· Fachbeitrag · Schadenersatz
9.300 EUR Fahrtkosten für anderweitigen Erwerb?
| Spricht der ArbG eine unwirksame Kündigung aus und hat der ArbN zur Erzielung anderweitigen Verdiensts während des Annahmeverzugszeitraums höhere Fahrtkosten als beim fortgeführten Arbeitsverhältnis, besteht kein Anspruch auf Schadenersatz gegen den ArbG auf Ersatz dieser Fahrtkosten. |
Sachverhalt
Nachdem der ArbG dem ArbN fristlos kündigte, obsiegte dieser im Kündigungsschutzprozess erst- und zweitinstanzlich. Der Arbeitsweg des ArbN zum Arbeitsplatz beim ArbG betrug 13 bis 16 km (einfache Strecke). Sein Arbeitsweg zum ArbG, bei dem er anderweitigen Erwerb erzielte, betrug 45 bis 46 km für die kürzeste Straßenverbindung (einfache Strecke). Der ArbN fuhr regelmäßig 57 bis 62 km u. a. über die Autobahnen (einfache Strecke). Er ist der Ansicht, dass der alte ArbG ihm die zusätzlichen Fahrtkosten für die Erzielung anderweitigen Erwerbs im Wege des Schadenersatzes ersetzen müsse. Für die 317 Fahrten beansprucht er daher knapp über 9.300 EUR auf Basis einer Kilometerpauschale von 0,30 EUR.
Entscheidungsgründe
Das Arbeitsgericht Bonn (24.4.24, 5 Ca 1149/23, Abruf-Nr. 242718) wies den Antrag des ArbN auf Schadenersatz bezüglich der Fahrtkosten zur Erzielung anderweitigen Erwerbs ab. Die Entscheidung des BAG (28.11.19, 8 AZR 125/18) zum Schadenersatz bei unwirksamer Versetzung könne nicht auf den streitgegenständlichen Sachverhalt übertragen werden.
Unabhängig davon, ob man den Ausspruch einer unwirksamen Kündigung ‒ ggf. unter bestimmten weiteren Voraussetzungen ‒ als Pflichtverletzung des ArbG einordne, würden Aufwendungen zur Erzielung anderweitigen Erwerbs jedenfalls keinen ersatzfähigen Schaden nach Ausspruch einer Kündigung darstellen. Sie seien vielmehr Aufwendungen im Eigeninteresse, die der gekündigte ArbN ‒ im Zweifel unter Anrechnung etwaiger Steuervorteile (§ 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG) ‒ unter Umständen als Abzugsposten von dem anderweitig erzielten Erwerb geltend machen könne.
Ein Schaden ‒ als Anspruchsvoraussetzung im Sinne des von dem ArbN geltend gemachten Anspruchs aus § 611a Abs. 1, § 280 Abs. 1 BGB ‒ sei stets ein unfreiwilliger Nachteil. Demgegenüber sei eine Aufwendung ein grundsätzlich freiwilliger Aufwand. Die Fahrtkosten während des Annahmeverzugs habe der ArbN freiwillig auf sich genommen; es handele sich also um Aufwendungen. Es gäbe keine gegenüber dem ArbG bestehende Verpflichtung des ArbN, anderweitigen Erwerb zu erzielen. Er wähle den Arbeitsort zudem eigenverantwortlich. Aus § 11 Nr. 2 KSchG oder sozialrechtlichen Pflichten gegenüber der Bundesagentur für Arbeit (siehe etwa § 2 Abs. 5 SGB III) folge nichts anderes. Auf die Erzielung anderweitigen Erwerbs habe der ArbG nach Ausspruch einer unwirksamen Kündigung keinen Anspruch. § 11 Nr. 2 KSchG sehe als Rechtsfolge einer ausgeschlagenen zumutbaren Arbeitsgelegenheit lediglich eine Anrechnung des böswillig unterlassenen Verdiensts vor.
Hinzu komme, dass im durchgeführten Arbeitsverhältnis Fahrten zur regelmäßigen Arbeitsstätte ohne ausdrückliche abweichende Regelung nicht, etwa analog § 670 BGB, vom ArbG zu erstatten seien. Es handele sich um dem Privatbereich des ArbN zuzurechnende Ausgaben in Abgrenzung zu Fahrtkosten infolge einer unwirksamen Versetzung (so BAG 28.11.19, 8 AZR 125/18). Es sei kein Grund dafür ersichtlich, im Falle einer unwirksamen Kündigung hiervon abzuweichen und den gekündigten ArbN im Verhältnis zu anderen ArbN zu privilegieren. Insbesondere gelte dies unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der gekündigte ArbN bei Verlängerung seines Arbeitswegs während des Annahmeverzugszeitraums häufig höhere Werbungskosten geltend machen könne und ihm ‒ möglicherweise ‒ ein (ergänzender) Abzugsposten von dem anderweitig erzielten Erwerb zur Verfügung stehe.
Ferner sehe § 11 KSchG nach unwirksamer Kündigung ‒ anders als § 615 S. 2 BGB im Grundfall des Annahmeverzugs im laufenden Arbeitsverhältnis ‒ keine Anrechnung desjenigen vor, was der ArbN infolge des Annahmeverzugs erspare. In den Fällen des § 11 KSchG profitiere der ArbN anders als in anderen Konstellationen des Annahmeverzugs davon, dass der ArbG ihm ersparte Fahrtkosten nicht als Abzugsposten bei der nachzuzahlenden Vergütung nach Ablauf der Kündigungsfrist entgegenhalten könne. Umgekehrt entspreche es im Zweifel der Billigkeit wie auch den hinter der Vorschrift stehenden Vereinfachungs- und Streitvermeidungsgedanken, von der Berücksichtigung von Fahrtkosten insgesamt, also auch umgekehrt bei der Entstehung von Mehrkosten, abzusehen und es bei der steuerlichen Regelung bewenden zu lassen.
Relevanz für die Praxis
Ob bei offensichtlich rechtswidrigen und/oder schikanösen Kündigungen Abweichendes gelten könnte, lässt die Kammer mangels Entscheidungserheblichkeit dahinstehen. Auch in diesem Fall wäre jedoch nach der Differenzhypothese ein etwaiger Steuervorteil im Zweifel auf den Schadenersatzanspruch anzurechnen. Dies bedeutet für den ArbN-Vertreter, im Zweifel von der Geltendmachung von Fahrtkosten für die Ermöglichung anderweitigen Erwerbs als Schadenersatz abzusehen.