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  • · Fachbeitrag · Kindesunterhalt

    Beschäftigungschance eines ausländischen Elternteils ohne Berufsausbildung

    von VRiOLG Dr. Jürgen Soyka, Düsseldorf

    • a) Für die Feststellung, dass für einen Unterhaltsschuldner keine reale Beschäftigungschance bestehe, sind - insbesondere im Bereich der gesteigerten Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB - strenge Maßstäbe anzulegen.
    • b) Dass der Unterhaltspflichtige aus dem Ausland stammt und über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt, rechtfertigt allein noch nicht die Schlussfolgerung, dass für ihn keine reale Beschäftigungschance im Hinblick auf eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitstelle bestehe.
    • c) Durch die sozialrechtliche Berücksichtigung titulierter Unterhaltspflichten bei einem Antrag des Unterhaltspflichtigen auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende erhöht sich dessen unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit nicht.

    (BGH 22.1.14, XII ZB, 185/12, FamRZ 14, 637, Abruf-Nr. 140693)

     

    Sachverhalt

    Der 2004 geborene Sohn (Antragsteller) macht gegen den Antragsgegner, seinen Vater, Mindestbedarf geltend. Der Vater ist türkischer Staatsangehöriger. Er ist im Jahr 01 nach Deutschland gekommen. Er verfügt über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Er arbeitete mit geringfügiger Beschäftigung als Aushilfe in einer Bäckerei und als Verkaufs- und Küchenhilfe, nach einer Fortbildung auch als Aushilfe im Kaffee- und im Kebab-Haus und strebte eine Umschulung an. Er hat ein weiteres Kind, das 2008 geboren wurde und bei der Mutter lebt. Er zahlt keinen Kindesunterhalt. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Vater sich ausreichend um eine Erwerbstätigkeit bemüht hat und ob er bei Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende sein anrechnungsfreies Einkommen für den Kindesunterhalt einsetzen muss. Das AG hat ihn zur Zahlung des Mindestunterhalts verpflichtet. Das OLG hat den Antrag abgewiesen. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung und Zurückverweisung.

    Entscheidungsgründe

    Eltern müssen alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig verwenden. Es kommt nicht nur auf die tatsächliche Leistungsfähigkeit an. Maßgebend ist vielmehr, ob der Unterhaltspflichtige eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt, obwohl er diese bei gutem Willen ausüben könnte. In diesem Fall sind ihm fiktive Einkünfte zuzurechnen. Dazu gehören auch Nebenverdienste, sobald eine Beschäftigungschance gegeben ist. Dem Unterhaltspflichtigen darf aber nur ein solches Einkommen zugerechnet werden, das er realistischer Weise erzielen kann.

     

    Unterhaltspflichtiger trägt Beweislast für mangelnde Leistungsfähigkeit

    Das OLG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Vater gegenwärtig keine Ganztagsstelle mit einem Stundenlohn von über 7,30 EUR erlangen kann und er keine reale Beschäftigungschance für eine entsprechende Vollzeittätigkeit hat. Die Darlegungs- und Beweislast für die mangelnde Leistungsfähigkeit liegt bei ihm. Das gilt auch für das Fehlen einer realen Beschäftigungschance. Daher bedarf es tragfähiger Gründe, um die Beschäftigungschance abzulehnen. Insoweit sind bei der gesteigerten Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB strenge Maßstäbe anzulegen. Für gesunde Arbeitnehmer im mittleren Erwerbsalter wird auch in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit regelmäßig kein Erfahrungssatz dahin zu bilden sein, dass sie nicht in eine vollschichtige Tätigkeit zu vermitteln seien. Dies gilt auch für ungelernte Kräfte oder für Ausländer mit eingeschränkt deutschen Sprachkenntnissen. Auch die bisherige Tätigkeit des Vaters in Zeitarbeitsverhältnissen ist noch kein hinreichendes Indiz dafür, dass es ihm nicht gelingen kann, eine besser bezahlte Stelle zu finden. Dies gilt auch, wenn er überwiegend in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen i.S. von § 8 Abs. 1 SGB IV gearbeitet hat. Zu den Anforderungen nach § 1603 Abs. 2 BGB gehört es auch, dass der Unterhaltspflichtige sich bemüht, seine Deutschkenntnisse zu verbessern.

     

    Im Hinblick darauf reichen die Ausführungen des OLG nicht, die auf seine bisherige Erwerbsvita und darauf abstellen, dass er über keine Berufsausbildung verfüge. Damit sind noch keine Umstände festgestellt, die eine Schlussfolgerung auf eine fehlende Erwerbsmöglichkeit rechtfertigen könnten. Es ist vielmehr nicht ausgeschlossen, dass der Vater eine Vollzeitstelle erlangen kann. Auch die bisherige Tätigkeit in geringfügiger Beschäftigung steht dem nicht entgegen. Etwa unzureichende Sprachkenntnisse können ihn nicht mehr ohne Weiteres entlasten, nachdem seine Unterhaltspflicht mit der Geburt des Sohnes bereits 2004 einsetzte. Dass er sich bemüht hat, sich fortzubilden und eine Ausbildung zu absolvieren, um seinem Kind in der Zukunft einmal Unterhalt zahlen zu können, genügt ebenfalls nicht.

     

    Der Vater kann den Beweis für eine mangelnde reale Beschäftigungsmöglichkeit nur dadurch führen, dass er sich hinreichend um eine Erwerbstätigkeit bemüht hat. Dazu reicht es nicht aus, dass er sich auf die ihm vom zuständigen Jobcenter unterbreiteten Stellenangebote beworben hat.

     

    Dass er ein höheres Einkommen als das vom OLG angenommene auf einer Basis von 7,30 EUR pro Stunde erzielen kann, ergibt sich schon aus seiner Beschwerdebegründung. Danach stand er bereits 2010/2011 in einem befristeten Vollzeitarbeitsverhältnis bei einem Zeitarbeitsunternehmen, aus dem er einen Stundenlohn von 7,60 EUR erzielte.

     

    Dem Unterhaltsschuldner ist ggf. eine Nebentätigkeit zuzumuten

    Wenn das durch eine Vollzeittätigkeit erzielbare Einkommen nicht ausreicht, den Mindestbedarf des Kindes zu decken, ist zu prüfen, ob und inwieweit dem Vater eine zusätzliche Nebentätigkeit zumutbar ist. Auch wenn Einkommen nur aufgrund von fiktivem Einkommen festgesetzt wird, trifft ihn eine Obliegenheit, eine Nebentätigkeit im selben Umfang auszuüben, wie einen seiner Erwerbsobliegenheit erfüllenden Unterhaltsschuldner.

     

    Sollte sich aus diesen Erwägungen ergeben, dass die Zurechnung eines fiktiven Einkommens die Leistungsunfähigkeit nicht vollständig beseitigt, ist von Folgendem auszugehen: Die Zurechnung eines fiktiven Einkommens, das dem Vater neben dem unterstellten Leistungsbezug gemäß dem SGB II anrechnungsfrei zu belassen wäre, kann seine unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit nicht erhöhen. Der Bezug eines Erwerbseinkommens neben einer bedürftigkeitsabhängigen Sozialleistung schließt zwar allein noch nicht aus, dass das Erwerbseinkommen für den Unterhalt zur Verfügung stehen kann. Es muss aber dem Unterhaltspflichtigen bei Zurechnung eines fiktiven Einkommens mehr als der notwendige Selbstbehalt nach der Düsseldorfer Tabelle verbleiben. Insbesondere kann die Leistungsfähigkeit nicht daraus hergeleitet werden, dass der Kindesunterhalt möglicherweise tituliert wird und dies bei der Bedarfsermittlung nach SGB II berücksichtigt wird.

    Praxishinweis

    Die Entscheidung spricht vier Umstände an, die bei der Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen sind, wenn ein Unterhaltspflichtiger gar kein oder geringeres Einkommen als seinen Selbstbehalt erzielt:

     

    • Verstoß gegen die Erwerbsobliegenheit,
    • Höhe des fiktiv zuzurechnenden Einkommens,
    • Zurechnung eines Nebeneinkommens und
    • Problematik, ob die sozialrechtliche Berücksichtigung titulierter Unterhaltspflichten die unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit eines Unterhaltspflichtigen beeinflusst.

     

    Verstoß gegen die Erwerbsobliegenheit

    Zu Recht weist der BGH darauf hin, dass bei der Prüfung der Erwerbsobliegenheit die Darlegungs- und Beweislast zu berücksichtigen ist, die beim Unterhaltspflichtigen liegt. Dieser muss also das Gericht davon überzeugen, dass er nicht gegen die Erwerbsobliegenheit verstößt. Dies bedeutet, dass verbleibende Zweifel immer zulasten des Unterhaltspflichtigen gehen müssen. Dazu zwingt bereits die zu seinen Lasten gehende Beweislast. Gerade bei ungelernten Arbeitskräften ist die Darlegung der Erfüllung der Erwerbsobliegenheit äußerst schwierig. Dies beruht darauf, dass ungelernte Tätigkeiten in allen möglichen Berufssparten zu erlangen sind, sodass sich die Bewerbungen, die letztlich die Arbeitssuche dokumentieren, auf alle möglichen Bereiche erstrecken müssen. Hier scheitert häufig die hinreichende Darlegung, weil dem Unterhaltspflichtigen vorzuwerfen ist, dass er sich nicht für alle in Betracht kommenden Tätigkeiten bemüht hat. Dies zeigt auch der vorliegende Fall. Die vom Vater ausgeübten Tätigkeiten decken nur einen beschränkten Arbeitsbereich ab. Da keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorgetragen sind, kommen insbesondere auch Arbeitstätigkeiten in Betracht, die körperliche Kraft kosten und unbeliebt sind, z.B. Helfertätigkeiten im Gerüst-, im Hoch- und im Tiefbau. Hier bilden auch eingeschränkte Sprachkenntnisse kaum Hindernisse, eine Erwerbstätigkeit zu finden. Diese Bereiche werden von den Unterhaltspflichtigen fast regelmäßig ausgespart, sodass ihnen zum Vorwurf gemacht werden kann, dass sie den Arbeitsmarkt, der für sie in Betracht kommt, nicht vollständig ausgeschöpft haben.

     

    Im Übrigen hängt die Frage, ob Zweifel beim Gericht verbleiben, von den persönlichen Wertvorstellungen und der Lebenserfahrung eines jeden Richters ab.

     

    Höhe des fiktiven Einkommens hängt von der Beschäftigung ab

    Bei der Frage der Höhe des erzielbaren Einkommens kommt es darauf an, welche Art von Tätigkeit dem Unterhaltspflichtigen zugerechnet werden kann. Bei den Beschäftigungen im Hoch- oder Tief- bzw. Gerüstbau kommt ein Stundenlohn von 12,80 EUR in Betracht, sodass im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit kaum Bedenken bestehen.

     

    Zurechnung eines fiktiven Nebeneinkommens

    Bei der gesteigerten Unterhaltspflicht umfasst die Erwerbsobliegenheit eine Wochenarbeitstätigkeit von 48 Stunden. Soweit das Arbeitszeitgesetz, gesundheitliche Gründe oder die persönliche Lebenssituation dem nicht entgegenstehen, kann dem Unterhaltspflichtigen noch ein weiteres Einkommen aus einer Nebentätigkeit zugerechnet werden. Er trägt die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass eine Nebentätigkeit unzumutbar ist. Ob und inwieweit eine fiktive Tätigkeit einer Nebentätigkeit entgegensteht, lässt sich im Hinblick auf die Vielschichtigkeit der in Betracht kommenden Tätigkeiten kaum vortragen. Insbesondere dürfte es dem Unterhaltspflichtigen kaum möglich sein, Einzelumstände vorzutragen, die gegen eine Nebentätigkeit sprechen, da die Haupttätigkeit nur fiktiv zugerechnet wird und die Einzelumstände ebenfalls nur fiktiv hergeleitet werden könnten. Eine Ausnahme gilt für gesundheitliche Beeinträchtigungen, die objektiv feststellbar sind.

     

    Auswirkung der sozialrechtlichen Beachtung titulierter Unterhaltspflichten

    Fraglich ist, ob die Berücksichtigung titulierter Unterhaltspflichten beim Bedarf nach dem SGB II die Leistungsfähigkeit eines Unterhaltspflichtigen herbeiführen kann. Wenn die Gerichte den Mindestbedarf titulieren, führt dies zwangsläufig dazu, dass bei der Einkommensermittlung nach SGB II die Unterhaltsansprüche zu berücksichtigen sind. Folge ist, dass ein mögliches Erwerbseinkommen in größerem Umfang anrechnungsfrei bleibt und damit das letztlich zur Verfügung stehende Einkommen dem Bedarf des Erwerbstätigen gemäß SGB II und damit dem notwendigen Selbstbehalt eines gesteigert Unterhaltspflichtigen entspricht. Damit wären Unterhaltspflichtige bei der gesteigerten Unterhaltspflicht an sich immer leistungsfähig, selbst wenn sie nur geringe Einkünfte beziehen. Der Fehler beruht darin, dass die Leistungsfähigkeit eines Unterhaltspflichtigen nach § 1603 BGB daraus hergeleitet wird, dass ihm die durch die Berücksichtigung der Unterhaltspflicht ausgelösten - also später bezogenen - Sozialleistungen zugerechnet werden, um zu einer Titulierung zu gelangen. Dies führt dazu, dass die Leistungsfähigkeit nicht während des Unterhaltszeitraums gegeben ist, sondern erst von einem späteren Ereignis abhängt, nämlich der Titulierung. Dies hält der BGH für unzulässig.

     

    Weiterführende Hinweise

    • FK 14, 4 = BGH FamRZ 13, 1378, zum Eintritt des volljährig gewordenen Kindes in das Verfahren, die vorliegende Entscheidung knüpft an diese Entscheidung an
    • FK 14, 212, zur Darlegungslast bei der gesteigerten Unterhaltspflicht (in diesem Heft)
    Quelle: Ausgabe 12 / 2014 | Seite 200 | ID 42583195