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  • · Fachbeitrag · Reiserücktrittsversicherung

    VR muss sich an den Aussagen seiner medizinischen Stornoberatung festhalten lassen

    | Bietet eine Reiserücktrittsversicherung eine medizinische Stornoberatung an, muss sich der VR daran festhalten lassen, wenn diese aufgrund des Krankheitsbilds zum Storno der Reise rät. |

     

    Sachverhalt

    Die VN hatte für sich und die Klägerin eine 5-tägige Pauschalreise nach Ibiza zu einem Gesamtpreis von 1.410 EUR gebucht und für beide eine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen. Die Versicherungsbedingungen des VR enthielten folgende Bestimmungen: „Ihr Service-Plus in der Stornokosten-Versicherung: „Ist Ihre Reise aufgrund von Krankheit, Unfall oder aus anderen Gründen gefährdet? Sind Sie sich unsicher, ob sie ihre Reise antreten können oder doch stornieren müssen? Unsere telefonische Stornoberatung gibt Ihnen hier die richtige Empfehlung. (...) 2.2 Wir unterstützen Sie bei der Entscheidung, ob und wann sie ihre Reise stornieren sollten. (...) 14.3 Haben Sie die medizinische Stornoberatung eingeschaltet und A) empfiehlt diese, die Reise zu stornieren? Dann sind Sie verpflichtet, ihre Reise unverzüglich zu stornieren. ...“ Bei der seit 2017 an Morbus Basedow leidenden Klägerin wurde kurz vor Reisebeginn ein Knoten im Bereich der Schilddrüse festgestellt. Als frühester Termin für die weitere medizinische Abklärung wurde der Tag vor der geplanten Abreise angeboten. Die Klägerin nahm daraufhin die Medizinische Stornoberatung des VR in Anspruch. Die Ärztin dort riet telefonisch zur Stornierung der Reise. Das taten VN und Klägerin umgehend.

     

    Der VR verweigerte den von der Klägerin geltend gemachten Ersatz der Stornokosten. Er meinte, die von ihm angebotene Medizinische Stornoberatung würde nur in Bezug auf den Zeitpunkt der Stornierung beraten. Über die grundsätzliche Frage, ob überhaupt ein versichertes Ereignis vorläge, würde jedoch erst im Rahmen der Schadenbearbeitung befunden und entschieden.

     

    Entscheidungsgründe

    Das Amtsgericht München gab der Klage vollumfänglich statt (16.2.23, 122 C 7243/22, Abruf-Nr. 237914). Es sei unerheblich, ob bei der Klägerin eine unerwartete schwere Erkrankung im Sinne der AVB vorlag, die ein planmäßiges Antreten der Reise unmöglich gemacht habe. Der Anspruch auf Erstattung der Stornokosten ergebe sich vielmehr aus der zwischen den Parteien geschlossenen Reiserücktrittsversicherung i. V. m. § 242 BGB. Der VR müsse sich nach dem Grundsatz des venire contra factum proprium an dem festhalten lassen, was die Ärztin der Medizinischen Stornoberatung der Klägerin in dem Telefongespräch geraten habe.

     

    Das AG begründete das folgendermaßen: Zwar darf eine Partei ihre Rechtsansicht durchaus ändern. Allerdings ist widersprüchliches Verhalten missbräuchlich, wenn für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand entstanden ist oder wenn andere besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen. Es muss objektiv das Gesamtbild eines widersprüchlichen Verhaltens vorliegen, weil das frühere Verhalten mit dem späteren unvereinbar ist und die Interessen der Gegenpartei im Hinblick hierauf vorrangig schutzwürdig sind. Ein Verschulden ist nicht erforderlich.

     

    Der VR hatte hiermit seiner Beratung gegenüber der Klägerin einen Vertrauenstatbestand geschaffen, dass die Stornierung der Reise den vertraglichen Voraussetzungen der Reiserücktrittsversicherung entspricht.

     

    Das Vertrauen der Klägerin in die Empfehlung der Medizinischen Stornoberatung des VR ist auch schutzwürdig. Die Klägerin konnte und durfte darauf vertrauen, dass die Ärztin der Medizinischen Stornoberatung sie richtig berät. Dies betrifft sowohl den Zeitpunkt der Stornierung als auch die Frage, ob ein Stornierungsgrund vorliegt.

     

    Relevanz für die Praxis

    In derartigen Fällen kommt es für den VN darauf an, einen durch den VR geschaffenen Vertrauenstatbestand nachzuweisen. Dazu sollte anhand der AVB argumentiert werden. Die folgende Übersicht zeigt eine Argumentation, warum sich der VR im vorliegenden Fall rechtsmissbräuchlich verhielt.

     

    • Übersicht: Gründe für Vertrauenstatbestand

    In Ziffer 2.2 der AVB wird die Leistung der Medizinischen Stornoberatung dahingehend konkretisiert, dass eine Unterstützung bei der Entscheidung angeboten wird, ob und wann die Vertragspartei ihre versicherte Reise stornieren soll. Nach der offenen Formulierung dieser Vertragsbedingung ist mithin entgegen der Ansicht des VR davon auszugehen, dass die Medizinische Stornoberatung nicht nur in Bezug auf den Zeitpunkt der Stornierung berät, sondern auch darüber, ob überhaupt ein Stornierungsgrund im Sinne einer unerwarteten schweren Erkrankung gegeben ist. Dies wird auch dadurch gestützt, dass es sich explizit um eine medizinische und nicht um eine allgemeine Stornoberatung handelt und Rücksprache mit Ärzten gehalten werden kann. Der VR weist schließlich selbst im Versicherungsschein den VN darauf hin, dass die Medizinische Stornoberatung die „richtige“ Empfehlung gibt und empfiehlt die Durchführung bei Unsicherheiten über das Eintreten des Versicherungsfalls.

     

    Wenn die Medizinische Stornoberatung der Beklagten ‒ wie vom VR vorgetragen ‒ keine Entscheidung darüber treffen kann, ob tatsächlich ein versichertes Ereignis vorliegt, muss dies gegenüber dem VN in der Beratung auch offengelegt werden. Er muss auf das Risiko einer abweichenden späteren Entscheidung der Beklagten über den Eintritt des Versicherungsfalls hingewiesen werden.

     

    Wobei aus Sicht des Gerichts höchst fraglich ist, warum der VR den VN seine Medizinische Stornoberatung überhaupt als Entscheidungsgrundlage empfiehlt, wenn er selbst meint, sich an die Empfehlungen seiner eigenen Beratung nicht halten zu müssen. Der diesbezügliche Vortrag des VR steht in eklatantem Widerspruch zu Ziff. 2 und 14 seiner eigenen AVB. Die Auskunft der Ärztin der Medizinischen Stornoberatung muss sich der VR gemäß § 278 S. 1 BGB auch zurechnen lassen. Er hat sich dieser insoweit als Erfüllungsgehilfin bedient. Die Empfehlung der Medizinischen Stornoberatung zur unverzüglichen Stornierung der Reise ist mithin unvereinbar mit der späteren Verweigerung der Kostenübernahme durch den VR mit der Begründung, es habe keine schwere unerwartete Erkrankung zum Stornierungszeitpunkt vorgelegen.

     

    Weiterführender Hinweis

    • Reise muss nicht schon beim ersten Anzeichen einer möglichen Reiseverhinderung storniert werden: VK 21, 21
    Quelle: Ausgabe 11 / 2023 | Seite 184 | ID 49669516