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  • · Fachbeitrag · AGG

    Berührung in der Intimsphäre kann auch ohne sexuelle Motivation zur Kündigung führen

    | Werden absichtlich primäre oder sekundäre Geschlechtsmerkmale eines anderen berührt, ist dies sexuell bestimmt im Sinne des § 3 Abs. 4 AGG. Es handelt sich um einen Eingriff in die körperliche Intimsphäre. Es kommt nicht darauf an, ob die Berührung sexuell motiviert ist. |

     

    Sachverhalt

    Der ArbG betreibt ein Stahlwerk. Der ArbN war dort seit 1991 als Arbeiter beschäftigt. Seit 2005 gilt beim ArbG die Betriebsvereinbarung „Respektvolle Zusammenarbeit“. Deren Nr. 5 lautet:

     

    „Maßnahmen bei Verstößen gegen die Grundsätze der BV

    ArbG und Betriebsrat beraten gemeinsam über zu treffende Maßnahmen. Auf Grundlage des Beratungsergebnisses ergreift der ArbG angemessene Maßnahmen, wie zum Beispiel Belehrung, Verwarnung, Abmahnung, Umsetzung, Versetzung, Kündigung. Im Übrigen gelten die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen.“

     

    Am 22.10.14 arbeitete der ArbN mit zwei Leih-ArbN zusammen. Einer der Leih-ArbN meldete zwei Tage später seinem Vorarbeiter, der ArbN habe ihn von hinten schmerzhaft in den Genitalbereich gegriffen. Anschließend habe er darüber Bemerkungen gemacht. Der ArbG hörte die Leih-ArbN und den ArbN zu dem Vorwurf an. Der ArbN bestritt ein Fehlverhalten. Nachdem der Betriebsrat angehört wurde, kündigte der ArbG das Arbeitsverhältnis fristlos und vorsorglich ordentlich. Dem Betriebsrat hatte er unter anderem mitgeteilt, dass eine vorsorgliche Untersuchung des Leih-ArbN im Krankenhaus stattgefunden habe.

     

    Der ArbN wandte sich gegen beide Kündigungen. Er habe den Mitarbeiter der Fremdfirma unabsichtlich am Hinterteil berührt. Im Übrigen rechtfertige selbst das ihm vorgeworfene Verhalten keine Kündigung. Der ArbG habe auch einen ArbN nicht gekündigt, der im Jahr 2000 einem Kollegen schmerzhaft in den Genitalbereich gegriffen habe. Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Das LAG gab ihr statt.

     

    Entscheidungsgründe

    Die Revision ist nach Ansicht des BAG (29.6.17, 2 AZR 302/16, Abruf-Nr. 196082) begründet. Mit seinem Verhalten habe der ArbN während der Arbeit eine Tätlichkeit zulasten eines im Betrieb der ArbG eingesetzten Leih-ArbN begangen. Dies stelle einen erheblichen Verstoß gegen die ihm gegenüber dem ArbG obliegende Pflicht zur Rücksichtnahme auf dessen Interessen nach § 241 Abs. 2 BGB dar. Das Verhalten sei „an sich“ geeignet, einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB zur fristlosen Kündigung zu bilden.

     

    Der ArbG habe ein eigenes schutzwürdiges Interesse daran, dass die Zusammenarbeit auch mit in seinem Betrieb eingesetzten Leih-ArbN nicht durch tätliche Übergriffe beeinträchtigt werde. Das Verhalten des ArbN erfülle ferner in zweifacher Hinsicht den Tatbestand einer sexuellen Belästigung nach § 3 Abs. 4 AGG. Auch dabei handelt es sich gemäß § 7 Abs. 3 AGG um eine Verletzung vertraglicher Pflichten, die „an sich“ als wichtiger Grund nach § 626 Abs. 1 BGB geeignet sei (BAG 20.11.14, 2 AZR 651/13, Abruf-Nr. 174710). Der ArbG sei nach § 12 Abs. 3 AGG verpflichtet, auch die in seinem Betrieb eingesetzten Leih-ArbN vor sexuellen Belästigungen zu schützen.

     

    Eine sexuelle Belästigung nach § 3 Abs. 4 AGG liege vor, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird. Hierzu gehören auch sexuell bestimmte körperliche Berührungen und Bemerkungen sexuellen Inhalts. Im Unterschied zu § 3 Abs. 3 AGG können auch einmalige sexuell bestimmte Verhaltensweisen den Tatbestand einer sexuellen Belästigung erfüllen (BAG 20.11.14, 2 AZR 651/13, Abruf-Nr. 174710). Ob eine Handlung sexuell bestimmt ist, hänge damit nicht allein vom subjektiv erstrebten Ziel des Handelnden ab. Eine sexuelle Motivation des Täters sei nicht notwendig erforderlich. Vielmehr ist eine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz häufig Ausdruck von Hierarchien und Machtausübung und weniger von sexuell bestimmter Lust.

     

    Die Äußerung des ArbN, der Mitarbeiter habe „dicke Eier“, sei in diesem Zusammenhang eine entwürdigende Bemerkung sexuellen Inhalts im Sinne des § 3 Abs. 4 AGG. Selbst wenn eine solche Erklärung in einem anderen Kontext als Anerkennung von Entschlossenheit oder Mut des Betroffenen zu verstehen sein möge, sei hierfür im vorliegenden Zusammenhang kein Raum. Die durch den vorausgegangenen körperlichen Übergriff bewirkte Demütigung des Leih-ArbN werde durch die entsprechende Äußerung des ArbN vielmehr noch verstärkt. Die vorherige körperliche Belästigung werde sprachlich manifestiert und der Betroffene dadurch erneut zum Objekt der vermeintlichen Dominanz des ArbN gemacht.

     

    Sowohl die körperliche als auch die verbale sexuelle Belästigung seien im Streitfall objektiv erkennbar unerwünscht nach § 3 Abs. 4 AGG gewesen. Für die körperliche Berührung ergebe sich dies bereits aus der erheblichen Verletzung der Intimsphäre des Betroffenen sowie der Empfindlichkeit der betroffenen Körperregion. Für die verbale Belästigung folge dies aus ihrem direkten Zusammenhang mit dem unmittelbar vorangegangenen körperlichen Eingriff.

     

    Relevanz für die Praxis

    Bei der Prüfung des § 626 Abs. 1 BGB, ob dem ArbG eine Weiterbeschäftigung des ArbN bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, muss abgewogen werden: Das Interesse des ArbG an dem sofortigen Ende des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des ArbN an dessen Fortbestand. Folgende Punkte aus diesem Fall sind dabei ebenfalls für die Praxis wichtig und sollten unbedingt beachtet werden:

     

    • 1. Wie ist der Vortrag des ArbN zu würdigen, dass der ArbG im Jahr 2000 einem anderen Kollegen bei einem ähnlichen Vorfall nicht gekündigt hat?
    • Dadurch trat keine „Selbstbindung“ ein. Im Verhältnis von ArbN untereinander scheidet mit Blick auf Kündigungen wegen Pflichtverletzungen der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz weitgehend aus (BAG 16.7.15, 2 AZR 85/15, Abruf-Nr. 145173). Eine mittelbare Auswirkung auf die Interessenabwägung hat der Gleichbehandlungsgrundsatz nur bei gleicher Ausgangslage. Eine solche hat indes auch der ArbN ‒ etwa in Bezug auf das Verhalten nach der Pflichtverletzung ‒ im vorliegenden Fall nicht behauptet. Zudem wurde beim ArbG 2005 die Betriebsvereinbarung „Respektvolle Zusammenarbeit“ abgeschlossen. Nach deren Nr. 2.2 sind unter Mobbing auch Drohungen und Erniedrigungen sowie Beschimpfungen und verletzende Behandlungen zu verstehen.

     

    • 2. Wie zumutbar ist hier die Abmahnung?
    • Die Zumutbarkeit einer Abmahnung im Streitfall folgt entgegen der Auffassung des ArbN nicht aus Nr. 5 der Betriebsvereinbarung „Respektvolle Zusammenarbeit“. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Bestimmung sind die dort genannten angemessenen Maßnahmen lediglich Beispielsfälle von Handlungsmöglichkeiten des ArbG bei Verstößen gegen die Grundsätze der Vereinbarung. Sie stellen keine Rangfolge dar, nach der die auf der nächsten Stufe benannte Maßnahme erst infrage käme, wenn die erste wahrgenommen und erfolglos geblieben ist.

     

     

    Weiterführende Hinweise

    • Illoyales Verhalten kann sofort den Job kosten: BAG in AA 17, 117
    • Ermahnung, Abmahnung und Kündigung: Wronewitz in AA 16, 213
    Quelle: Ausgabe 11 / 2017 | Seite 193 | ID 44940557