· Fachbeitrag · Widerspruchsrecht
Geringfügige Belehrungsfehler: Widerspruch kann gegen Treu und Glauben verstoßen
| Ist dem VN durch einen geringfügigen Belehrungsfehler nicht die Möglichkeit genommen worden, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, kann die Ausübung des Widerspruchsrechts gemäß § 5a Abs. 1 S. 1 VVG a. F. rechtsmissbräuchlich sein. |
1. VR hatte leicht fehlerhaft belehrt
Die Klägerin machte aus behauptet abgetretenem Recht Ansprüche auf bereicherungsrechtliche Rückabwicklung fondsgebundener Lebens- und Rentenversicherungsverträge geltend. Diese Verträge wurden zwischen den jeweiligen VN und der Beklagten 2002 nach dem sogenannten Policenmodell des § 5a VVG a. F. abgeschlossen. Die VN kündigten die Verträge 2016 und 2017 und erklärten jeweils 2018 den Widerspruch nach § 5a VVG a. F. Sie begründeten das damit, dass der VR falsche Information über ein Recht zum schriftlichen Widerspruch erteilt hatte, obwohl nach § 5a Abs. 1 S. 1 VVG in der ab 1.8.01 gültigen Fassung ein Widerspruch in Textform genügte.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht der Geltendmachung des Rückabwicklungsanspruchs der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen. Ein vorrangiges schutzwürdiges Vertrauen des VR in den Fortbestand des Vertrags komme in Betracht, wenn Umstände vorlägen, die den Schluss darauf zuließen, dass der VN auch in Kenntnis seines Lösungsrechts vom Vertrag an diesem festgehalten hätte. Dies sei hier der Fall. Der Fehler der Belehrung über die einzuhaltende Schriftform anstelle der ausreichenden Textform für die Widerspruchserklärung könne die VN nicht ernsthaft von der Ausübung des Widerspruchsrechts innerhalb der bei ordnungsgemäßer Belehrung geltenden Frist abgehalten haben. Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin.
2. BGH: das reicht für Widerspruch nicht aus
Der BGH hat entschieden, dass die Ausübung des Widerspruchsrechts gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstößt, wenn ein geringfügiger Belehrungsfehler vorliegt, durch den dem VN nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben (15.2.23, IV ZR 353/21, Abruf-Nr. 233810).Denn dies ist eine nur geringfügige, im Ergebnis folgenlose Verletzung der Pflicht des VR zur ordnungsgemäßen Belehrung. Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht dies für den hier zu beurteilenden Fall angenommen.
Die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Ausübung des Widerspruchsrechts in diesem Fall steht auch in Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH (vgl. 19.12.19, Rust-Hackner u. a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, EU: C:2019:1123 = NJW 20, 667), sodass eine Vorlage an diesen nicht veranlasst war. Dass der EuGH hiervon mit seinem Urteil vom 9.9.21 (Volkswagen Bank u. a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, EU:C:2021:736 = NJW 22, 40) abweichen wollte, ist nicht ersichtlich. Diese Entscheidung bezieht sich auf Fälle, in denen eine der in Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rats vom 23.4.08 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rats (ABl. L 133 S. 66) vorgesehenen zwingenden Angaben fehlt. Insoweit äußert sich der Gerichtshof zu der von ihm im Versicherungsvertragsrecht vorgenommenen Differenzierung nach der Bedeutung des Belehrungsmangels nicht.
3. Mögliche Unionswidrigkeit des Policenmodells unerheblich
Die Frage, ob das Policenmodell mit den Lebensversicherungsrichtlinien der Europäischen Union unvereinbar ist, war ferner nicht entscheidungserheblich. Auch im Fall einer unterstellten Unionswidrigkeit des Policenmodells ist es dem ‒ im Wesentlichen ‒ ordnungsgemäß belehrten VN, der sich aus den genannten Gründen nicht auf die geringfügige Fehlerhaftigkeit der Belehrung berufen kann, nach Treu und Glauben wegen widersprüchlicher Rechtsausübung verwehrt, sich nach jahrelanger Durchführung des Vertrags auf dessen angebliche Unwirksamkeit zu berufen und daraus Bereicherungsansprüche herzuleiten.
4. EuGH-Vorlage nicht erforderlich
Zum Einwand von Treu und Glauben war eine Vorlage an den EuGH ebenfalls nicht erforderlich. Die Maßstäbe für dessen Berücksichtigung sind in der Rechtsprechung des EuGH geklärt und die Annahme rechtsmissbräuchlichen Verhaltens steht in Fällen wie dem vorliegenden damit in Einklang. Etwas anderes ergibt sich nicht aus den Ausführungen des EuGH zum unionsrechtlichen Grundsatz des Rechtsmissbrauchs in dessen Entscheidung vom 9.9.21 (Volkswagen Bank a. a. O.). Für den Bereich der Lebensversicherungen hat der EuGH festgestellt, dass die Mitgliedstaaten die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts und der Mitteilung von Informationen, insbesondere zur Ausübung dieses Rechts, im Einzelnen regeln können. Das gilt sowohl für die Zweite und Dritte Richtlinie Lebensversicherung als auch für die Richtlinien 2002/83/EG und die Solvabilität II-Richtlinie. Dabei müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass die praktische Wirksamkeit der Richtlinien gewährleistet ist (vgl. EuGH 19.12.19, Rust-Hackner a. a. O.). Diese Rechtsprechung hat der EuGH im Anschluss an seine Entscheidung vom 9.9.21 (Volkswagen Bank a. a. O.) für die Rechtsfolgen der Nichterfüllung oder der nicht ordnungsgemäßen Erfüllung der in den Richtlinien vorgesehenen vorvertraglichen Mitteilungspflicht sowie in Bezug auf das dort niedergelegte Recht des VN auf Rücktritt vom Versicherungsvertrag bestätigt (vgl. EuGH 24.2.22, A u. a. [Unit-Linked-Versicherungsverträge], C-143/20 und C-213/20, EU:C:2022:118 = NJW 22, 1513 zur Richtlinie 2002/83/EG). Damit kommt es auf den allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts zum Rechtsmissbrauch und dessen Voraussetzungen hier nicht an. Im Bereich der Lebensversicherungsrichtlinien ist daher ein Rückgriff auf den nationalen Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB zulässig, soweit die praktische Wirksamkeit der Richtlinien ‒ wie hier ‒ nicht beeinträchtigt wird.