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  • · Fachbeitrag · Umsatzsteuer

    Lieferung vom ersten Unternehmer zum letzten Erwerber: Vorsteuerabzug darf nicht versagt werden

    von RA Dr. Daniel Kaiser, FA StR, CMS Hasche Sigle, Stuttgart

    | Unternehmen wird oft der Vorsteuerabzug versagt mit der Begründung, es habe - entgegen den zivilrechtlichen Vereinbarungen - tatsächlich keine Lieferung stattgefunden. Oftmals verbinden die Finanzbehörden hiermit zugleich einen steuerstrafrechtlichen Vorwurf. Nun hat der BFH mit Urteil vom 9.9.15 einer solchen vereinfachenden Betrachtungsweise eine klare Absage erteilt: Eine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit des Erwerbers auf den gelieferten Gegenstand ist keine Voraussetzung für die Lieferung. |

    1. FA versagt den Vorsteuerabzug

    Dem Urteil des BFH (9.9.15, XI R 21/13, Abruf-Nr. 183658) lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin (K) war im Streitjahr 2010 selbstständig (Partyservice). K bestellte im November 2010 bei einer GmbH & Co. KG (G) eine aus Einzelteilen bestehende Photovoltaikanlage zum Preis von 50.000 EUR zzgl. 9.500 EUR Umsatzsteuer. G hatte die Photovoltaikanlage zuvor von der C-AG erworben. Noch im November 2010 bot K der C den Abschluss eines Pachtvertrags an, der die Überlassung der Einzelteile der Photovoltaikanlage vorsah.

     

    C war verpflichtet, die Photovoltaikanlage an einem geeigneten Standort in Deutschland zu errichten und während der Pachtdauer von 215 Monaten zu gewährleisten, dass die Anlage funktioniert. Weiter war C dazu berechtigt, die Photovoltaikanlage nach Ablauf der Pachtdauer zum Kaufpreis von 10.833 EUR zu erwerben. K wies G an, die Anlage direkt an C zu übergeben. Bis zur Installation der Photovoltaikanlage im Dezember 2010 lagerten die Einzelteile der Anlage in einer von C angemieteten Lagerhalle.

     

     

    In der Umsatzsteuervoranmeldung Dezember 2010 machte K die Vorsteuer aus dem Erwerb der Photovoltaikanlage geltend. Die in der Folge vom FA angeforderten Nachweise über die Lieferung, das Lieferdatum, den Standort sowie die Existenz der Photovoltaikanlage legte K nicht vor. Das FA verneinte eine selbstständige Tätigkeit von K i. S. von § 2 UStG und versagte den Vorsteuerabzug. Das FG München (26.1.12, 14 K 2222/11, EFG 12, 1702) wies die Klage ab: Eine Lieferung von G an K sei nicht erfolgt. Es sei schon fraglich, ob G die Verfügungsmacht über die Photovoltaikanlage erlangt habe. Selbst wenn dies unterstellt werde, habe K jedenfalls zu keinem Zeitpunkt Verfügungsmacht an der Photovoltaikanlage erlangt.

     

    Mit der Revision rügt K, dass materielles Recht verletzt worden sei, unter anderem § 3 Abs. 1 UStG. So habe sie sowohl das zivilrechtliche als auch wirtschaftliche Eigentum an der Photovoltaikanlage erlangt. In ihrer Verfügungsbefugnis sei sie lediglich aufgrund des von ihr freiwillig abgeschlossenen Pachtvertrags eingeschränkt gewesen. Laut FA hätten die Einzelteile der Photovoltaikanlage dagegen den tatsächlichen Herrschaftsbereich der C niemals verlassen. Aufgrund der engen sachlichen und zeitlichen Verknüpfung zwischen Kauf- und Pachtvertrag sei eine Verschaffung der Verfügungsmacht an K nicht ernsthaft gewollt gewesen.

    2. BFH entscheidet zugunsten des Steuerpflichtigen

    Die Frage nach der Verschaffung der Verfügungsmacht ist häufig Gegenstand in Einspruchs- und Klageverfahren. Der BFH (9.9.15, XI R 21/13, Abruf-Nr. 183658) hat nun die Anforderungen zugunsten des Steuerpflichtigen entschärft.

     

    2.1 Lieferung nach § 3 Abs. 1 UStG

    Der BFH hob das Urteil auf und wies es zur erneuten Entscheidung zurück. Das FG habe zu Unrecht angenommen, eine umsatzsteuerrechtliche Lieferung setze eine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit des Erwerbers auf den Liefergegenstand voraus. Nach § 3 Abs. 1 UStG sind Lieferungen Leistungen eines Unternehmers, durch die er oder in seinem Auftrag ein Dritter den Abnehmer oder in dessen Auftrag einen Dritten befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen (Verschaffung der Verfügungsmacht). Unionsrechtliche Grundlage von § 3 Abs. 1 UStG ist Art. 14 Abs. 1 der MwStSystRL.

     

    Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH umfasst der unionsrechtliche Begriff der „Lieferung von Gegenständen“ - der unabhängig von den zivilrechtlichen Eigentumsübertragungsvorschriften der Mitgliedstaaten beurteilt wird - jede Übertragung eines körperlichen Gegenstands durch eine Partei, die eine andere Partei ermächtigt, über diesen Gegenstand faktisch so zu verfügen, als wäre sie sein Eigentümer (EuGH 2.7.15, C-209/14, DStRE 15, 1131). Der BFH beschreibt diesen Vorgang in ständiger Rechtsprechung als Übertragung von Substanz, Wert und Ertrag (BFH 25.2.15, XI R 15/14, BFHE 249, 343).

     

    Nach der Rechtsprechung des BFH ist die Frage der Verschaffung der Verfügungsmacht stets nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen, wobei die konkreten vertraglichen Vereinbarungen und deren tatsächliche Durchführung unter Berücksichtigung der Interessenslage der Beteiligten zu würdigen sind. Ausdrücklich stellt der BFH klar, dass nach seiner Rechtsprechung - entgegen der Ansicht des FG - eine Lieferung keine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit des Erwerbers auf den Liefergegenstand voraussetzt. Bereits der Wortlaut von § 3 Abs. 1 UStG sehe vor, dass der liefernde Unternehmer den Abnehmer oder in dessen Auftrag einen Dritten befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen. Hiernach sei gerade auch eine Lieferung in Gestalt der direkten Auslieferung an einen Dritten möglich, z. B. an einen Zweiterwerber. Auch mit der Rechtsprechung des BFH und EuGH zum Reihengeschäft sind die Ausführungen des FG nicht vereinbar: Gelangt bei einem Reihengeschäft ein Liefergegenstand vom ersten Lieferer unmittelbar an den letzten Abnehmer und holt der letzte Abnehmer die Ware beim ersten Lieferer ab, erlangt der mittlere Unternehmer in der Lieferkette grundsätzlich keine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit auf den Liefergegenstand, obwohl im Ergebnis zwei Lieferungen vorliegen.

     

    2.2 Gestaltungsmissbrauch i. S. von § 42 AO

    Auch die vom FG angenommene umsatzsteuerrechtliche Einstufung der Leistung von K als Finanzierungsleistung mit Sicherung durch das zivilrechtliche Eigentum verwirft der BFH. So hätte das FG hierfür eine missbräuchliche Gestaltung i. S. von § 42 AO feststellen müssen, was nicht erfolgt sei. Nach § 42 Abs. 1 S. 1 AO kann das Steuergesetz durch den Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts nicht umgangen werden.

     

    Bei Missbrauch entsteht der Steueranspruch so, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht (§ 42 Abs. 1 S. 3 AO). Wird § 42 AO ausgelegt, darf jedoch die Rechtsprechung des EuGH und des BFH zu den umsatzsteuerrechtlichen Leistungsbeziehungen nicht außer Acht gelassen werden. Der EuGH geht in seiner Rechtsprechung davon aus (EuGH 20.6.13, C-653/11, DStRE 14, 32), es sei möglich, dass Vertragsbestimmungen gelegentlich die wirtschaftliche und geschäftliche Realität der Transaktionen nicht vollständig widerspiegeln. Dies könne insbesondere der Fall sein, wenn die zivilrechtlichen Vereinbarungen als missbräuchliche Gestaltung einzustufen seien.

     

    Nach dem unionsrechtlichen Grundsatz des Verbots des Rechtsmissbrauchs sind rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen verboten, die allein zu dem Zweck erfolgen, einen Steuervorteil zu erlangen. Dies soll der Fall sein, wenn die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie und des nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem Ziel des Gesetzgebers zuwiderliefe, und zum anderen aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass mit den Umsätzen im Wesentlichen lediglich ein Steuervorteil bezweckt wird (EuGH 22.12.10, C 277/09; BFH 11.4.13, V R 28/12). Diese Vorgaben des EuGH sind im nationalen Recht umzusetzen. Der BFH fordert das FG demnach ausdrücklich dazu auf, im Rahmen der erneuten Entscheidung zu prüfen, ob eine missbräuchliche Gestaltung vorliegt.

    3. Praxishinweis

    Häufig verneinen Finanzbehörden und Finanzgerichte beim Vorliegen von komplexen oder auf den ersten Blick unüblichen Vertragsgestaltungen vorschnell eine Lieferung und versagen den Vorsteuerabzug. Dazu stellt der BFH nun klar: Weder eine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit noch ein tatsächliches Einwirken auf den Liefergegenstand ist eine notwendige Voraussetzung für die Annahme einer Lieferung. Allenfalls unter den hohen Voraussetzungen einer missbräuchlichen Gestaltung i. S. von § 42 AO können die zivilrechtlichen Vereinbarungen unberücksichtigt bleiben.

    Quelle: Ausgabe 07 / 2016 | Seite 184 | ID 43968436

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