· Fachbeitrag · Wächteramt des Staates
Trennung des Kindes von seinen Eltern ‒ Anforderungen an ein gerichtliches Verfahren
von RAin Dr. Gudrun Möller, FAin Familienrecht, BGM Anwaltssozietät, Münster
| Das BVerfG stellt klar: Will ein Gericht in Ausübung des staatlichen Wächteramtes ein Kind von seinen Eltern trennen bzw. eine Trennung aufrechterhalten, muss das Gerichtsverfahren hohen Anforderungen genügen. |
Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin ist Verfahrensbeiständin (VBin) eines im April 19 geborenen Kindes K. Dessen Eltern sind nicht miteinander verheiratet, haben aber eine gemeinsame Sorgeerklärung für K abgegeben. Beide waren drogenabhängig. Nach der Geburt von K kam es zu mit Gewalt ausgetragenen Konflikten zwischen den Eltern. Die M brach eine stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Fachklinik ab. Es wurde u. a. eine drogeninduzierte Psychose festgestellt. Der V war zu der Zeit arbeits- und wohnungslos. K wurde in Obhut genommen. Im Sorgerechtsverfahren bewertete die Sachverständige einen Wechsel des K in den Haushalt der Eltern als kindeswohlgefährdend. Mit Beschluss entzog das Familiengericht den Eltern gem. § 1666 BGB das Recht zur Aufenthaltsbestimmung, zur Regelung der ärztlichen Versorgung und der schulischen Angelegenheiten bzw. des Kindergartens und bestellte das Jugendamt (JA) als Ergänzungspfleger. Dagegen legten die Eltern Beschwerde ein. Mit angegriffenem Beschluss änderte das OLG die Entscheidung ab und übertrug das alleinige Recht zur Aufenthaltsbestimmung und zur Regelung der ärztlichen Versorgung sowie der schulischen Angelegenheiten bzw. des Kindergartens auf den V. Es ordnete zudem u. a. einen befristeten Verbleib des K im Haushalt der Pflegeeltern an.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die VBin erfolgreich die Verletzung der Grundrechte des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 i. V. m. Art. 6 Abs. 2 S. 2 sowie i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG (BVerfG 5.9.22, 1 BvR 65/22, Abruf-Nr. 231958).
Entscheidungsgründe
Der Beschluss des OLG verletzt K in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG. Danach haben Kinder einen Anspruch auf den Schutz des Staates, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) nicht gerecht werden oder wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe nicht bieten können. Nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sind Pflege und Erziehung die zuvörderst den Eltern obliegende Pflicht. Werden Eltern dieser Verantwortung nicht gerecht, greift das „Wächteramt des Staates“, Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG. Ist das Kindeswohl gefährdet, muss der Staat die Pflege und Erziehung des Kindes sicherstellen (BVerfGE 24, 119, 144). Die Schutzpflicht gebietet dem Staat im äußersten Fall, das Kind von seinen Eltern zu trennen oder eine Trennung aufrechtzuerhalten. Der Staat darf und muss aber zunächst versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Her- oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen.
Eine Trennung kommt in Betracht, wenn das Kind bei einem Verbleib in der Familie oder bei einer Rückkehr dorthin in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist (BVerfGE 60, 79, 91), also bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich ziemlich sicher voraussehen lässt (BVerfG 19.11.14, 1 BvR 1178/14 Rn. 23). Das gerichtliche Verfahren muss geeignet und angemessen sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine diesbezügliche Prognose zu erlangen. Das Gericht muss begründen, warum keine Gefahr für das Wohl des Kindes vorliegt. Es muss eine anderweitige verlässliche Grundlage für eine am Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung haben und diese offenlegen und begründen (BVerfG 12.2.21, 1 BvR 1780/20 Rn. 29).
MERKE | Da die Entscheidung über eine Trennung für alle Beteiligten existenziell bedeutsam sein kann, ist über den grundsätzlichen Prüfungsumfang hinauszugehen (BVerfGE 60, 79, 90 f.). Dies gilt auch, wenn das BVerfG prüfen muss, ob die Pflicht des Staates, das Kind zu schützen, damit vereinbar ist, eine solche Trennung abzulehnen. Neben der Frage, ob die angefochtene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen, dürfen auch einzelne Auslegungsfehler nicht außer Betracht bleiben (BVerfGE 79, 5, 63). Die verfassungsgerichtliche Kontrolle erstreckt sich ausnahmsweise auch auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts (BVerfGE 136, 382, 391). |
Das OLG hat seine Entscheidung über die Rückführung abweichend von den Empfehlungen der beteiligten Fachkräfte getroffen, ohne seine Sachkunde oder abweichende Erkenntnisgrundlagen hinreichend darzulegen. Soweit es meint, eine perspektivische Kindeswohlgefährdung aufgrund eines Bindungstraumas genüge nicht, um dauerhafte die Trennung des K von seiner Herkunftsfamilie zu rechtfertigen, ändert dies nichts daran, dass es dafür einer zuverlässigen tatsächlichen Grundlage bedurfte. Das OLG hat auch nicht in den Blick genommen, dass die Rückführung des K in den Haushalt des V zugleich auch die Rückführung zur M bedeutete. Die M kann wegen ihrer psychischen Erkrankung dauerhaft keine stabile Bezugsperson für K sein und stellt eine Kindeswohlgefahr dar. In die Gefahrprognose ist auch nicht eingeflossen, dass der dauerhafte Paarkonflikt zwischen den Eltern K belastet hat. Den Gründen der angegriffenen Entscheidung lässt sich nicht entnehmen, dass die psychischen Erkrankungen der M überwunden sind. Das OLG hat nicht ausreichend begründet, warum mildere Mittel in Gestalt von ambulanten Maßnahmen nach einer Rückführung des K zu den Eltern ausreichen sollen, um einer Kindeswohlgefahr dort dauerhaft entgegenzuwirken.
Relevanz für die Praxis
Die Entscheidung ist bedeutsam, weil das BVerfG die Grundrechte des Kindes betont. Sonst wird häufig auf die Elternrechte i. V. m. Art. 6 GG abgestellt. Das BVerfG hat aber klargestellt, dass der Schutzauftrag des Staates einer Rückführung eines Kindes entgegenstehen kann. Bei einer Abwägung von Elternrecht und Kindeswohl nach § 1632 Abs. 4 BGB ist die Risikogrenze hinsichtlich einer möglichen Beeinträchtigung des Kindes weiter zu ziehen, wenn die leiblichen Eltern oder ein Elternteil wieder selbst das Kind pflegen wollen (BVerfGE 75, 201, 220).