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  • 01.10.2007 | Unfallversicherung

    Die Bemessung des Invaliditätsgrads außerhalb der Gliedertaxen

    von VRiOLG a.D. Werner Lücke, Telgte
    1. Die Bemessung des Invaliditätsgrads außerhalb der sog. Gliedertaxen, also die Bemessung gem. § 7 I Abs. 2 c) AUB 88/94 hat sich – gleichwohl – auch an den in Buchst. a) vereinbarten Gliedertaxen zu orientieren und darf nicht zu einem Wertungswiderspruch mit diesen führen (Festhalten an Senat, VersR 93, 472).  
    2. Ob dabei auch auf die – dem VN mitgeteilte – Ausgangsregelung in § 7 I Abs. 2 a) und b) AUB 88/94 abzustellen ist, wenn durch Besondere Bedingungen vereinbart ist, dass bei bestimmten der in Buchst. a) genannten Beeinträchtigungen ein höherer Invaliditätsgrad angesetzt wird (sog. verbesserte Gliedertaxe), oder ob dann diese verbesserte Gliedertaxen maßgeblich sind, bleibt offen.  
    3. Zur Bemessung der Invalidität mit 50 Prozent bei Einsteifung der Halswirbelsäule und weiteren Beeinträchtigungen.  

     

    Sachverhalt und Entscheidungsgründe

    Der VN hatte bei einem Sturz von einer Arbeitsbühne u.a. einen Bruch des 2. Halswirbelkörpers sowie einen Kompressionsbruch des 6. Brustwirbelkörpers erlitten. Nach Behandlung verblieben als Dauerfolgen eine weitgehende Einsteifung der HWS, eine eingeschränkte Beweglichkeit der BWS bei Gangunsicherheit und eingeschränkter Belastbarkeit der gesamten Wirbelsäule sowie – nach Angaben des VN – eine Kälteintoleranz der oberen Extremitäten bei leichter Depressivität.  

     

    Der VR regulierte nach einem Invaliditätsgrad von 50 Prozent. Der VN verlangte 80 Prozent. Die Klage blieb in beiden Instanzen nach sachverständiger Beratung erfolglos. Auch wenn sie als solche hier nicht einschlägig sei, müssten die Wertungen der Gliedertaxe berücksichtigt werden. Selbst wenn man dafür, was offen bleiben könne, die vereinbarte verbesserte Gliedertaxe zugrunde lege, ergebe sich kein Widerspruch. Wer eine Hand verloren habe, was nach der verbesserten Gliedertaxe mit 65 Prozent bewertet werde, sei im täglichen Leben in weitaus höherem Maße behindert als es der VN sei. Denn dieser könne sich noch selbst (annähernd voll) versorgen und am sozialen Leben teilnehmen.  

     

    Praxishinweis

    Das Urteil belegt die Schwierigkeit der richtigen Einschätzung der Invalidität speziell außerhalb der Gliedertaxe. Die Gerichte folgen fast stets den Wertungen der Sachverständigen. Nach Meinung des BGH müssen sie das wegen in solchen Fällen meist nicht ausreichend dargelegter eigener Sachkunde sogar. Allerdings halten sich die Sachverständigen aber sehr oft an ihre an sozialversicherungsrechtlichen Kriterien ausgerichteten Handbücher. Diese Bücher kennen eine Kontrolle nach der Gliedertaxe gar nicht und eine Einschätzung der Invalidität nach den konkreten Folgen der verbliebenen Verletzungen auf den VN auch nicht immer. Daran ändert auch nichts, dass diese Folgen nach einem generellen Maßstab zu bewerten sind (OLG Hamm im Besprechungsfall). Es bedarf deshalb in solchen Fällen immer einer Rückfrage bei dem Sachverständigen.  

     

    • Die Schätzung eines Invaliditätsgrads muss sich an der körperlichen Leistungsfähigkeit eines durchschnittlichen (normalen) VN orientieren. Diese ist Vergleichsmaßstab zu den entsprechenden Feststellungen beim VN. Die Tätigkeit in einem ausgeübten Beruf ist für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit in der Unfallversicherung anders als in der Berufsunfähigkeitsversicherung kein maßgebendes Beurteilungskriterium. In der Unfallversicherung ist das Risiko einer unfallbedingten Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit versichert (§ 7 I Abs. 1 AUB 88), nicht jedoch, anders als noch in der AUB 61, das Risiko, berufsunfähig zu werden.

     

    • Die Definition der Invalidität, die allein auf die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit abstellt, zielt auf jeden VN. Das ist unabhängig davon, ob er berufstätig ist oder nicht. § 7 I Abs. 2 c) AUB führt als Maßstab „die normale körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit“ an, deren Beeinträchtigung unter ausschließlicher Berücksichtigung medizinischer Gesichtspunkte zu beurteilen ist. Anhaltspunkte dafür, dass unter „normaler Leistungsfähigkeit“ nicht die eines (normalen) durchschnittlichen VN zu verstehen ist, sondern dass seine eigene individuelle Leistungsfähigkeit (im Beruf? im Sport? beim Musizieren? in sozialen Bereichen?) maßgebend sein könnte, findet der Leser nicht. Allerdings liegt etwa 100-prozentige Invalidität nicht nur vor, wenn der Versicherte gar nicht mehr beruflich arbeiten und auch im Privatbereich keine Leistungen mehr erbringen kann. Eine abweichende Auffassung würde im krassen Widerspruch zu der Gliedertaxe der AUB stehen, wonach schon der Verlust einzelner Glieder oder Sinne zu einer 100-prozentigen Invalidität führen kann. Die Bewertung nach § 7 I Abs. 2 c) AUB 88 muss sich deshalb auch an den Vorgaben der Gliedertaxe orientieren. Genauere Kriterien für die letztlich sehr schwierige Bemessung des Invaliditätsgrads stellt die AUB 88 nicht zur Verfügung (OLG Hamm VersR 93, 472 = r+s 93, 472 und im Besprechungsfall).

     

    • Demzufolge hat nach der Bestimmung der Invalidität nach § 7 I Abs. 2 c) AUB 88 auch eine Kontrollüberlegung dahingehend zu erfolgen, ob sich die zuvor ermittelte Invalidität in das System und in die Wertungen der Gliedertaxe einfügt, oder ob der gefundene Invaliditätsgrad zu einem Wertungswiderspruch führt. Ggf. ist er zu erhöhen (OLG Hamm im Besprechungsfall).

     

    • Im Fall war eine verbesserte Gliedertaxe vereinbart. Ob diese als Kontrollmaßstab anwendbar sein konnte, hat der Senat offen gelassen, weil es darauf nicht ankam. Die Frage ist bislang nicht entschieden. Sie wird auch nur in Extremfällen eine Rolle spielen, etwa wenn bei einem Musiker der Verlust eines Fingers mit 100 Prozent bewertet wird. Dafür wird sie zu verneinen sein.

     

    • Auch wenn die rechtlichen Grundlagen der Invaliditätsschätzung weitgehend geklärt sind, die tatsächlichen Probleme bleiben. Der Kontrollmaßstab Gliedertaxe hilft da auch nicht viel weiter, wie der Besprechungsfall belegt: Auch wer eine Hand verloren hat, kann sich noch selbst (annähernd voll) versorgen und am sozialen Leben teilnehmen. Eine Begründungshilfe bietet der Vergleich deshalb im konkreten Fall nicht. Er gewinnt aber besondere Bedeutung in den Fällen, in denen eine nachvollziehbare Einschätzung sonst kaum möglich wäre, etwa beim Verlust eines paarigen Organs, z.B. einer Niere.

     

    Checkliste: Überprüfung des Sachverständigengutachtens
    • Hat der Sachverständige (des VR oder des Gerichts) die verbliebenen dauerhaften Beschwerden der Partei richtig und vollständig erfasst?
    • Hat er bei der Einschätzung der Invalidität die Maßstäbe der (jeweils anzuwendenden) AUB angewandt?
    • Hat der Sachverständige seinem Gutachten den richtigen Zeitpunkt zugrunde gelegt (Lücke, VK 06, 114)?
    • Gibt eine Kontrolle mit den Wertungen der Gliedertaxe Anlass zu einer abweichenden Einschätzung?
     

    Quelle: Ausgabe 10 / 2007 | Seite 170 | ID 113475