· Fachbeitrag · Haftpflichtversicherung
Für positive Kenntnis des Versicherungsfalls reicht ein Kennenmüssen nicht aus
von VRiOLG a.D. Werner Lücke
Die in § 2 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 VVG a.F. geregelte Freiheit vom Leistungsversprechen einer Rückwärtsversicherung setzt - ebenso wie eine für rückwirkenden Versicherungsschutz vertraglich vereinbarte Klausel „frei von bekannten Verstößen“ - positive Kenntnis des VN davon voraus, dass bereits ein Versicherungsfall eingetreten oder ein ihn begründender Pflichtenverstoß geschehen ist. Deren Feststellung kann nicht durch die Erwägung ersetzt werden, der VN habe die betreffenden Umstände kennen müssen (BGH 5.11.14, IV ZR 8/13, Abruf-Nr. 173162). |
Sachverhalt
Die VN hatte die Streithelferin S, die ein Architekturbüro betrieb, mit der Generalplanung für ein Bauvorhaben beauftragt. Zugleich hatte sie eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen, in die S als Mitversicherte eingeschlossen war und die auch Ansprüche der VN gegen Mitversicherte umfasste. Die Versicherung sollte rückwirkend Versicherungsschutz bieten „frei von bekannten Verstößen“. S waren unter diese Klausel fallende Planungsfehler unterlaufen. Weitere Fehler unterliefen S später bei der Planung der Bauwerksgrube und der Bauwerksgründung.
Das LG hat beide auf die Feststellung von Versicherungsschutz gerichtete Klageanträge abgewiesen. Das OLG hat die Berufung der VN zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Abweisung des ersten Klagantrags gerichtet hat. Im Übrigen hat es das Urteil des LG aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung über den zweiten Klagantrag an die Vorinstanz zurückverwiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die Streithelferin der VN deren Klagebegehren vollen Umfangs weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision hatte Erfolg. Der BGH hat dabei in seiner Entscheidung zwei wichtige Fragen beantwortet.
- Die in § 2 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 VVG a.F. geregelte Freiheit vom Leistungsversprechen einer Rückwärtsversicherung setzt ebenso wie die von den Parteien für den rückwirkenden Versicherungsschutz vereinbarte Klausel „frei von bekannten Verstößen“ eine positive Kenntnis des VN davon voraus, dass bereits ein Versicherungsfall eingetreten oder ein ihn begründender Pflichtenverstoß geschehen ist. Wie der Senat für die - eine Anzeigeobliegenheit begründende - Kenntnis des VN vom Eintritt des Versicherungsfalls entschieden hat, kann deren Feststellung nicht durch die Erwägung ersetzt werden, der VN habe die betreffenden Umstände kennen müssen (BGH VersR 08, 905 Rn. 18 ff.; BGH VersR 67, 56), denn das kennzeichnet lediglich einen Fahrlässigkeitsvorwurf.
- Für die hier in Rede stehenden Regelungen gilt nichts anderes. Sie bezwecken, den VN bei Vereinbarung einer Rückwärtsversicherung an einer bewussten Manipulation des versicherten Risikos zu hindern. Er soll nicht in die Lage versetzt werden, rückwirkenden Versicherungsschutz für einen Versicherungsfall zu erlangen, von dem er weiß, dass er bereits eingetreten ist. Eine Unkenntnis von einem bereits eingetretenen Versicherungsfall - und sei sie auch grob fahrlässig - birgt diese Manipulationsgefahr hingegen nicht.
- Es reicht deshalb nicht aus, wenn dem VN lediglich Tatsachen bekannt sind, die zwar den möglichen Schluss zulassen oder sogar nahelegen, ein Versicherungsfall könne bereits eingetreten sein. Solange der VN einen solchen Schluss nicht zieht, etwa weil er andere Ursachen für ein ihm bekanntes Schadensbild vermutet oder er keine ausreichenden Überlegungen über die Schadensursache anstellt, hat er noch keine positive Kenntnis vom Versicherungsfall. Ein gegen ihn gerichteter Vorwurf erschöpft sich dann allenfalls darin, den sich aufdrängenden Schluss auf die Ursache fahrlässig - oder sogar grob fahrlässig - nicht gezogen und deshalb das Vorliegen eines Versicherungsfalls nicht erkannt zu haben.
MERKE | Anders liegt es nur, wenn der Tatrichter aufgrund der Umstände des Einzelfalls anhand des Beispiels eines durchschnittlichen VN - beweiswürdigend - die Überzeugung gewinnt und darlegt, der VN habe den sich aufdrängenden Schluss auf die naheliegende Schadensursache tatsächlich gezogen und deshalb erkannt, dass dem Schaden Tatsachen zugrunde liegen, die ein versichertes Ereignis beschreiben.
- Die kassatorische Entscheidung des Berufungsgerichts über den zweiten Klageantrag kann ebenfalls keinen Bestand haben. Dabei kann offenbleiben, ob das Berufungsgericht einen wesentlichen Mangel des landgerichtlichen Verfahrens im Sinne von § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO (BGH NJW-RR 12, 1207; VersR 10, 1666) und die Erforderlichkeit einer aufwendigen Beweisaufnahme ausreichend dargelegt hat. Jedenfalls lassen die Ausführungen des Berufungsgerichts nicht erkennen, dass es das ihm in § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO eingeräumte Ermessen, eine eigene Sachentscheidung zu treffen oder ausnahmsweise den Rechtsstreit an das Erstgericht zurückzuverweisen, pflichtgemäß ausgeübt hat. Es hätte dabei in Erwägung ziehen müssen, dass die Zurückverweisung an die Vorinstanz in aller Regel zu einer weiteren Verzögerung und Verteuerung des Rechtsstreits, im Streitfall zudem zu dessen Aufspaltung führt und den schützenswerten Interessen der Parteien entgegenstehen kann.
MERKE | Da die Beweisaufnahme und Sachentscheidung nach § 538 Abs. 1 ZPO grundsätzlich dem Berufungsgericht obliegen, ist die Aufhebung und Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO auf Ausnahmefälle beschränkt, in denen die Durchführung des Verfahrens in der Berufungsinstanz zu noch größeren Nachteilen für die Parteien führte als die Zurückverweisung der Sache an das erstinstanzliche Gericht.
Praxishinweis
Das Urteil des BGH ist in seinen beiden Aspekten für die Praxis von großer Bedeutung. Es bezeichnet Dinge, die in der Praxis der Berufungsgerichte an der Tagesordnung sind, als das, was sie sind: Fehler. Und es bietet eine Handhabe, dieses den Gerichten rechtzeitig aufzeigen und belegen zu können.
- Die „Kenntnisfrage“ ist nicht nur für die Rückwärtsversicherung wichtig. Weitaus wichtiger ist sie insbesondere für die Vermögensschadenhaftpflichtversicherung. Die Bedeutung liegt darin, dass der übliche Streitpunkt einer wissentlichen Pflichtverletzung ebenfalls positive Kenntnis der verletzten Pflicht voraussetzt (Prölss/Martin, AVB Vermögen, § 4 Rn. 12). Das lässt sich nicht damit begründen, dass der durchschnittliche VN (Notar, Anwalt, Architekt usw.) die Pflicht kennt, nicht einmal damit allein, dass es sich um Grundlagenwissen handelt. Erforderlich ist vielmehr,
- dass gerade auch der VN die Pflicht kannte,
- das Gericht eine solche Überzeugung gewinnt und
- dies auch begründen kann.
- Die Beweislast für den Ausschluss liegt in vollem Umfang beim VR. Den VN trifft bei feststehendem objektivem Pflichtenverstoß aber eine sekundäre Darlegungslast dafür, wie es zu dem Verstoß kommen konnte (Prölss/Martin, a.a.O. Rn. 13).
MERKE | In solchen Fällen ist es deshalb unerlässlich, dies mit dem Mandanten abzuklären und entsprechend vorzutragen. Dabei muss die verständliche Scheu zurücktreten, sich etwa auf Unerfahrenheit, Unkenntnis oder Übersehen wegen Überarbeitung o.Ä. zu berufen. Für ein wissentliches Abweichen ist nämlich nicht nur positive Kenntnis der verletzten Pflicht, sondern darüber hinaus auch das Bewusstsein erforderlich, pflichtwidrig zu handeln (BGH VersR 01, 1103). Ohne derartigen Vortrag besteht stets die Gefahr, dass das Gericht aus dem „man weiß das“ auf „auch der VN wusste das“ schließt.
- Interessant ist auch, dass und mit welcher Begründung der BGH den kassatorischen Teil des Urteils des OLG aufgehoben hat. Ein Hinweis auf das besprochene Urteil des BGH sollte, wenn eine drohende Zurückverweisung verhindert werden soll, eigentlich fast immer ausreichen. Es sind nur ausnahmsweise Fälle denkbar, bei denen die Durchführung des Verfahrens in der Berufungsinstanz zu noch größeren Nachteilen für die Parteien führt, als die Zurückverweisung der Sache an das erstinstanzliche Gericht.
MERKE | Insoweit kommt es nur auf die Interessen der Parteien und nicht auf die der Berufungsrichter oder der Anwaltschaft an.
Weiterführende Hinweise
- Teilurteil ist bei Klagehäufung nach Vertragsrücktritt und -anfechtung unzulässig: OLG Nürnberg VK 14, 93.