Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww
  • · Herabsetzung des notwendigen Selbstbehalts

    BGH: So wirkt sich eine Wohngemeinschaft auf den notwendigen Selbstbehalt aus

    Bild: © InsideCreativeHouse - stock.adobe.com

    von RiOLG Dr. Andreas Möller, Hamm

    | Der BGH hat in einer aktuellen Entscheidung die Frage geklärt, ob es bei einem Zusammenleben des Unterhaltspflichtigen mit einem Dritten gerechtfertigt ist, den notwendigen Selbstbehalt herabzusetzen. Zudem hat er seine Rechtsprechung zur Zurechnungsmöglichkeit von fiktiven Einkünften aus einer Nebentätigkeit betätigt. |

     

    Sachverhalt

    Die beiden minderjährigen Antragsteller (ASt) machen gegen die Antragsgegnerin, ihre Mutter (M), Kindesunterhalt ab Juni 2022 geltend. Die Ehe der Eltern ist rechtskräftig geschieden. Die ASt leben bei ihrem Vater (V), der sie im vorliegenden Verfahren vertritt. Die M stammt aus der Ukraine. Das dort abgeschlossene Studium der Ökonomie wird in Deutschland nicht anerkannt. Die M schloss im Juni 2022 eine Ausbildung zur Steuerfachgehilfin ab. Seitdem arbeitete sie in diesem Beruf. Im März 2022 nahm sie ihre wegen des Krieges in der Ukraine nach Deutschland geflüchtete Mutter in die von ihr gemietete Wohnung auf. Das OLG hat die familiengerichtliche Entscheidung abgeändert und die M nur verpflichtet, nur eingeschränkt Unterhalt zu zahlen. Die zugelassenen Rechtsbeschwerden der ASt sind erfolglos (BGH 20.11.24, XII ZB 78/24 Abruf-Nr. 246055).

     

    Entscheidungsgründe

    M kann den Mindestbedarf der ASt gem. § 1612a Abs. 1 BGB nicht vollständig decken.

     

    Das OLG hat der M ohne Rechtsfehler kein fiktives Einkommen aus einer Nebentätigkeit zugerechnet. Zwar kann die gesteigerte Unterhaltspflicht grundsätzlich auch eine Obliegenheit des Unterhaltspflichtigen begründen, über eine vollschichtige Arbeitstätigkeit hinaus auch eine Nebentätigkeit auszuüben. Die Grenzen der vom Unterhaltspflichtigen zu verlangenden Tätigkeiten ergeben sich aus den Vorschriften des Arbeitsschutzes. Die Anforderungen dürfen unter den Umständen des Einzelfalls insbesondere nicht dazu führen, dass eine Tätigkeit trotz der Funktion des Mindestunterhalts, das Existenzminimum des Kindes zu sichern, unzumutbar erscheint (vgl. BGH FamRZ 14, 1992).

     

    M benötigt nach dem im Arbeitsvertrag getroffenen Regelungen für eine Nebentätigkeit eine Nebentätigkeitserlaubnis, die der Arbeitgeber nicht erteilt hat. Dass das OLG anders als das AG in den Schreiben des Arbeitgebers mangels entsprechender tatsächlicher Anhaltspunkte keine bloßen Gefälligkeitsbescheinigungen gesehen hat, bewegt sich innerhalb zulässiger tatrichterlicher Beurteilung und ist nicht zu beanstanden. Diese Beurteilung beruht nicht auf Verfahrensfehlern des OLG oder einem Verstoß gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze.

     

    Nach den Umständen des Falls hat das OLG es rechtsfehlerfrei für unzumutbar gehalten, dass die M gegen ihren Arbeitgeber gerichtlich vorgeht oder nach einem anderen Arbeitgeber sucht, der eine Nebentätigkeit möglicherweise erlaubt. Dagegen spricht hier, dass M Berufsanfängerin ist und noch Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hat. Unter diesen Umständen genügt die M mit der Vollzeitstelle jedenfalls bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der letzten Tatsacheninstanz auch den Anforderungen der gesteigerten Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB.

     

    Der notwendige Selbstbehalt ist auch nicht deswegen zu reduzieren, weil M mit ihrer Mutter zusammen in einer Wohnung lebt und die Mutter sich an den Mietkosten beteiligt. Soweit z. T. befürwortet wird, die für das Zusammenleben mit einem (leistungsfähigen) Partner allgemein angenommene Reduzierung des Selbstbehalts auch auf eine Wohngemeinschaft anzuwenden (OLG Hamm NJW 11, 3310 bei gemeinsamem Wirtschaften; MüKo/Maurer, BGB, 9. Aufl., § 1578 Rn. 407; jurisPK-BGB/Viefhues [Stand: 18. Oktober 2024] § 1603 Rn. 227), ist dies nicht zutreffend.

     

    Dem Unterhaltspflichtigen ist gegenüber seinen minderjährigen Kindern der notwendige Selbstbehalt auch zu belassen, wenn die Wohnkosten den insoweit im Selbstbehalt berücksichtigten Betrag unterschreiten. Denn es unterliegt grundsätzlich dessen freier Disposition, wie er die ihm zu belassenden, ohnehin knappen Mittel nutzt. Ihm ist es deswegen nicht verwehrt, seine Bedürfnisse, anders als in den Unterhaltstabellen vorgesehen, zu gewichten und sich z. B. mit einer preiswerteren Wohnung zu begnügen, um zusätzliche Mittel für andere Zwecke einsetzen zu können. Diese Lebensgestaltungsautonomie kann dem Unterhaltsschuldner auch gegenüber Unterhaltsansprüchen für ein minderjähriges Kind nicht verwehrt werden (vgl. BGH FamRZ 09, 314 Rn. 34 m. w. N.)

     

    MERKE | Dagegen kommt es in Betracht, den notwendigen Selbstbehalt bis auf den notwendigen Lebensbedarf nach sozialhilferechtlichen Grundsätzen herabzusetzen, wenn der Unterhaltspflichtige in einer neuen Lebensgemeinschaft wohnt, dadurch Kosten für die Wohnung oder die allgemeine Lebensführung erspart und sich deswegen auch sozialrechtlich auf einen ‒ im Rahmen seiner Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs. 3 Nr. 3, Abs. 3a SGB II, vgl. auch § 20 SGB XII) geringeren Bedarf verweisen lassen muss.

     

    Einer Berücksichtigung der Kostenersparnis in einer neuen Lebensgemeinschaft steht nicht entgegen, dass der Unterhaltsschuldner im Ausgangspunkt die freie Disposition hat, wie er einen ihm zu belassenden Selbstbehalt im Einzelfall verwendet. Denn bei der Herabsetzung des Selbstbehalts wegen Aufnahme einer neuen Lebensgemeinschaft geht es nicht um die Frage, ob dem Unterhaltsschuldner ein nur geringerer Selbstbehalt belassen werden darf, weil er sich in seinen Bedürfnissen teilweise (z. B. beim Wohnbedarf) beschränkt und dagegen auf andere Bedürfnisse mehr Wert legt. Entscheidend ist vielmehr, ob der Unterhaltsschuldner wegen des Synergieeffekts ohne Einbußen günstiger lebt und seinen Lebensstandard mit geringeren Mitteln aufrechterhalten kann als ein allein lebender Unterhaltsschuldner (vgl. BGH FamRZ 08, 594).

     

    Eine Wohngemeinschaft führt nicht zu diesen Synergieeffekten. Zwar führt es i. d. R. zu Ersparnissen bei den Wohnkosten, wenn eine Wohngemeinschaft begründet wird. Dies wird auch im Sozialrecht dadurch berücksichtigt, dass die konkreten Wohnkosten auf die Mitglieder aufgeteilt werden (vgl. § 42a Abs. 4 SGB XII, BSG 25.4.18, B 14 AS 14/17 R juris zu § 22 SGB II). Diese Ersparnisse sind aber anders als im Fall der ehelichen oder nicht ehelichen Lebensgemeinschaft regelmäßig mit Einbußen hinsichtlich der vom Unterhaltspflichtigen nutzbaren Wohnfläche wie auch des Wohnkomforts verbunden. Der Unterhaltspflichtige erkauft sich durch diese Nachteile die Kostenersparnis. Die den Grundsatz der freien Disposition über den notwendigen Selbstbehalt tragenden Erwägungen treffen in vollem Umfang zu. Auch im Sozialrecht löst eine bloße Wohngemeinschaft keine Zusammenfassung der Mitglieder zu einer Bedarfsgemeinschaft aus. Soweit der Unterhaltspflichtige mit einer weiteren Person über die Wohngemeinschaft hinaus auch eine Haushaltsgemeinschaft bildet, gelten die gleichen Erwägungen auch für Ersparnisse beim Regelbedarf (ohne Wohnkosten). Denn diese sind ebenfalls mit Einschränkungen des Unterhaltspflichtigen in seiner Lebensgestaltungsautonomie verbunden, sodass es auch insoweit nicht gerechtfertigt ist, den Selbstbehalt zu kürzen.

     

    Deswegen scheidet auch die Zurechnung weiteren Einkommens der M wegen eines von ihrer Mutter getragenen Anteils an den Mietkosten aus. Es geht hier allenfalls um eine teilweise Erstattung von Mietkosten der M. In der Sache gelten die gleichen Erwägungen wie für die ‒ abzulehnende ‒ Herabsetzung des notwendigen Selbstbehalts.

     

    Der im Juli 2022 gezahlte Kinderbonus ist hälftig anzurechnen. Dies ergibt sich aus § 1612b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB und der gesetzlichen Einordnung des Kinderbonus als Kindergeld nach § 66 Abs. 1 S. 2 EStG in der vom 28.5.22 bis 31.12.22 geltenden Fassung bzw. § 6 Abs. 3 S. 1 BKGG.

     

    Relevanz für die Praxis

    Mit dieser Entscheidung hat der BGH die rechtliche Streitfrage geklärt, ob eine schlichte Wohngemeinschaft dazu führt, den Selbstbehalt zu kürzen, vgl. die Leitlinien der OLGs unter Nr. 21.5 oder 21.4 zur Kürzung des Selbstbehalts. Tatsächlich wird deswegen in Zukunft häufig streitig sein, ob (nur) eine Wohngemeinschaft oder (schon) eine Partnerschaft vorliegt.

     

    • Im ersten Fall ‒ nur Wohngemeinschaft ‒ wird der Selbstbehalt auch bei Leistungsfähigkeit des WG-Mitbewohners nicht gekürzt.

     

    • Im zweiten Fall ‒ Partnerschaft ‒ wird bei Leistungsfähigkeit des Partners der Selbstbehalt gekürzt.

     

    Im Hinblick auf die Nebentätigkeit kommt es immer auf die Umstände des Einzelfalls an, ob eine solche zumutbar ist und ob der Unterhaltsverpflichtete gegen seinen Arbeiter die Genehmigung ggf. vor dem Arbeitsgericht erstreiten muss (vgl. OLG Koblenz FamRZ 21, 1034, 1036; OLG Brandenburg FamRZ 23, 1709, die es in dem jeweiligen Einzelfall jeweils für zumutbar gehalten haben, eine Nebentätigkeitsgenehmigung zu erstreiten). Ob arbeitsrechtlich ein Anspruch auf eine Nebentätigkeitsgenehmigung besteht, ist Frage des Einzelfalls (vgl. etwa BAG, NZA 16, 116).

    Quelle: Ausgabe 05 / 2025 | Seite 78 | ID 50351486