· Fachbeitrag · Berufsunfähigkeitszusatzversicherung
In diesem Zeitpunkt tritt die vollständige Berufsunfähigkeit ein
| VR und VN sind sich oft nicht darüber einig, zu welchem Zeitpunkt eine Berufsunfähigkeitsversicherung eintritt. Die entsprechenden Versicherungsbedingungen sind da in vielen Fällen nicht aussagekräftig. Wie sie auszulegen sind, musste jüngst das KG entscheiden. |
Sachverhalt
Der VN erlitt am 29.7.16 erlitt einen Arbeitsunfall. Seitdem ist er nicht mehr arbeitsfähig. Er unterhält beim VR eine Berufsunfähigkeitsversicherung mit Nachversicherungsgarantie. Darin wird ihm das Recht eingeräumt, bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen den Versicherungsumfang der bestehenden Berufsunfähigkeitsversicherung ohne erneute medizinische Risikoprüfung zu erhöhen.
Am 11.10.16 stellte der VN einen Antrag auf Inanspruchnahme der Nachversicherungsgarantie (NVG) zur Erhöhung des Versicherungsschutzes um 100 Prozent auf den maximal möglichen Betrag. Der VR übersandte ihm daraufhin den Nachtrag mit Wirkung zum 1.11.16. Als Vertragsgrundlage sind dort ebenfalls die “Allgemeine Bedingungen für die Berufsunfähigkeitsversicherung (AVB-HV)” vereinbart. Diese lauten auszugsweise wie folgt:
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1.1 Wann beginnt der Versicherungsschutz? Der Versicherungsschutz beginnt, wenn der Vertrag geschlossen ist, jedoch nicht vor dem … vereinbarten, im Versicherungsschein angegebenen Versicherungsbeginn.
1.2 Wann liegt vollständige Berufsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen vor? 1.2.1 Vollständige Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit … 6 Monate ununterbrochen außerstande war oder voraussichtlich 6 Monate ununterbrochen außerstande ist, ihren zuletzt ausgeübten Beruf … auszuüben.
2. Leistungen 2.1.1 Wird die versicherte Person während der Dauer dieser Versicherung, frühestens nach Beginn des Versicherungsschutzes, berufsunfähig, erbringen wir … folgende Leistungen: 2.1.2 Wir zahlen die zum Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit vereinbarte Rente …
2.4 Ab wann werden Leistungen gewährt? 2.4.1 Der Anspruch auf Leistungen entsteht mit Beginn des Kalendermonats nach Eintritt der Berufsunfähigkeit (= Beginn des sechsmonatigen Zeitraums gemäß Abschnitt 1.2.1) … |
Anfang Dezember 2016 meldete der VN einen Leistungsanspruch wegen Berufsunfähigkeit an. Der VN erkannte die Berufsunfähigkeit mit Beginn am 29.7.16 an und bewilligte Rentenleistungen und Beitragsbefreiung ab dem 1.8.16.
Der VN vertritt die Auffassung, bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit sei erst sechs Monate nach dem Unfall am 29.1.17 eingetreten. Daher sei eine weitere Berufsunfähigkeitsrente nach Maßgabe des zum 1.11.16 erhöhten Versicherungsschutzes zu leisten. Das LG hat seine entsprechende Klage abgewiesen.
Entscheidungsgründe
Der VN hatte auch vor dem KG keinen Erfolg (26.5.20, 6 U 75/19, Abruf-Nr. 217115). Das KG stellt insoweit fest:
Wird in den Bedingungen für die Berufsunfähigkeitsversicherung die Frage, wann vollständige Berufsunfähigkeit vorliegt, dahin beantwortet, dass sie vorliegt, “wenn die versicherte Person infolge Krankheit ... 6 Monate ununterbrochen außerstande war oder voraussichtlich 6 Monate ununterbrochen außerstande ist, ihren zuletzt ausgeübten Beruf auszuüben” (Nr. 1.2.1 AVB), so tritt der Versicherungsfall auch bei der ersten Alternative (“6 Monate ... war”) bereits mit dem Beginn des Sechsmonatszeitraums ein. Für diese Auslegung aus der Sicht des durchschnittlichen VN spricht auch die weitere Bestimmung in Nr. 2.4.1 AVB, wonach der Anspruch auf Leistungen “mit Beginn des Kalendermonats nach Eintritt der Berufsunfähigkeit (= Beginn des sechsmonatigen Zeitraums gemäß Abschnitt 1.2.1)” beginnt.
Damit hat der VN keinen Anspruch auf Zahlung einer weiteren Berufsunfähigkeitsrente. Der Versicherungsschutz aus der Nachversicherung hatte bei Eintritt der ‒ als solchen unstreitigen ‒ Berufsunfähigkeit des VN noch nicht begonnen (Nr. 1.1 AVB). Der VN war vielmehr bereits vor ‒ und nicht während ‒ der Dauer der Nachversicherung berufsunfähig geworden (Nr. 2.1.1 AVB).
Relevanz für die Praxis
Ob der VN aus der Nachversicherung eine Berufsunfähigkeitsrente beanspruchen kann, hängt ‒ wie auch unter Nr. 2.1.1 AVB in Übereinstimmung mit § 172 Abs. 1 VVG ausdrücklich geregelt ‒ davon ab, ob der Versicherungsfall, also die Berufsunfähigkeit des VN, vor oder nach Beginn der Nachversicherung eingetreten ist.
Der Beginn der Nachversicherung steht durch die Historie (Antragstellung, Ausstellung des Versicherungsscheins mit darin urkundlich fixiertem Versicherungsbeginn) eindeutig fest. Demgegenüber steht der Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit des VN in Frage.
Im vorliegenden Fall weicht die unter Nr. 1.2.1 AVB vereinbarte Definition von Berufsunfähigkeit von anderen Klauselwerken, wie auch von der Legaldefinition in § 172 Abs. 2 VVG ab. Nach dieser Vorschrift ist berufsunfähig, wer seinen zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersentsprechendem Kräfteverfall ganz oder teilweise voraussichtlich auf Dauer nicht mehr ausüben kann. Die Musterbedingungen des Gesamtverbands der VR (im Folgenden: MB GDV) sehen in § 2 Abs. 1 BU alternativ vor, dass statt der Prognose “voraussichtlich dauernd” auch andere Zeiträume für die Prognose vereinbart werden können. Dabei ist der vorliegend vereinbarte Beurteilungszeitraum von “voraussichtlich 6 Monaten” nicht gleichbedeutend mit “voraussichtlich dauernd”. Er ist vielmehr ein Aliud, mit welchem das herkömmliche und in § 172 VVG übernommene Merkmal “voraussichtlich dauernd” zugunsten des VN nicht konkretisiert, sondern ersetzt wird und der VR auf das Erfordernis der voraussichtlichen Dauerhaftigkeit verzichtet (vgl. Richter, Private Berufsunfähigkeitsversicherung, G III).
In § 2 Abs. 2 BU MB GDV ist überdies als mögliche Vereinbarung vorgesehen, dass anstelle einer ungünstigen Prognose auch die Fortdauer einer über eine bestimmte Frist (von meist 6 Monaten) andauernden Arbeitsunfähigkeit als Berufsunfähigkeit gilt. Eine solche Klausel, die eine Fiktion zugunsten des VN darstellt, dem auf Dauer kein Nachteil dadurch entstehen soll, dass eine Prognose der Dauerhaftigkeit nach § 2 Abs. 1 BU MB GDV nicht gestellt werden kann, lag etwa den Entscheidungen des BGH vom 14.6.89 (VersR 89, 903), 21.3.90 (VersR 90, 729) und 17.2.93 (VersR 93, 562) zugrunde. In diesem Fall gilt jedoch nur die Fortdauer des Zustands als Berufsunfähigkeit. Der Versicherungsfall tritt demnach erst sechs Monate nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit ein (vgl. BGH VersR 90, 729, 730). Aus dem Terminus “gilt … als” schließt der BGH (a. a. O.), dass es sich um eine unwiderlegbare Vermutung handelt, woraus die Bezeichnung “vermutete” oder auch “fingierte Berufsunfähigkeit” erwachsen ist.
Als weitere (Bedingungs-)Änderung zugunsten des VN haben viele VR in den von ihnen angebotenen Produkten entsprechend der “2. Bemerkung” zu § 2 BU MB GDV formuliert: “Wenn abweichend von Absatz 2 rückwirkend von einem früheren Zeitpunkt an geleistet werden soll, sind die Bedingungen entsprechend zu ändern bzw. zu ergänzen” und damit eine Vorverlegung des Zeitpunkts des Eintritts des Versicherungsfalls und/oder des Beginns der Leistungspflicht aufgenommen. Ist in den Bedingungen für den Fall, dass der Versicherte sechs Monate ununterbrochen außerstande gewesen ist, seinen Beruf auszuüben, etwa bestimmt, dass “die Fortdauer dieses Zustands von Beginn an als Berufsunfähigkeit” gilt, wird dadurch der Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls selbst festgelegt, und zwar rückwirkend auf den Beginn des Zeitraums sechsmonatiger ununterbrochener Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit (vgl. BGH 18.12.19, IV ZR 65/19). Der Einschub “von Beginn an” unterscheidet die Klausel von anderen Bedingungen, nach denen “die Fortdauer dieses Zustands als Berufsunfähigkeit” gilt und der Versicherungsfall demnach erst 6 Monate nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit eintritt (vgl. BGH VersR 90, 729, 730).
Weiterführender Hinweis
- Das gilt zur Fälligkeit von Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung: Arend-Böllert, Aydinlar, VK 18, 28