· Fachbeitrag · Berufsunfähigkeitszusatzversicherung
BU liegt vor, wenn früherer Tätigkeitsbereich überwiegend nicht mehr erbracht werden kann
| Berufsunfähigkeit liegt nach einer Entscheidung des OLG Stuttgart vor, wenn dem Versicherten diejenigen Tätigkeiten, die seine frühere Arbeitstätigkeit ausgemacht haben, aufgrund ihrer Komplexität sowie der körperlichen und geistigen Anforderungen nahezu nicht mehr möglich sind, und ihm ansonsten nur noch kleine frühere Tätigkeitsbereiche verbleiben, die noch ausgeübt werden können. |
Sachverhalt
Aufgrund einer Hirnschädigung befand sich die VN mehrfach in Rehabilitationsmaßnahmen. Nach einer mehr als einjährigen Arbeitsunfähigkeit vereinbarte sie mit ihrem Arbeitgeber, ab dem 1.7.09 ihre wöchentliche Arbeitszeit auf 20 Stunden zu reduzieren.
Der VR lehnte die geltend gemachte Berufsunfähigkeitsrente ab. Die VN sei nicht bedingungsgemäß berufsunfähig. Maßgeblich sei insofern das Kriterium der Arbeitszeit. Danach seien die von der VN geltend gemachten Einschränkungen nicht so gravierend, dass eine zumindest 50-prozentige Berufsunfähigkeit angenommen werden könnte. Zudem müsse sich die VN auf die nunmehr ausgeübte Tätigkeit verweisen lassen, für die Maßstab die spätere Teilzeitbeschäftigung sei.
Entscheidungsgründe
Das OLG Stuttgart stellt klar, dass bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit vorliegt (31.3.16, 7 U 149/15, Abruf-Nr. 188394).
Nach § 1 Abs. 1 BUZV liegt Berufsunfähigkeit vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfall, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mindestens sechs Monate ununterbrochen zumindest 50 Prozent außerstande ist, ihrem zuletzt vor Eintritt dieses Zustandes ausgeübten Beruf - so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war - nachzugehen.
Grundlage für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit ist demnach der Beruf, der zuletzt vor Eintritt der Berufsunfähigkeit ausgeübt worden ist. Dies ist hier - anders als der VR annimmt - eine Tätigkeit in Vollzeit. Es kann nicht auf die Teilzeittätigkeit abgestellt werden, wie sie aufgrund des geänderten Arbeitsvertrags mit 20 Wochenarbeitsstunden ausgeübt wird.
- Hier wurde die Arbeitszeit aus krankheitsbedingten Gründen reduziert. Auch der Arbeitsplatz wurde leidensbedingt umgestellt und als „Schonarbeitsplatz“ ausgestaltet. Daher kann diese neu gestaltete Tätigkeit nicht Grundlage der Beurteilung der Berufsunfähigkeit sein (vgl. dazu BGH VersR 95, 159).
- Wenn der Versicherte gerade wegen der Beeinträchtigung, die zur Berufsunfähigkeit führt, eine weniger belastende Stellung angenommen hat, ist regelmäßig auf den zuvor ausgeübten Beruf abzustellen. Denn eine Tätigkeit i. S. von § 1 Abs. 1 BUZV, wie sie ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, gibt es im Rahmen der neuen leidensbedingten Tätigkeit gar nicht (vgl. dazu Benkel/Hirschberg, ALB/BUZ, 2. Aufl., BUZ 2008, § 2 Rn. 49; Lücke in Prölss/Martin, VVG, 29. Aufl., BuVAB, § 2 Rn. 27).
Berufsunfähigkeit im privatversicherungsrechtlichen Sinn ist ein Tatbestand, der sich nicht allein aus gesundheitlichen Komponenten zusammensetzt. Deshalb ist die Beeinträchtigung der allgemeinen Leistungsfähigkeit oder der Belastbarkeit nicht schlechthin maßgeblich. Es geht vielmehr darum, wie sich gesundheitliche Beeinträchtigungen in einer konkreten Berufsausübung auswirken. Bei dieser Beurteilung muss bekannt sein, wie das Arbeitsfeld des VN tatsächlich beschaffen ist und welche Anforderungen es an ihn stellt:
- Entscheidend ist dabei, wie die Erwerbstätigkeit des VN konkret ausgestaltet war, als er unfähig wurde, sie so fortzusetzen, wie er sie in gesunden Tagen ausgeübt hat.
- Hinsichtlich des Eintritts der Berufsunfähigkeit kommt es darauf an, ob der VN prägende, wesentliche Einzelverrichtungen seiner Tätigkeit nicht mehr ausüben kann.
Im vorliegenden Fall sind der VN aufgrund der Komplexität und der körperlichen und geistigen Anforderungen diejenigen Tätigkeiten, die ihre frühere Arbeitstätigkeit ausgemacht haben, nahezu nicht mehr möglich. Ihr verbleiben im Bereich der Projektarbeit nur kleine Tätigkeitsbereiche, die sie noch ausüben kann; allerdings bestehen teilweise auch insofern Einschränkungen, infolge derer die Arbeiten teils nur noch in angepasster Form, teils nur noch verlangsamt, teils nicht mehr (allein) verantwortlich erledigt werden.
Damit ist der Kern der vormaligen Tätigkeit weggefallen. Der VN verbleiben nur ergänzende Tätigkeiten, die sie zudem nur noch mit größerem Zeitaufwand erledigen kann. Soweit sie noch Telefonate führt, E-Mails bearbeitet, Texte, Listen und Übersichten in Word oder Excel erstellt, sowie sonstige Zu- und ergänzende Arbeiten übernimmt, handelt es sich um Tätigkeiten, die weitgehend nicht spezifisch auf ihren früheren Einsatz als „high end“ Feingeräteelektronikerin bezogen sind. Daher sind sie für die Beurteilung der Frage, ob bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit vorliegt, allenfalls von untergeordneter Bedeutung. Denn für eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit ist allein maßgeblich, welche in ihrer Gesamtheit den „Beruf“ eines VN ausmachenden Tätigkeiten ihm in welchem zeitlichen oder sachlichen Maße funktionell aus gesundheitlichen Gründen verschlossen sind).
Ist Grundlage der Beurteilung der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit hier die frühere Tätigkeit der VN als technische Assistentin in Vollzeit, kann die vom VR im Laufe des Rechtsstreits erfolgte konkrete Verweisung auf die nunmehr ausgeübte Tätigkeit im Rahmen einer Halbtagstätigkeit nicht erfolgreich sein.
Relevanz für die Praxis
Der BGH hat jüngst in einer anderen Sache die gleiche Rechtsauffassung wie das OLG Stuttgart vertreten. Im dortigen Leitsatz heißt es: Für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit bleibt auch dann die zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte Tätigkeit maßgebend, wenn der Versicherte nach dem erstmaligen Eintritt des Versicherungsfalls zunächst einer leidensbedingt eingeschränkten Tätigkeit nachging (BGH 14.12.16, IV ZR 527/15, Abruf-Nr. 191023).
Verweist der VR auf eine mittlerweile ausgeübte Teilzeittätigkeit, muss der Anwalt klären, wie es zu der Teilzeittätigkeit kam. War Auslöser die zur Berufsunfähigkeit führende Krankheit, kann der VR nicht auf die Teilzeittätigkeit abstellen. Den entsprechenden Nachweis muss aber der VN führen. Er ist insoweit darlegungs- und beweispflichtig. Argumentativ kann dabei vor allem auf folgende Punkte abgestellt werden:
Argumente / Teilzeit versus Vollzeit |
Der VR kann den VN nicht auf eine ausgeübte Teilzeittätigkeit verweisen, wenn diese bereits Ausfluss der Krankheit ist. Die kann der VN u. a. mit folgenden Argumenten belegen:
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Weiterführende Hinweise
- Auch bei Fortsetzung der beruflichen Tätigkeit kann Berufsunfähigkeit vorliegen: OLG Köln VK 10, 54
- Was ist der maßgebliche Zeitpunkt der Berufsunfähigkeit im Vergleichsberuf? BGH VK 07, 139
- BU-Anspruch kann trotz objektiv falscher Gesundheitsangaben im Antrag bestehen: Ferling, VK 16, 85
- Wie ist der Begriff „im bisher ausgeübten Beruf“ in der Krankentagegeldversicherung zu verstehen? OLG Stuttgart VK 15, 171