· Fachbeitrag · Akteneinsicht
Das müssen Sie zum Anspruch auf Akteneinsicht in die Bedienungsanleitung eines Messgeräts wissen
Dem Verteidiger eines Betroffenen ist bei auf die Anwendung eines standardisierten Messverfahrens gestützten Verkehrsordnungswidrigkeitsvorwürfen im Rahmen des ihm zustehenden Akteneinsichtsrechts auch Einsicht in die dem Messverfahren zugrunde liegende Bedienungsanleitung zu gewähren, die dafür im Original oder in Kopie zu den Gerichtsakten zu nehmen ist (KG 7.1.13, 3 Ws (B) 596/12 - 162 Ss 178/12, Abruf-Nr. 130357). |
Sachverhalt
Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Seine Rechtsbeschwerde hat er u.a. mit der Verfahrensrüge begründet. Das AG habe sein Recht auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren verletzt. Es habe dem Verteidiger keine Akteneinsicht in die bei den Gerichtsakten befindliche Bedienungsanleitung für das Messgerät gewährt. Zudem habe es die Verteidigung i.S. des § 338 Nr. 8 StPO unzulässig beschränkt, indem es den auf die mangelnde Akteneinsicht gestützten Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung abgelehnt habe. Die Rechtsbeschwerde hatte Erfolg.
Entscheidungsgründe
Das KG stellt klar, dass dem Verteidiger Akteneinsicht auch in die Bedienungsanleitung des Messgeräts zu gewähren ist. Das Akteneinsichtsrecht ergibt sich aus § 46 Abs. 1 OWiG, § 147 StPO. Es umfasst auch Schriftstücke und Unterlagen, die für den Betroffenen als belastend oder entlastend von Bedeutung sein könnten. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Aktenvollständigkeit und dient der Wahrung des rechtlichen Gehörs des Betroffenen. Nur das Einsichtsrecht des Verteidigers in die Bedienungsanleitung eines Geschwindigkeitsmessgeräts ermöglicht es ihm und dem Betroffenen, die Polizeibeamten, die die Messung vorgenommen haben, als Zeugen zu der ordnungsgemäßen Durchführung der Messung zu befragen und die ordnungsgemäße Bedienung des Geräts nachzuvollziehen und zu überprüfen. Daher ist die Bedienungsanleitung, falls sie sich nicht bereits ohnehin bei den Akten befindet, in Original oder Kopie auf ein entsprechendes Akteneinsichtsgesuch des Verteidigers zu den Akten zu nehmen, damit dieser sie im Rahmen der ihm zu gewährenden Akteneinsicht einsehen kann.
Auch das Urheberrecht des Herstellers des Messgeräts an der Bedienungsanleitung steht einer Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung durch den Verteidiger des Betroffenen oder der Fertigung einer entsprechenden Kopie für die Gerichtsakte nicht entgegen. Zwar kann den für technische Messgeräte herausgegebenen, oft einen Umfang von 100 Seiten oder mehr umfassenden, teilweise komplizierten Bedienungsanleitungen nicht von vornherein die Eigenschaft als urheberrechtlich geschütztes Werk im Sinne von § 2 UrhG abgesprochen werden. Nach § 45 Abs. 1 und 3 UrhG ist es jedoch zulässig, einzelne Vervielfältigungsstücke von Werken zur Verwendung in Verfahren vor einem Gericht, einem Schiedsgericht oder einer Behörde herzustellen oder herstellen zu lassen.
Unter den gleichen Voraussetzungen wie die Vervielfältigung ist auch die Verbreitung, öffentliche Ausstellung und öffentliche Wiedergabe der Werke zulässig. Unter einem Verfahren i.S. von § 45 Abs. 1 UrhG versteht man dabei den Vorgang vor dem Gericht, der einer Entscheidungsfindung für einen nicht rein gerichtsinternen Vorgang zur Regelung eines Einzelfalls vorangeht. Die Verwertung muss dabei der Verwendung in diesem Verfahren dienen. Berechtigt zur Verwertung des Werks der in § 45 UrhG genannten Art ist dabei jeder, der das Werk zur Verwendung in einem Verfahren vor einem Gericht benutzt. Das sind neben den Parteien auch deren Prozess- bzw. Verfahrensbevollmächtigte und sonstige Verfahrensbeteiligte, z.B. Gutachter oder Zeugen. Daher ist es auch in Verfahren vor einem Gericht oder einer Behörde zulässig, der Verfahrensakte eine Kopie der Bedienungsanleitung beizufügen, obwohl die Bedienungsanleitung als urheberrechtlich geschütztes Werk anzusehen ist.
Praxishinweis
Akteneinsicht und kein Ende? Richtig, aber jetzt ist Licht am Ende des Tunnels. Denn mit dem Beschluss des KG liegt die zweite obergerichtliche Entscheidung vor, in der ein umfangreiches Akteneinsichtsrecht des Verteidigers auch in die Bedienungsanleitung des eingesetzten Messgeräts bejaht wird (dazu schon OLG Naumburg VA 13, 13). Die Entscheidung ist zutreffend und entspricht der h.M. in Rechtsprechung und Literatur (vgl. dazu Cierniak, zfs 12, 664; Burhoff, VA 12, 50; VRR 11, 250; 12, 130; Goecke, DAR 12, 157; Bölck, DAR 11, 419). Von Bedeutung ist die Entscheidung vor allem, weil sich das KG als erstes OLG mit den urheberrechtlichen Fragen befasst hat und - wahrscheinlich sehr zum Missfallen der Verwaltungsbehörden und der Gerätehersteller - verneint hat, dass gegenüber dem Akteneinsichtsrecht auf ein (angeblich) entgegenstehendes Urheberrecht hingewiesen werden kann/darf. Dem steht § 45 UrhG entgegen (s.a. Cierniak a.a.O.; Burhoff a.a.O.; AG Osnabrück zfs 12, 533).
Recht haben und Recht bekommen, sind immer zwei Dinge. Übertragen auf die Akteneinsicht bedeutet das, dass der Erfolg einer Verfahrensrüge, mit der geltend gemacht wird, dass das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers und dadurch auch der Betroffene in seinem Recht auf ein faires Verfahren verletzt ist, davon abhängt, dass die Verfahrensrüge im vorhergehenden Verfahren ausreichend vorbereitet werden muss. Im Wesentlichen gilt (vgl. auch KG, a.a.O.; OLG Naumburg, a.a.O.; Cierniak, zfs 12, 664, 672):
Checkliste / Das müssen Sie bei der Verfahrensrüge beachten |
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Seit unserem Schwerpunktbeitrag in VA 12, 50 sind zahlreiche weitere (amts-)gerichtliche Entscheidungen ergangen, die wir nachfolgend für Sie zusammengestellt haben. Bei der Auswertung der Tabellen ist - ebenso wie bei der Zusammenstellung in VA 12, 50 - darauf zu achten, dass die Entscheidungen weitgehend alle ohne Kenntnis des Beitrags von Cierniak in zfs 12, 664 ergangen sind. Soweit Akteneinsicht abgelehnt oder beschränkt wird, sind sie so nicht mehr haltbar.
Rechtsprechungsübersicht / Bedienungsanleitung/Art und Weise der Akteneinsicht | |
Form der Akteneinsicht | Gericht/Anmerkung |
Akteneinsichtsrecht (AER) in Bedienungsanleitung (BA), ggf. sind Unterlagen zur Akte zu nehmen. |
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AE gewährt durch Übersenden einer Kopie; kein Urheberrecht des Herstellers. |
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AE, Hersteller kann Übersendung einer Kopie der BA nicht von der Zahlung einer Schutzgebühr abhängig machen. | AG Gießen 4.1.13, 5602 OWi 311/12, Abruf-Nr. 130353. |
Keine AE durch Übersenden einer Kopie, ggf. steht Urheberrecht des Herstellers entgegen. |
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Keine AE, entweder Einsicht bei der Verwaltungsbehörde oder käuflicher Erwerb der BA beim Hersteller oder Information in Fachbüchern. | AG Detmold 4.2.12, 4 OWi 989/11. |
Rechtsprechungsübersicht / Sonstige Unterlagen | |||
Gericht/Fundort | Unterlage | AER? | Anmerkung |
LG Aachen VA 12, 68 | Weitere Messunterlagen | BA ja | Der Verteidiger hat keinen aus § 147 StPO ableitbaren Anspruch auf Beiziehung aller möglichen Unterlagen, denen aus seiner Sicht unmittelbare oder auch nur entfernte potenzielle Beweisbedeutung zukommt. Er kann einen Beweisantrag stellen. |
AG Ansbach Abruf-Nr. 130352 | Messprotokoll, Testfotos von Beginn und Ende der Messung, Lebensakte in Kopie und Beschilderungspläne in Kopie | AER ja | Der Verteidiger muss in der Lage sein, bereits im Vorverfahren durch einen nicht behinderten Zugang auf Messdaten und Messunterlagen - ggf. auch mit Hilfe eines privat hinzugezogenen und von ihm mit den notwendigen Anknüpfungstatsachen ausgestatteten Sachverständigen - die konkreten Anhaltspunkte erst einmal zu ermitteln, die er dann der Bußgeldstelle oder dem Gericht vortragen kann, um die Amtsaufklärungspflicht auszulösen. |
AG Aurich AG Leutkirch VRR 12, 235 AG Westerstede VRR 13, 3 | Lebensakte | AER nein | Lebensakte muss nicht geführt werden. |
AG Cottbus StraFo 12, 409 AG Hagen VA 12, 157 | Lebensakte | AER ja | Wenn keine Lebensakte geführt wird, sind Auskünfte über Nacheichungen, Reparaturen usw. zu erteilen. |
AG Schleiden 13.7.12, 13 OWi 92/12 [b] AG Heidelberg 28.1.13, 3 OWi 779/12, Abruf-Nr. 130386 | Messfilm | AER ja | Vgl. aber auch AG Schleiden VA 13, 14, wonach die Messdaten aber nicht in einem lesbaren Format zur Verfügung gestellt werden müssen. |
AG Westerstede VRR 13, 39 | Referenzvideo | AER ja |
Weiterführende Hinweise
- Umfangreich zum Thema Akteneinsicht in Bedienungsanleitung und Messunterlagen: Burhoff, VA 12, 50 (mit Rechtsprechungsübersicht und Argumentationssammlung)
- zu den Anforderungen an die Begründung der Verfahrensrüge nach verweigerter Akteneinsicht: OLG Hamm VA 12, 196