· Fachbeitrag · Rechtsprechungsübersicht
Die Top-Six der Rechtsprechung 2011
| Welche wichtigen Urteile aus dem Jahr 2011 sollte der Prozessvertreter auch im neuen Jahr 2012 abrufbereit haben? „Arbeitsrecht aktiv“ hat für Sie die wichtigsten Top-Six für den Schreibtisch zusammengefasst. |
Rechtsprechungsübersicht / Die Top-Six 2011 |
1. EGMR: Whistleblowing - Kündigung einer ArbN nach Strafanzeige ungerechtfertigt Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 21.7.11 einstimmig festgestellt, dass die Kündigung einer Altenpflegerin wegen der Kritik an den Zuständen im Heim rechtswidrig gewesen ist. Zwar sei die von der ArbN erstattete Strafanzeige gegen ihre ArbG als „Whistleblowing“ zu bewerten, die hierauf gestützte außerordentliche Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB stelle hingegen einen Eingriff in die durch Art. 10 AEUV garantierten Rechte dar. Die ArbN hatte im Dezember 2004 Strafanzeige wegen besonders schweren Betrugs gegen die ArbG, die Heime der Gesundheits- und Altenpflege betreibt, erstattet. Begründung: Die ArbG leiste wissentlich nicht die in der Werbung versprochene hochwertige Pflege. Nach Einstellungen der Ermittlungen durch die StA wurde die ArbN dann im Januar 2005 gekündigt. Nachdem die ArbN ein Flugblatt mit besonders schweren Vorwürfen gegen die ArbG verteilt hatte, sprach diese eine außerordentliche Kündigung aus. Der EGMR ging in seiner Entscheidung davon aus, die ArbN habe in gutem Glauben gehandelt, trotz regelmäßiger Kontrollen durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen sei eine Strafanzeige nicht unnötig gewesen. Frühere Beschwerden hätten nicht zu Verbesserungen geführt. Das Interesse der Öffentlichkeit an Information über Mängel in der Altenpflege überwiege darüber hinaus das Interesse des Unternehmens am Schutz seines Rufs und seiner Geschäftsinteressen. Die Entscheidung des EGMR steht damit diametral entgegengesetzt zu den Entscheidungen des LAG und des BAG als Vorinstanzen und führte dazu, dass die Bundesrepublik der ArbN 10.000 EUR für erlittenen immateriellen Schaden und 5.000 EUR für entstandene Kosten nach Art. 41 AEUV zahlen muss (EGMR 21.7.11, 28274/08 - Heinisch, Abruf-Nr. 112572, AA 11, 147). |
2. Beschränkung des Schadenersatzanspruchs gegenüber ArbN bei grob fahrlässigem Unfall Ein Schadenersatzanspruch des ArbG gegenüber dem bei ihm angestellten Lkw-Fahrer ist auch im Fall grober Fahrlässigkeit im Rahmen der Verursachung des Unfalls regelmäßig auf drei Bruttomonatsgehälter zu beschränken. Dies gilt selbst in dem Fall, in dem bei der Unfallverursachung eine Blutalkoholkonzentration von 0,94 Promille vorlag. Das LAG München ging in der Entscheidung zwar von grober Fahrlässigkeit des ArbN bei der Unfallherbeiführung aus, da dieser die Gefahren alkoholisierten Führens von Kfz kannte und einem absoluten Alkoholverbot unterlag. Gleichwohl sei die Haftungshöchstsumme auch bei derartigen Vorfällen zu beschränken, da sich die allgemeine Rechtsüberzeugung in den vergangenen 20 Jahren gewandelt habe. Hergeleitet wird diese Einschränkung aus dem Gebot der Existenzsicherung nach Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG (LAG München 27.7.11, 11 Sa 319/11, Abruf-Nr. 113314, AA 11, 187). |
3. Kündigung wegen Orchesterverkleinerung/Unternehmerische Organisationsentscheidung Wird einem Orchestermusiker gekündigt, weil das Orchester verkleinert wird, ist diese Entscheidung durch die Gerichte nicht auf künstlerische Zweckmäßigkeit hin überprüfbar. |
Der 2. Senat des BAG stellt klar, dass bei einer beschlossenen und tatsächlich durchgeführten unternehmerischen Organisationsentscheidung eine Vermutung dafür spricht, dass sie aus sachlichen Gründen und ohne Rechtsmissbrauch erfolgt ist. Die offensichtliche Unsachlichkeit, Unvernünftigkeit oder Willkür der arbeitgeberseitigen Maßnahme muss der ArbN im Streitfall darlegen und beweisen. Auch das Konzept, nur ein Rumpforchester beizubehalten, ist nachvollziehbar, auch wenn es unter künstlerisch-ästhetischen Gesichtspunkten nicht überzeugen mag. Entfallen sämtliche vergleichbare Arbeitsplätze (im entschiedenen Fall die der Hornisten), steht der Kündigung auch eine Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG nicht entgegen (BAG 27.1.11, 2 AZR 9/10, Abruf-Nr. 112363, AA 11, 139). |
4. Auslegung einer Freistellungserklärung unter Anrechnung auf Urlaub Die Erklärung des ArbG, den ArbN unter Anrechnung auf dessen Urlaubsansprüche nach Kündigungsausspruch von der Arbeitsleistung freizustellen, ist aus Sicht des ArbN auszulegen. Wird im November eines Jahres die Kündigung und gleichzeitig eine Freistellung „ab sofort unter Anrechnung der Urlaubstage“ erklärt, ist nicht hinreichend erkennbar, ob damit der volle Urlaubsanspruch für das laufende und das folgende Jahr oder nur der Zeitraum bis zum Ablauf der Kündigungsfrist gemeint sein soll. Der 9. Senat hat im entschiedenen Fall im Zweifel für den ArbN entschieden und nur die Erfüllung der Urlaubsansprüche bis zum Ablauf der Kündigungsfrist angenommen. Dies führte nach erfolgreicher Kündigungsschutzklage zum Bestehen eines Resterholungsurlaubsanspruchs (BAG 17.511, 9 AZR 189/10, Abruf-Nr. 111712, AA 11, 118). |
5. Wirkame außerordentliche Kündigung wegen religiös bedingter Grußformel Eine innere Notlage ist seitens eines tiefgläubigen ArbN darzulegen und zu beweisen, wenn er die Nichtbefolgung einer Dienstanweisung hierauf stützen will. Gegen eine Notlage spricht das Angebot des Verzichts auf das in Frage stehende Verhalten im arbeitsgerichtlichen Streitverfahren. Im entschiedenen Fall hatte der ArbN sich im Rahmen einer Call-Center-Tätigkeit von den Gesprächspartnern stets mit den Worten „Jesus hat Sie lieb, vielen Dank für Ihren Einkauf bei QVC und einen schönen Tag“ verabschiedet. Dieses Verhalten hielt er trotz entsprechender Unterlassungsanweisungen der ArbG aufrecht. Das LAG Hamm hat klargestellt, dass nachvollziehbar dargelegt werden müsse, warum eine Arbeitsanweisung den ArbN in Glaubens- bzw. Gewissensfreiheit beeinträchtigt. Dies erfordert das Aufzeigen des Spannungsfelds eines bestimmten religiösen Kodex (LAG Hamm 20.4.11, 4 Sa 2230/10, Abruf-Nr. 111661, AA 11, 102). |
6. Fristen für Fortsetzungsverlagen gegenüber dem Betriebserwerber Wenn ein ArbN von dem Erwerber des Betriebs seiner vorherigen ArbG die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses verlangt, hat er für dieses Verlangen die Fristen zu beachten, die für den Widerspruch gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses einzuhalten wären. Dies bedeutet, dass das Fortsetzungsverlangen innerhalb der einmonatigen Widerspruchsfrist nach § 613a Abs. 6 BGB zu stellen ist. Wenn hingegen kein oder ein unwirksames Unterrichtungsschreiben vorliegt, läuft weder diese Frist noch eine andere Frist, innerhalb derer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auf dem Klageweg ausgeschlossen wäre. Dies gilt zumindest bis zur Grenze der rechtlichen Verwirkung von Ansprüchen, für die im entschiedenen Fall hingegen keine Anhaltspunkte gegeben waren (BAG 27.1.11, 8 AZR 326/09, Abruf-Nr. 110600, AA 11, 51). |
Weiterführender Hinweis
- Sie suchen die wichtigsten Urteile aus 2010? Kein Problem: Die Top-Six der Rechtsprechung 2010 (Nichtberücksichtigung der Beschäftigungszeiten vor dem 25. Lebensjahr, Kein Verfall des Schwerbehindertenzusatzurlaubs nach langer AU, Wende im Fall „Emmely“, Geschlechtsdiskriminierende Stellenausschreibung, Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit, Kündigung von Kirchenangestellten wegen Ehebruchs) in AA 11, 40, auch online in Ihrem kostenlosen myIWW-Bereich unter www.iww.de (einmalige Registrierung erforderlich).