aber für solche Schäden, die sie einem anderen zufügen, wenn sie bei der Begehung der schädigenden Handlung die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht besitzen. Dazu genügt die Fähigkeit des Kindes zu erkennen, dass es in irgendeiner Weise für sein Verhalten zur Verantwortung gezogen werden kann.
Es ist sinnvoll, auch für Kinder eine Haftpflichtversicherung abzuschließen.
Der Unfall erfolgte vorliegend in Italien. Es ist aber deutsches Recht anwendbar. Grundsätzlich ist bei Verkehrsunfällen das anzuwendende Recht nach der VO (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom-II-VO) zu bestimmen. Zwar ist danach gem. Art. 4 Abs. 1 Rom-II-VO das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Schaden eintritt (sog. Tatortprinzip bzw. Deliktstatut). Das wäre hier italienisches Recht. Ausnahme: Gem. Art. 4 Abs. 2 Rom-II-VO ist aber das Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts von Schädiger und Geschädigtem anwendbar, wenn beide aus demselben Staat kommen. Dies ist der Fall. Die F, K und E stammen aus Deutschland.