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  • 01.02.2006 | Unfallversicherung

    Unfallversicherung und Alkohol: Was Sie bei der Fallbearbeitung beachten müssen

    von VRiOLG Werner Lücke, Hamm/Telgte

    In der letzten Ausgabe hatten wir über eine Entscheidung des OLG Köln berichtet, nach der von einer Bewusstseinsstörung auszugehen ist, wenn der VN mit mindestens 2,67 Promille einen Klettersteig begeht und dabei verunglückt (VK 06, 16). Dann ist der Versicherungsschutz ausgeschlossen. Die folgenden Checklisten erläutern, was Sie im Themenkreis „Unfallversicherung und Alkohol“ berücksichtigen müssen.  

     

    Checkliste: Unfallversicherung und Alkohol
    • Unfälle infolge von Bewusstseinsstörung sind i.d.R. bedingungsgemäß vom Versicherungsschutz ausgeschlossen (§ 3 Abs. 4 S. 1 AUB 61, § 2 I Abs. 1 AUB 88 = 94, Nr. 5.1.1 AUB 2000).

     

    Diese Ausschlussklausel trägt der Erfahrungstatsache Rechnung, dass bewusstseinsgestörte Menschen einer erhöhten Unfallgefahr unterliegen. Ihre Fähigkeit, Sinneseindrücke schnell und genau zu erfassen, sie zügig zu verarbeiten und auf sie sofort richtig zu reagieren, ist beeinträchtigt. Welchen Umfang diese Gefahrerhöhung hat, hängt jedoch nicht allein vom Maß der Blutalkoholkonzentration, sondern auch von der konkreten Lebenssituation ab, in der sich der VN beim Unfall befindet. Wer sich auf einem Klettersteig befindet, hat größere Schwierigkeiten zu bewältigen als der, der am Strand spazieren geht.

     

    • Für die Teilnahme am allgemeinen Straßenverkehr gelten nach st. Rspr. die für die Kraftfahrtversicherung entwickelten Grundsätze (gute Zusammenfassung nach wie vor Rüther, NZV 94, 457), jedoch mit der Maßgabe, dass bei einer Blutalkoholkonzentration von unter 0,8 Promille eine Bewusstseinsstörung ausnahmslos verneint wird (BGH VersR 88, 951 = r+s 89, 308). Die – mit dieser Maßgabe vorgenommene – Gleichsetzung von Verkehrsuntüchtigkeit und Bewusstseinsstörung wird in der Rechtsprechung nicht hinterfragt. Dabei bestünde dafür hinreichender Anlass (Knappmann, VersR 00, 11). Es kann z.B. wie folgt argumentiert werden:

     

    • Kann der durchschnittliche VN bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht der Bedingungen und Berücksichtigung des dabei erkennbaren Sinnzusammenhangs das wirklich aus der Klausel herauslesen (zu diesem Maßstab zuletzt BGH VersR 05, 976)?

     

    • Es handelt sich um die Auslegung einer Ausschlussklausel. Diese muss eng erfolgen und darf nicht weiter gehen, als der Sinn unter Beachtung des wirtschaftlichen Zwecks und der gewählten Ausdrucksweise dies erfordern. Der VN muss nicht damit rechnen, dass er Lücken im Versicherungsschutz hat, die die Klausel ihm nicht hinreichend verdeutlicht (st.Rspr., BGH VersR 04, 1039 = r+s 04, 385). Kann der VN wirklich erkennen, dass leichte und mittlere Grade einer Alkoholisierung eine Bewusstseinsstörung begründen, und das, obwohl im Kontext gleichrangig Geistesstörungen erwähnt werden?

     

    • Was ist an dieser Klauselfassung transparent (§ 307 Abs. 1 S. 2 BGB)? Transparenz gebietet nicht nur Verständlichkeit. Es müssen auch wirtschaftliche Nachteile und Belastungen so weit erkennbar sein, wie dies nach den Umständen gefordert werden kann (BGH VersR 05, 976). Es wäre dem Bedingungsgeber problemlos möglich gewesen, den vieldeutigen Begriff der Bewusstseinsstörung zu ersetzen oder jedenfalls unter Hinweis auf die Verkehrsuntüchtigkeit im Sinne der Kraftfahrtversicherung zu erläutern.

     

    Absolute Verkehrsuntüchtigkeit wird angenommen  

     

     

     

    • bei Fußgängern oder Beifahrern im Fahrzeug nur nach Lage des Einzelfalls, nicht unter ca. 2 Promille (OLG Karlsruhe VersR 00, 446). Entscheidend ist die Schwierigkeit der Situation, in die sich der Fußgänger begeben hat und die er deshalb zu meistern hatte. Wer schwierige Touren mit hohen Anforderungen unternimmt (Fall OLG Köln VK 06, 16) ist eher verkehrsuntüchtig als ein Fußgänger, der nachts bei einfachsten Verkehrsverhältnissen sein Fahrrad schiebt (Fall OLG Karlsruhe VersR 00, 446 = r+s 00, 438).

     

    • Der Ausschluss greift auch bei absoluter Verkehrsuntüchtigkeit nur, wenn die alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit für den Unfall zumindest mitursächlich war. Hierfür besteht eine tatsächliche Vermutung. Diese kann der VN erschüttern, indem er die ernsthafte und nicht nur theoretische Möglichkeit aufzeigt, dass der Unfall für ihn auch nüchtern oder mit einer Blutalkoholkonzentration von nicht mehr als 0,8 Promille nicht zu vermeiden war. Dafür genügt nicht, dass der Unfall auch einem Nüchternen hätte passieren können. Andererseits ist der Beweis für die Ursächlichkeit des Alkohols erbracht, wenn der Unfall schlechthin nicht anders als mit dem Alkohol zu erklären ist (KG r+s 03, 428 für Fenstersturz).

     

    Die Beweislast für die Voraussetzungen des Ausschlusses liegt beim VR.

     

    • Bei relativer Verkehrsuntüchtigkeit müssen zusätzlich alkoholtypische Fehler und/oder Ausfallerscheinungen nachgewiesen werden und zwar umso weniger, je mehr der Grenzwert erreicht wird (OLG Düsseldorf VersR 04, 1406 = r+s 04, 492).

     

    Die Beweislast des VR besteht auch für diese Umstände. Allerdings muss der VN bei feststehendem Fahrfehler erklären, wie es sonst dazu kommen konnte, wenn der Fehler als solcher als alkoholtypisch eingestuft werden kann. Insoweit trifft ihn eine Darlegungslast.Der VR muss widerlegen, wenn der Umstand den VN zu entlasten geeignet ist. Der VN muss aber keine Sachverhalte erfinden, wenn er dazu keine Angaben machen kann, weil etwa der Fahrer verstorben ist oder an einer Amnesie leidet (LG Potsdam NZV 04, 529).

     

    • Wichtig: Die Typizität auch eines alkoholtypischen Fahrfehlers entfällt, wenn ein anderer Sachverhalt behauptet wird, dieser tatsächlich nicht fern liegt und auch vom VR nicht widerlegt werden kann (OLG Saarbrücken VersR 04, 1262 für Reifenplatzer; OLG Saarbrücken ZfS 05, 349 für Brand nach Unfall bei absoluter Fahruntüchtigkeit und „Qualm gesehen“; BGH r+s 05, 282 für Abkommen von der Fahrbahn und „Glatteis“).

     

    • Alkoholtypisch ist Geradeausfahren in einer Kurve (Tunnelblick), schwerwiegende Unachtsamkeit oder grober Fahrfehler (letzteres bejahend OLG Düsseldorf VersR 04, 1406 = r+s 04, 492 für Ausweichen vor einem Kleintier innerorts).

     

    • Nicht ohne weiteres alkoholtypisch ist das Abkommen von der Fahrbahn auf gerader Strecke oder ein verzeihlicher Fahrfehler (OLG Naumburg VersR 05, 1233 für Überreaktion auf Fahrfehler Dritter beim Überholen; Weitere Beispiele aus der neueren Rechtsprechung Veith/Gräfe, Der Versicherungsprozess, 1. Aufl., § 7, Rn. 110).

     

    • Zum Nachweis der Alkoholisierung und zu Fehlern bei Blutentnahme oder Blutalkoholbestimmung zusammenfassend Veith/Gräfe, a.a.O., Rn. 109; Zur Atemalkoholmessung Burhoff, Verkehrsrecht aktuell 04, 213.

     

    • Alkohol kann auch den Ausschluss für vorsätzliche Ausführung oder des Versuchs von Verbrechen oder Vergehen (z.B. § 2 I Abs. 2 AUB 88) erfüllen.

     

    • Für Medikamente gibt es (derzeit) keine Grenzwerte. Der Nachweis der Verkehrsuntüchtigkeit ist deshalb in jedem Einzelfall nach den Grundsätzen der relativen Verkehrsuntüchtigkeit zu erbringen (OLG Naumburg VersR 05, 1573).

     

    • Falschangaben zum Alkoholgenuss sind gefahrerheblich und können auch eine Leistungsfreiheit des VR wegen Obliegenheitsverletzung begründen.
     

     

    Checkliste: Unfall durch Bewusstseinsstörung

    Lehnt der VR Ansprüche aus der Unfallversicherung wegen alkoholbedingter Bewusstseinsstörung ab, müssen folgende Punkte geprüft werden:  

     

    1. Hat sich der VR rechtzeitig auf den Ausschluss berufen (dazu BGH VersR 06, 57 zum vergleichbaren Problem des § 12 Abs. 3 VVG)?

     

    2. Eignet sich der Fall für die Überprüfung der Rechtsfrage, ob die Klausel wirksam ist?

     

    3. Ist die Blutprobe ordnungsgemäß entnommen worden? Anderenfalls ist eine sachverständige Beurteilung unumgänglich.

     

    4. Ist die Blutprobe nach den standardisierten Regeln ausgewertet worden? Anderenfalls bleibt sie zwar verwertbar, aber nur mit höheren Sicherheitsabschlägen und nach Maßgabe sachverständiger Begutachtung.

     

    5. Kommt ein Fall absoluter Verkehrsuntüchtigkeit in Betracht und ist der Grenzwert überschritten? Steht bei Radfahrern fest, dass sie gefahren sind und nicht etwa das Fahrrad geschoben haben?

     

    6. Ist die alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit in einem solchen Fall zumindest mitursächlich für den Unfall geworden oder kommen Umstände in Betracht, die den Anscheinsbeweis für „Typizität“ des Alkohols für den Unfall im Einzelfall ernsthaft in Frage stellen?

     

    7. Bei relativer Verkehrsuntüchtigkeit:
    • Ist der untere Grenzwert von 0,8 Promille erreicht?
    • Sind alkoholtypische Fahrfehler bzw. ist alkoholtypisches Fehlverhalten des Fußgängers vom VR nachgewiesen?
    • Ist der Fehler im Einzelfall auch durch nicht alkoholtypische Umstände ernsthaft erklärbar? Ggf.: Hat der VR diese widerlegt?
    • Ist die alkoholbedingte Minderung der Verkehrsuntüchtigkeit mitursächlich für den Unfall geworden?

     

    8. Ist der Alkohol unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt als dem der Bewusstseinsstörung von Bedeutung (vorsätzliches Begehen einer Straftat/Obliegenheitsverletzung)?
     

    Quelle: Ausgabe 02 / 2006 | Seite 19 | ID 94354