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  • · Fachbeitrag · Unfallversicherung

    Zeitpunkt für die gerichtliche Überprüfung der Erstbemessung einer unfallbedingten Invalidität

    von RA Marc O. Melzer, FA VersR, Sozial- und Medizinrecht, Bad Lippspringe

    Für die in einem Gerichtsverfahren im Streit stehende Erstfeststellung unfallbedingter Invalidität kommt es weder auf den Zeitpunkt, an dem der VR sie auf Antrag des VN getroffen hat, noch auf den Zeitpunkt des Ablaufs von drei Jahren nach dem Unfall, wie er für die Neubemessung der Invalidität gelten würde, sondern auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung an, der eine bestimmte sachverständige Untersuchung mit darauf beruhenden ärztlichen Feststellungen zugrunde liegt (OLG Düsseldorf 6.8.13, I-4 U 221/11, Abruf-Nr. 140305).

     

    Sachverhalt

    Der VN verlangt aus dem Unfallversicherungsvertrag (AUB 94) eine weitere Invaliditätsleistung wegen eines Verkehrsunfalls vom 6.7.08. Der VR ließ am 10.12.09 ein Gutachten erstatten. Anschließend nahm er die Erstbemessung der unfallbedingten Invalidität vor. Der VN widersprach der Erstbemessung. Er legte im bereits anhängigen Rechtsstreit ein für ihn günstigeres Gutachten vom 12.10.09 vor, das im Auftrag des Haftpflicht-VR des Unfallgegners erstellt wurde. Das LG hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens, auf dessen Grundlage es die Klage abgewiesen hat. Das OLG hat ein neues Gutachten eingeholt. Die Untersuchung des VN dazu fand am 12.2.13 statt. Zu diesem Zeitpunkt - die Dreijahresfrist war bereits am 6.7.11 abgelaufen - lag eine unfallbedingte Invalidität nahezu in der vom VN geltend gemachten Höhe vor. Der Senat hat sich diesen Feststellungen angeschlossen, sodass die Berufung größtenteils Erfolg hatte.

     

    Entscheidungsgründe

    Der Senat hat sich auf das Gutachten vom 12.12.13 gestützt. Es begründet die dauerhafte unfallbedingte gesundheitliche Schädigung des VN in der zugesprochenen Höhe. Die abweichenden Feststellungen der früheren Gutachten stehen den Feststellungen des im Berufungsverfahren bestellten Sachverständigen nicht entgegen und ziehen diese nicht einmal in Zweifel.

     

    Die Ausführungen der zeitlich früher tätig gewordenen Sachverständigen können die Feststellungen nicht anzweifeln oder gar entkräften. Für die strittige Erstfeststellung unfallbedingter Invalidität kommt es nicht auf den Zeitpunkt an, als der VR sie auf Antrag des VN getroffen hat (15.10.09). Es kommt auch nicht auf den Zeitpunkt des Ablaufs von drei Jahren nach dem Unfall an, wie er für die Neubemessung der Invalidität nach Maßgabe des hier vereinbarten § 11 IV AUB 94 gelten würde (6.7.11). Entscheidend ist vielmehr der Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung, der eine bestimmte sachverständige Untersuchung mit darauf beruhenden ärztlichen Feststellungen zugrunde liegt. Der VN wurde am 12.2.13 untersucht. Weder zu diesem Zeitpunkt noch bei der Senatsverhandlung haben sich die früheren Gutachter zur unfallbedingten Invalidität des VN erklärt oder auch nur erklären können.

     

    Dass es für die gerichtliche Überprüfung der zwischen den Parteien streitigen Erstfeststellung auf sämtliche Erkenntnisse ankommt, die im Zeitpunkt der letzten Tatsachenverhandlung gewonnen wurden, und nicht, wie es früher auch der erkennende Senat gesehen hat, auf den Zeitpunkt von drei Jahren nach dem Unfall (in Anlehnung an die Regelung für eine Neubemessung des Invaliditätsgrads), hat der BGH spätestens am 21.3.12 (IV ZR 256/10, Abruf-Nr. 140306) unter Verweis auf frühere Entscheidungen entschieden.

     

    • Danach gilt die Dreijahresfrist für die Neubestimmung von Invalidität (hier in § 11 IV AUB 94) für den Fall der Überprüfung der Erstfeststellung des VR nicht (bestätigend Brockmöller, r+s 12, 313). Das folgt schon daraus, dass zwischen der Erstfeststellung von Invalidität und der Neubestimmung von Invalidität klar zu differenzieren ist. Die Neubemessung von unfallbedingter Invalidität setzt begrifflich voraus, dass bereits zuvor eine bedingungsgemäße, also binnen Jahresfrist eingetretene Invalidität festgestellt worden ist. Denn nur wenn der VR bereits eine bedingungsgemäße Invalidität anerkannt hat oder dieses Anerkenntnis durch eine gerichtliche Entscheidung ersetzt worden ist, kann diese unter den Vorbehalt einer späteren Neubemessung gestellt werden (BGH VersR 08, 527).

     

    • Kann die gerichtliche Überprüfung der Erstfeststellung des VR erst zu einem Zeitpunkt abgeschlossen werden, zu dem die Dreijahresfrist bereits abgelaufen ist, kommt es nicht auf zeitlich davor liegende Beurteilungszeitpunkte an. Maßgeblich ist dann vielmehr der Zeitpunkt der letzten Tatsachenverhandlung bzw. der Zeitpunkt der letzten medizinischen Untersuchung des Versicherten, auf deren Grundlage die abschließende Beurteilung möglich ist und auch vorgenommen wird.

     

    Abweichend hiervon ist zwar früher die Auffassung vertreten worden, es komme in diesem Fall wegen § 7 I AUB 94 auf den Zeitpunkt von einem Jahr nach dem Unfall oder auf den Zeitpunkt, zu dem die notwendige ärztliche Feststellung getroffen worden ist, oder auf den Zeitpunkt an, zu dem der VR die Erstfeststellung getroffen, also einen bestimmten Invaliditätsgrad anerkannt und weitergehende Ansprüche verneint hat, sofern diese Zeitpunkte wegen der Jahresfrist des § 7 I AUB 94 nach Ablauf von einem Jahr nach dem Unfall liegen (vgl. OLG Hamm VersR 98, 1273; OLG Saarbrücken VersR 09, 976; vgl. hierzu auch BGH VersR 94, 971). Diese Überlegungen sind jedoch schon durch die BGH-Entscheidung vom 22.4.09 (VersR 09, 920), auf welche der BGH in seinem Beschluss vom 21.3.12 verwiesen hat, überholt.

     

    Danach können in die „gerichtliche Erstfestsetzung“ alle relevanten gesundheitlichen Aspekte einfließen, die bis zum Schluss der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung vorgetragen und nachgewiesen sind oder sich sonst aus dem Verhandlungsergebnis ergeben. Auch der BGH weist darauf hin, dass sich die maßgeblichen Erkenntnisse nach dem Parteivortrag regelmäßig aus den im Verfahren eingeholten Gutachten ergeben dürften, sodass dann zumeist der jeweilige Untersuchungszeitpunkt maßgeblich sei. Auf der Grundlage der BGH-Entscheidung vom 22.4.09 ist daher klar, dass es bei der gerichtlichen Überprüfung der Erstfeststellung von Invalidität durch den VR nicht auf den Zeitpunkt von einem Jahr nach dem Unfall und auch nicht auf den Zeitpunkt der (späteren) Entscheidung des VR (hier: 15.12.09) ankommt.

     

    Praxishinweis

    Die Entscheidung des OLG Düsseldorf befasst sich mit der kontrovers diskutierten Frage, auf welchen Zeitpunkt bei der gerichtlichen Überprüfung der Erstbemessung der unfallbedingten Invalidität abzustellen ist. Bemerkenswert ist, dass es nach Ansicht des Senats bei der gerichtlichen Überprüfung der Erstbemessung - ohne zeitliche Grenze - auf sämtliche Erkenntnisse ankommen soll, die im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung gewonnen wurden. Die dabei vom Senat postulierte Klarheit des Ergebnisses ist nach Ansicht des Verfassers weder zu erkennen noch dürfte das Ergebnis richtig sein. Der Anwalt kann sich daher (soweit für seinen Mandanten günstiger) auf die folgenden Argumente berufen.

     

    • Zunächst ist klar, dass die unfallbedingte Invalidität fristgerecht eingetreten, ärztlich festgestellt und beim VR geltend gemacht werden muss. Das muss das Gericht von sich aus prüfen. Geklärt ist auch, dass der VN sowohl die Erstbemessung der unfallbedingten Invalidität angreifen kann und kumulativ oder alternativ die Neubemessung des Invaliditätsgrads verlangen kann. Ebenfalls geklärt ist, dass die Nachbemessung eine erfolgte Erstbemessung voraussetzt, ansonsten ist die „2. Stufe“ versperrt. Klar ist auch, dass bei der Nachbemessung des Invaliditätsgrads gesundheitliche Veränderungen (Verbesserungen wie Verschlechterungen) nach Ablauf der Frist drei Jahre ab Unfall, außer Acht zu lassen sind. Entschieden ist auch, dass im Falle einer rechtskräftig gewordenen gerichtlichen Erstfestsetzung eine Neubemessung möglich ist im Hinblick auf Veränderungen, die bei der Erstbemessung gerade nicht berücksichtigt wurden.

     

    • Große Unsicherheit herrscht jedoch bei Sachverständigen und Gerichten, wenn der VR entweder keine Erstbemessung vorgenommen hat oder eine für nicht richtig gehaltene Erstbemessung Klagegegenstand ist. Beweisbeschlüsse enthalten vielerorts keinerlei Anleitung des Sachverständigen in Bezug auf die Kausalität und den maßgeblichen Zeitpunkt für die Invaliditätsbemessung.

     

      • Möglich und vertreten wird, dass bei der Erstbemessung auf den Zeitpunkt des fristgerechten Eintretens der Invalidität abgestellt wird. Denn der VN entnimmt den AUB, dass die Invalidität innerhalb der vereinbarten Frist, i.d.R. 12 Monate ab Unfall gerechnet, eingetreten sein muss. Er entnimmt ferner, dass sich der VR fristgerecht erklären muss und für die Neubemessung eine Frist von drei Jahren vereinbart wurde.

     

    • Häufig wird der VR jedoch erst nach Ablauf der 12 Monatsfrist einen Gutachter beauftragen, der dann in aller Regel auf den Zustand im Zeitpunkt der Untersuchung abstellt. Widerspricht dem der VN nicht mit dem Hinweis, warum denn nicht die vereinbarte Jahresfrist gilt, dürften sich die Vertragspartner geeinigt haben, dass sich die Bemessung auf den Tag der Untersuchung bezieht. Geht der VN vor Ablauf der Frist von drei Jahren ab Unfall gegen diese Erstbemessung vor, dann dürfte entsprechend auf den Zustand zum Ablauf der Jahresfrist bzw. auf den Tag der Untersuchung, der dem Erstbemessungsbescheid zugrunde lag, abgestellt werden.

     

    • Der BGH geht jedoch davon aus, dass der VN dann nicht mehr damit rechnen könne, dass der VR dann noch eine Neubemessung durchführen werde. Der Frage der unfallbedingten Invalidität werde dann in dem Rechtsstreit entschieden. Und zwar nach Ansicht des OLG Düsseldorf ohne zeitliche Grenze. Diese soll nur eingreifen, wenn die 2. Stufe ins Spiel kommt, sich also eine Partei die Nachbemessung vorbehält, nur ein Vorschuss gezahlt wird, oder der VN nach Ablauf der Dreijahresfrist die Erstbemessung gerichtlich angreift.

     

      • Nach hier vertretener Ansicht ist der Zustand maßgeblich, den der VR seinem Erstbemessungsbescheid zugrunde gelegt hat, also der Tag der von ihm in Auftrag gegebenen Untersuchung, wenn der VN so deutlich zu erkennen gibt, dass er nur die Erstbemessung (isoliert) angreift. Dem OLG Düsseldorf ist zuzugeben, dass der BGH wohl nicht so weit (zurück) geht (und mehr Wert auf die mündliche Verhandlung legt). Warum der VN jedoch nicht mehr mit einer zeitlich noch möglichen Neubemessung typischerweise nicht mehr rechnen dürfe, erschließt sich indes nicht, zumal diese Möglichkeit vertraglich vereinbart wurde. Oder erklärt der VN mit seiner Klage gegen die Erstbemessung bereits (konkludent), dass er daneben eine Neubemessung verlangt? Dann steht die Erstfeststellung ohnehin unter dem Vorbehalt der endgültigen Bemessung zum Ende des dritten Unfalljahres.

     

    • Verkennen dürfte das OLG Düsseldorf, dass der BGH die Dreijahresfrist nicht gänzlich aus den Augen verliert. Denn der Tatrichter kann zwar theoretisch alle bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung eingetretenen Gesundheitsveränderungen berücksichtigen. Vielfach wird sich jedoch die gerichtliche Erstfestsetzung der Invalidität schon wegen der Notwendigkeit einer gutachtlichen Bewertung des Gesundheitszustands des VN allein auf das Ergebnis einer ärztlichen Untersuchung stützen, die bereits eine geraume Zeit vor Abschluss der mündlichen Verhandlung stattgefunden hat. In diesem Falle sperrt die lediglich hypothetische Möglichkeit, nachträgliche gesundheitliche Veränderungen bis zur mündlichen Verhandlung noch in die gerichtliche Entscheidung über die Erstbemessung einfließen zu lassen, deren Berücksichtigung bei einer späteren Neubemessung nicht (BGH VersR 09, 461).

     

    Ein Abstellen auf die letzte mündliche Verhandlung macht daher nur Sinn, wenn danach „noch Platz für eine Neubemessung“ ist. Denn andernfalls wäre den Vertragsparteien bei einer entsprechend langen Dauer des Rechtsstreits über die Erstfestsetzung das Recht zur Neubemessung der Invalidität in allen Fällen faktisch abgeschnitten, in denen lediglich zu Prozessbeginn eine Begutachtung stattgefunden hatte (BGH a.a.O.). Da hierfür die Dreijahresfrist gilt, was der durchschnittliche VN den AUB unschwer entnehmen kann, bildet diese Frist auch den letztmöglichen Zeitpunkt, den der Gutachter bzw. das Gericht überhaupt bemessen kann.

     

    Weiterführender Hinweis

    • Gesundheitszustand: Wann können Änderungen im Prozess noch geltend gemacht werden? BGH VA 09, 147 (mit Checkliste)
    Quelle: Ausgabe 02 / 2014 | Seite 29 | ID 42502342