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  • · Fachbeitrag · Rechtsprechungsübersicht

    Die Schätzung im Besteuerungsverfahren: Rechtsprechungsübersicht zu § 162 AO

    von RA Dr. Michael Tsambikakis, FA StrR und RA Dr. Dario Buchholz, Köln

    | Die steuerliche Schätzung beschäftigt die Finanzgerichte regelmäßig. Ihre Rechtsprechung muss man kennen, wenn man die Unterschiede zur Schätzung im Steuerstrafverfahren verstehen möchte. Letztere richtet sich nach § 261 StPO und ist in der Praxis durchaus fehleranfällig. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über die aktuelle Finanzgerichtsrechtsprechung zu § 162 AO . In einem Folgebeitrag (PStR 1/2015) wird die Rechtsprechung der Strafgerichte zur Schätzung im Steuerstrafverfahren ergänzt. |

    1. Grundlagen der Schätzung gemäß § 162 AO

    Die Schätzung ist eine besondere Art der Sachverhaltsfeststellung mit reduziertem Beweismaß (Klein/Rüsken, AO, 12. Aufl., § 162 Rn. 3). Damit überhaupt geschätzt werden darf, muss zunächst ein Schätzungsanlass in Gestalt einer tatsächlichen Ungewissheit vorliegen (Franzen/Gast/Joecks, 7. Aufl., § 370 Rn. 58). Häufig wird aufgrund des missverständlichen Wortlauts der Vorschrift fälschlich angenommen, dass die Schätzung sich auf Bemessungsgrundlagen oder gar die Steuer selbst beziehe. Geschätzt werden dürfen indes nur die Grundlagen der Besteuerung, also Tatsachen. Keinesfalls entbindet die Schätzung von einer korrekten Rechtsanwendung. In der Praxis hat sich eine Mehrzahl von Schätzmethoden herausgebildet (ausführliche Übersicht bei Flore/Tsambikakis, Steuerstrafrecht, 2013, S. 994 ff.), deren Anwendung auf den Einzelfall in der Rechtspraxis immer wieder Gegenstand von Streitigkeiten ist. Im Folgenden werden die neueren Urteile zur Schätzung dargestellt; die Sachverhaltsdarstellung und Urteilsgründe sind dabei auf die hier relevanten Ausführungen zu § 162 AO gekürzt worden.

    2. Rechtsprechungsübersicht

    • Rechtsprechung der Finanzgerichte
    • 1. BFH 3.11.10, I R 4/10 (NV), Abruf-Nr. 142964, DB 11, 1257
    • Keine Schätzung der Motivation einer Nichtrückkehr bei Grenzpendlern

    Sachverhalt:Die Klägerin war bei einer Schweizer Bank angestellt und bezog aus diesem Arbeitsverhältnis Einkünfte, welche der Quellenbesteuerung in der Schweiz unterlagen. Sie lebte 35 km von ihrer Arbeitsstelle entfernt in Deutschland. Die Klägerin trug vor, aufgrund langer Arbeitszeiten im Jahr 2004 an 93 Tagen nach ihrer Arbeit nicht nach Deutschland zurückgekehrt zu sein, sondern in der Schweiz übernachtet zu haben. Das Finanzamt erkannte lediglich 28 Nichtrückkehrtage als berufsbedingt an. Das FG sah erstinstanzlich die berufsbedingte Nichtrückkehr als nicht erwiesen an, die Klägerin sei insoweit beweispflichtig. Daraufhin hat es die Zahl der weiteren berufsbedingten Nichtrückkehrtage wie von der Klägerin beantragt auf 65 geschätzt.

    Entscheidung:Soweit das FG erstinstanzlich die Schätzung der Zahl der Rückkehrtage für möglich hielt, hat der BFH dem widersprochen. § 162 Abs. 1 AO erlaube lediglich die Schätzung quantitativer Größen, nicht jedoch eine Schätzung rein qualitativer Besteuerungsmerkmale. Das FG habe verkannt, dass vorliegend nicht die Zahl der Nichtrückkehrtage im Streit sei, sondern die subjektive Motivation der Klägerin, nämlich ob sie aus beruflichen Gründen nicht an ihren Wohnort zurückgekehrt ist.

     

    Praxishinweis:Quantitative und qualitative Besteuerungsgrundlagen sind daher penibel zu trennen - mag dies auch im Einzelfall schwierig sein. Dazu muss man wissen, dass die Rechtsprechung des BFH nicht konsistent ist, und in der Vergangenheit bereits die Schätzung rein qualitativer Größen für zulässig erachtet hat (Übersicht bei Klein/Rüsken, AO, 12. Aufl., § 162 Rn. 9a).

    • 2. FG Rheinland-Pfalz 24.8.11, 2 K 1277/10, Abruf-Nr. 113652, PStR 12, 107
    • Keine Schätzung aufgrund von Auffälligkeiten beim „Chi-Quadrat-Test“

    Sachverhalt:Die Klägerin betrieb einen Friseursalon, dessen Gewinn mittels Betriebsvermögensvergleich ermittelt wurde. Die für 2005 bis 2007 durchgeführte Außenprüfung des Finanzamts nahm eine Strukturanalyse der Kassenbücher vor. Diese führte zu einer „Manipulationswahrscheinlichkeit von 100 %“. Infolgedessen nahm das Finanzamt eine Zuschätzung von 3.000 EUR auf die jährlichen Umsatzerlöse vor.

     

    Entscheidung: Die vom Finanzamt angeführte Manipulationswahrscheinlichkeit von 100 % könne allein nicht zur Zuschätzungsbefugnis gemäß § 162 Abs. 1 AO führen. Der Test belege für sich genommen noch keine Unrichtigkeit der Buchführung. Darüber hinaus sei er vorliegend ohnehin ungeeignet gewesen, da der Friseursalon der Klägerin eine Preisliste geführt habe, welche an sich bereits das überdimensional häufige Auftreten einzelner Zahlen bedingt habe (Föhnfrisur 15 EUR; Färben 25 EUR; Föhnen 40,50 EUR).

     

    Praxishinweis:Der „Chi-Quadrat-Test“ beruht auf der Annahme, dass jeder Mensch bewusst oder unbewusst „Lieblingszahlen“ habe: Das überproportionale Auftreten bestimmter Zahlen könne daher etwa eine manipulierte Buchführung entlarven. Auffälligkeiten beim „Chi-Quadrat-Test“ sind jedoch allein noch kein hinreichender Schätzungsanlass. Darüber hinaus kann die Methode angreifbar sein, wenn das betreffende Geschäftsmodell die Häufung bestimmter Zahlen bereits aufgrund seiner Preisgestaltung bedingt.

    • 3. BFH 5.2.11, X B 138/13 (NV), Abruf-Nr. 142967, BFH/NV 14, 720
    • Schätzung aufgrund des Verlusts von Unterlagen durch das Finanzamt

    Sachverhalt:Der Kläger betrieb als Einzelunternehmer einen Autoreifenhandel. Er ermittelte seinen Gewinn im Wege der Einnahmenüberschussrechnung. Ferner war er beherrschender Gesellschafter von sechs französischen Kapitalgesellschaften. Im Jahr 1999 wurden im Rahmen einer Steuerfahndungsprüfung beim Kläger zahlreiche Unterlagen wie Rechnungs- und Frachtbelege beschlagnahmt. Weil diese Belege nicht vollständig waren, schätzte das Finanzamt zu, was zu einer erheblich höheren Steuerbelastung führte. Der Aufschlagsatz für vom Kläger angegebene Reifenpreise wurde dabei auf 45 % geschätzt. Während des Klageverfahrens stellte sich heraus, dass die Steuerfahndung bereits sämtliche Akten zu diesem Vorgang vernichtet hatte. Der Kläger trug vor, sämtliche

    Unterlagen der Steuerfahndung ausgehändigt zu haben, daher seien ihm wesentliche Verteidigungsmöglichkeiten genommen. Das FG setzte aufgrund des Fehlens jeglicher Unterlagen den Aufschlagsatz auf 25 % fest.

     

    Entscheidung: Aufgrund der Pflichtverletzung der Finanzverwaltung sei das Beweismaß im vorliegenden Fall erhöht. Eine Zuschätzung von 25 % entbehre einer Grundlage. Indes sei vorliegend eine griffweise Schätzung denkbar. Dabei sei die Höhe der Schätzung wesentlich anhand des Maßes der Pflichtverletzung der jeweiligen Beteiligten zu bestimmen. Insoweit hat das Gericht das Verfahren zur weiteren Sachverhaltsermittlung an das FG zurückverwiesen.

     

    Praxishinweis:Kann der Steuerpflichtige sich aufgrund einer unberechtigten Aktenvernichtung durch die Finanzbehörden nicht hinreichend verteidigen, so ist dieses Verschulden bei der Höhe der Schätzung zu berücksichtigen.

    • 4. FG Köln 18.9.10, 7 K 1379/11, Abruf-Nr. 142968, EFG 14, 2
    • Offensichtliche Unrichtigkeit einer Schätzung

    Sachverhalt:Die Klägerin erzielte gewerbliche Einkünfte aus einem Einzelhandel mit Damenoberbekleidung. Sie reichte für das Steuerjahr 2005 eine Bilanz mit einem ausgewiesenen Gewinn von 66.041 EUR ein und erklärte Hinzurechnungen gemäß § 4 Abs. 4a EStG von 5.599 EUR. In dem Gewerbesteuererklärungsvordruck trug der Steuerberater der Klägerin in der entsprechenden Spalte den handschriftlichen Hinweis ein: „vergleiche Bilanzakte“. Da für 2005 keine Einkommensteuererklärung abgegeben wurde, schätzte das Finanzamt den Gewinn aus Gewerbebetrieb auf 20.000 EUR, wobei die oben genannten Unterlagen übersehen wurden. Nach Durchführung einer Außenprüfung im Jahr 2009 berichtigte das Finanzamt den Steuerbescheid gemäß § 129 AO und legte einen Gewinn von 66.041 EUR zugrunde.

     

    Entscheidung: Der Ansatz eines schätzungsweisen Gewinns von 20.000 EUR anstatt des von der Steuerpflichtigen selbst ermittelten Gewinns von 66.041 EUR stellt nach Ansicht des FG eine offenbare Unrichtigkeit dar, die gemäß § 129 AO berichtigt werden dürfe. Es sei für die Klägerin offensichtlich gewesen, dass das Finanzamt die von ihr eingereichten Unterlagen übersehen habe. Auch liege hier ein § 129 AO unterfallender „mechanischer Fehler“ vor, kein - dieser Vorschrift nicht unterfallender - Tatsachen- oder Rechtsirrtum.

     

    Praxishinweis:Ein aufgrund einer Schätzung ergangener Steuerbescheid kann auch dann gemäß § 129 AO berichtigt werden, wenn er sich durch ein für den Steuerpflichtigen erkennbares Versehen zu seinen Gunsten auswirkt. Dies gilt nicht, wenn dem Finanzamt bei der Schätzung ein Tatsachen- oder Rechtsirrtum unterläuft.

    • 5. FG München 26.7.12, 5 K 2812/11, Abruf-Nr. 142969, juris
    • Willkürliche Schätzung

    Sachverhalt: Die Klägerin erzielte in den Jahren 2004 bis 2006 ausschließlich Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung. Im Jahr 2006 betrugen diese etwa 72.000 EUR. Für 2007 stellte das Lagefinanzamt gesondert und einheitlich Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung von 35.265 EUR fest. Nachdem sie für das Jahr 2007 zunächst keine Einkommensteuererklärung abgegeben hatte, schätzte das Finanzamt zusätzlich die Einkünfte der Klägerin aus Kapitalvermögen auf 19.204 EUR sowie die aus nichtselbstständiger Arbeit auf 20.080 EUR.

    Zur Begründung wurde angeführt, dass die Klägerin jedenfalls im Jahr 2003 Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit erzielt habe. Aufgrund der erheblich gesunkenen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sei davon auszugehen, dass die Klägerin zur Aufrechterhaltung ihres Lebensstandards wieder einer unselbstständigen Tätigkeit nachgehe.

     

    Entscheidung:Nach Auffassung des FG hat die Klägerin im Streitjahr keine Einkünfte aus Kapitalerträgen oder nichtselbstständiger Arbeit erzielt. Das FG hat den Steuerbescheid aufgrund der willkürlichen Schätzung für nichtig erklärt. Willkürlich sei eine Schätzung auch dann, wenn das Schätzungsergebnis trotz vorhandener Möglichkeiten den Sachverhalt aufzuklären und die Schätzungsgrundlagen zu ermitteln, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und gegebenenfalls welche Schätzungserwägungen angestellt wurden. Die Schätzung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung und aus Kapitalvermögen sei unter Beachtung dieser Vorgaben nicht nachvollziehbar und objektiv willkürlich. Sie weiche derart krass von den tatsächlichen Gegebenheiten ab und verlasse den zulässigen Schätzungsrahmen so eklatant, dass der Verdacht einer unzulässigen Strafschätzung naheliege.

     

    Praxishinweis:Nimmt das Finanzamt willkürlich Schätzungen vor, ist der entsprechende Steuerbescheid gemäß § 125 AO nichtig.

    • 6. FG München 30.8.11, 10 V 735/11, Abruf-Nr. 142970, juris
    • Rechtswidrigkeit bei Verstoß gegen grundlegende mathematische Regeln

    Sachverhalt: Der Antragsteller erzielte gewerbliche Einkünfte aus dem Betrieb eines China-Restaurants. Nach einer Außenprüfung nahm das Finanzamt Gewinnzuschätzungen vor, unter anderem da die eingereichten Gewinnermittlungen Schwankungen enthielten, die nicht plausibel waren, und Kassenunterlagen nicht vollständig aufbewahrt worden waren. Das Finanzamt hat dabei im Rahmen einer Nachkalkulation zur Ermittlung des durchschnittlichen Rohgewinnaufschlags das arithmetische Mittel aus dem addierten prozentualen Rohgewinnaufschlag fünf einzelner Speisen ermittelt (436,42 % + 442,38 % + 191,27 % + 520,45 % + 185,37 % = 1.775,90; 1.775,90 / 5 = 354,8 %). Es hat so einen Wert von 354,8 % errechnet und der Schätzung zugrunde gelegt.

     

    Entscheidung:Das FG hält die Schätzung für zu hoch. Die Berechnung des Rohgewinnaufschlagsatzes sei fehlerhaft. Die Errechnung eines arithmetischen Mittels aus Prozentzahlen mit unterschiedlichen Grundgrößen sei unzulässig. Eine solche Vorgehensweise sei lediglich bei metrischen Daten mathematisch korrekt. Bei zutreffender Berechnung betrage der Rohgewinnaufschlag hier lediglich 299,72 %.

     

    Praxishinweis: Ein Verstoß gegen Grundregeln der Mathematik macht die Schätzung rechtswidrig.

    • 7. BFH 28.9.11, X B 35/11 (NV), Abruf-Nr. 142971, BFH/NV 12, 177
    • Keine Schätzung durch das Finanzgericht ohne vorheriges rechtliches Gehör

    Sachverhalt: Die Klägerin erzielte Einkünfte aus selbstständiger Arbeit als Krankengymnastin. Sie verfügte dabei über eine Zusatzausbildung für therapeutisches Reiten. Seit 1999 erklärte die Klägerin daneben einen Verlust aus ihrem Gewerbebetrieb, einer „Pferdepension“. Das Finanzamt berücksichtigte die

    erklärten Verluste für die Jahre 2004 bis 2006 nicht mehr, da es eine Einkunftserzielungsabsicht nicht hat feststellen können. Das FG gab der Klage erstinstanzlich teilweise statt und ging davon aus, dass die Klägerin einen Gewerbebetrieb im einkommenssteuerrechtlichen Sinne geführt habe. Dabei hat es jedoch im Wege der Schätzung den Privatnutzungsanteil auf ein Drittel geschätzt und die erklärten Einkünfte insoweit erhöht.

     

    Entscheidung: Da die Quantifizierung des privaten Nutzungsanteils während des gesamten Verfahrens nicht zur Sprache gekommen sei, habe das FG nicht ohne weitere Ermittlungen eine Schätzung vornehmen dürfen. Vielmehr habe das FG die Klägerin zunächst zu substantiierten Angaben über die Höhe des Privatnutzungsanteils auffordern müssen. Ein hinreichender Schätzungsanlass sei daher mangels des Versuchs von Ermittlungen zu den Besteuerungsgrundlagen nicht gegeben.

     

    Praxishinweis:Das FG schätzt gemäß § 96 Abs. 1 FGO i.V. mit § 162 AO. Es muss dabei ebenso wie das Finanzamt vor einer Schätzung die Möglichkeiten zur Erforschung des Sachverhalts ausschöpfen, dies gebietet schon der Grundsatz der Amtsaufklärung.