· Fachbeitrag · Geschäftsgebühr
Sozialgerichtliche Verfahren: Das ist bei der Anrechnung nach § 15a Abs. 2 RVG zu beachten
von RA Norbert Schneider, Neunkirchen
| § 15a Abs. 2 RVG regelt die Anrechnung, wenn der Anwalt in einer sozialrechtlichen Angelegenheit zunächst mehrere Geschäftsgebühren in getrennten Widerspruchsverfahren verdient hat und es dann zu einem gemeinsamen gerichtlichen Verfahren kommt. Doch die Vorschrift ist erst durch das KostRÄG 2021 zum 1.1.21 eingeführt worden ( RVG prof. 21, 98 ). Gilt sie also auch für Altfälle bis zum 31.12.20? Die aktuelle Rechtsprechung hierzu ist nicht einhelliger Meinung. |
1. Der Fall des SG Marburg
In einem Fall vor dem SG Marburg war der Rechtsanwalt R in zwei getrennten sozialrechtlichen Widerspruchsverfahren tätig (SG Marburg 1.11.21, S 10 SF 22/19 E, Abruf-Nr. 226610). Er hatte dort jeweils eine Geschäftsgebühr nach Nr. 2302 Nr. 1 VV RVG verdient, und zwar i. H. v. 345 EUR und i. H. v. 200 EUR. Danach kam es zu einem gemeinsamen gerichtlichen Verfahren über beide angefochtenen Bescheide. Dort wurde der Anwalt im Wege der PKH beigeordnet. Der Klage wurde stattgegeben, sodass die Beklagte die beiden Geschäftsgebühren für die Widerspruchsverfahren erstatten musste.
In dem folgenden Verfahren auf Festsetzung der PKH-Vergütung meldete der Anwalt des Klägers eine Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV RVG i. H. v. 360 EUR (20 Prozent über Mittelgebühr) zur Festsetzung an. Die vorangegangenen Geschäftsgebühren rechnete er dabei hälftig an, insgesamt aber nur mit der einfachen Höchstgrenze gemäß der Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV RVG a. F. i. H. v. 175 EUR.
Der Antrag des R lautete folgendermaßen:
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1. Widerspruchsverfahren | ||
Geschäftsgebühr, Nr. 2302 Nr. 1 VV RVG | 345,00 EUR | |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV RVG |
| 20,00 EUR |
19 Prozent USt., Nr. 7008 VV RVG | 69,35 EUR | |
434,35 EUR | ||
2. Widerspruchsverfahren | ||
Geschäftsgebühr, Nr. 2302 Nr. 1 VV RVG | 200,00 EUR | |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV RVG | 20,00 EUR | |
19 Prozent USt., Nr. 7008 VV RVG | 41,80 EUR | |
261,80 EUR | ||
Verfahren vor dem Sozialgericht | ||
Verfahrensgebühr, Nr. 3102 VV RVG | 360,00 EUR | |
gem. Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV RVG anzurechnen | - 172,50 EUR | |
gem. Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV RVG anzurechnen | - 100,00 EUR | |
- 272,50 EUR | ||
gem. Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV RVG nicht mehr als | -175,00 EUR | |
Terminsgebühr, Nr. 3106 VV RVG | 280,00 EUR | |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV RVG | 20,00 EUR | |
19 Prozent USt., Nr. 7008 VV RVG | 92,15 EUR | |
577,15 EUR |
Das SG hat allerdings beide Geschäftsgebühren ohne Begrenzung hälftig angerechnet. Es hat sich dabei an der Rechtsprechung des BGH zu der vergleichbaren Problematik bei Wertgebühren orientiert (RVG prof 17, 96): Bei Wertgebühren soll bei der Anrechnung mehrerer Geschäftsgebühren aus Teilwerten auf eine nachfolgende Verfahrensgebühr aus dem Gesamtwert jede Geschäftsgebühr hälftig angerechnet werden, ohne dass das Anrechnungsvolumen gekürzt wird. Dass dadurch die nachfolgende Verfahrensgebühr ggf. aufgezehrt wird, ist hinzunehmen. Es kann lediglich kein höherer Betrag angerechnet werden als der Betrag der Verfahrensgebühr.
Diese Rechtsprechung hat das SG auf den sozialrechtlichen Fall übertragen und ist auch hier davon ausgegangen, dass jede Gebühr ohne weitere Begrenzung hälftig angerechnet wird. Die zum 1.1.21 neu eingeführte Vorschrift des § 15a Abs. 2 RVG, die eine solche Begrenzung vorsehe, sei gemäß § 60 Abs. 1 RVG in Altfällen ‒ wie hier ‒ nicht anwendbar.
Das SG Marburg rechnet wie folgt ab:
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1. Widerspruchsverfahren | |
wie oben | 434,35 EUR |
2. Widerspruchsverfahren | |
wie oben | 261,80 EUR |
Verfahren vor dem Sozialgericht | |
Verfahrensgebühr, Nr. 3102 VV RVG | 360,00 EUR |
gem. Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV RVG anzurechnen | - 172,50 EUR |
gem. Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV RVG anzurechnen | - 100,00 EUR |
Terminsgebühr, Nr. 3106 VV RVG | 280,00 EUR |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV RVG | 20,00 EUR |
19 Prozent USt., Nr. 7008 VV RVG | 73,63 EUR |
461,13 EUR |
2. Stellungnahme
Das SG hat die umstrittene Rechtsprechung des BGH ohne weitere Begründung übernommen und sich dabei nicht mit der Gegenauffassung (vgl. OLG Koblenz AGS 09, 167; OVG Nordrhein-Westfalen AGS 17, 497) auseinandergesetzt.
Nach der Gegenauffassung ist das Anrechnungsaufkommen analog § 15 Abs. 3 RVG auf eine Gebühr nach dem höchsten anzurechnenden Satz aus dem Gesamtwert zu begrenzen. Auf Rahmengebühren übertragen bedeutet dies, dass nicht mehr angerechnet werden darf als die Höchstgrenze gemäß der Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV RVG. Die Gegenauffassung würde die Geschäftsgebühren des R also auch nur begrenzt um 175 EUR kürzen.
a) Seit dem 1.1.21 gilt die klare Regel des § 15a Abs. 2 RVG
Für Fälle seit dem 1.1.21 ist durch § 15a Abs. 2 RVG klargestellt:
- Bei der Anrechnung mehrerer Wertgebühren darf nicht mehr angerechnet werden als eine Gebühr nach dem höchsten Anrechnungssatz aus dem Gesamtwert.
- Bei Betragsrahmengebühren darf nicht mehr angerechnet werden als der Höchstbetrag der Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV RVG.
b) Die Gesetzesänderung ist lediglich eine Klarstellung
Diese Gesetzesänderung ist ausweislich der Gesetzesbegründung ergangen, um der unzutreffenden Rechtsprechung des BGH zu begegnen. Das SG Marburg hätte sich deshalb nicht mit einem Hinweis auf die Übergangsregelung in § 60 Abs. 1 RVG begnügen dürfen. Sondern es hätte problematisieren müssen, ob es sich bei § 15a Abs. 2 RVG vielmehr um eine Klarstellung des Gesetzgebers gehandelt hat, die lediglich zum Ausdruck bringen sollte, was ohnehin schon immer gewollt war.
c) Es wird auf den Anrechnungshöchstbetrag beschränkt
Für alle gerichtlichen Verfahren, die nach dem 31.12.20 eingeleitet worden sind, gilt: Die Anrechnung mehrerer sozialrechtlicher Geschäftsgebühren auf eine gemeinsame Verfahrensgebühr ist auf den Höchstbetrag von 207 EUR beschränkt.
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Der Anwalt wird in einer sozialrechtlichen Angelegenheit beauftragt, gegen den Bescheid der Sozialbehörde Widerspruch einzulegen. Später wird er beauftragt, noch gegen einen weiteren Bescheid Widerspruch einzulegen. Die Widerspruchsbehörde bescheidet beide Widersprüche zeitgleich. Daraufhin wird gegen beide Bescheide in Gestalt des Widerspruchsbescheids eine gemeinsame Anfechtungsklage zum Sozialgericht erhoben.
Ausgehend jeweils von der Schwellengebühr (Anm. zu Nr. 2302 VV RVG) sowie der Mittelgebühr im gerichtlichen Verfahren (Nr. 3102 VV RVG) kann der Rechtsanwalt wie folgt abrechnen: | ||
1. Widerspruchsverfahren | ||
Geschäftsgebühr, Nr. 2302 Nr. 1 VV RVG | 359,00 EUR | |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV RVG | 20,00 EUR | |
19 Prozent USt., Nr. 7008 VV RVG | 72,01 EUR | |
451,01 EUR | ||
2. Widerspruchsverfahren | ||
Geschäftsgebühr, Nr. 2302 Nr. 1 VV RVG | 359,00 EUR | |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV RVG | 20,00 EUR | |
19 Prozent USt., Nr. 7008 VV RVG | 72,01 EUR | |
451,01 EUR | ||
Verfahren vor dem Sozialgericht | ||
Verfahrensgebühr, Nr. 3102 VV RVG | 360,00 EUR | |
gem. Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV RVG anzurechnen | - 179,50 EUR | |
gem. Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV RVG anzurechnen | - 179,50 EUR | |
- 359,00 EUR | ||
gem. § 15a Abs. 2 RVG i. V. m. Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV RVG nicht mehr als |
- 207,00 EUR | |
Terminsgebühr, Nr. 3106 VV RVG | 335,00 EUR | |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV RVG | 20,00 EUR | |
19 Prozent USt., Nr. 7008 VV RVG | 96,52 EUR | |
604,52 EUR |
Weiterführende Hinweise
- Sozial- und Verwaltungsrecht: So wird die Geschäftsgebühr bei PKH korrekt angerechnet, RVG prof. 21, 98
- KostRÄG 2021: Wird die Geschäftsgebühr nach altem oder neuem Recht angerechnet?, RVG prof. 21, 94
- So wird die Anrechnung einer gezahlten Geschäftsgebühr bei PKH/VKH im folgenden Verfahren gelöst, RVG prof. 20, 197