· Fachbeitrag · Unfallversicherung
Bei Überprüfung der Erstfestsetzung ist auf die letzte mündliche Verhandlung abzustellen
von VRiOLG a.D. Werner Lücke, Telgte
Bei der gerichtlichen Überprüfung der Erstfestsetzung der Invalidität durch den VR kommt es in zeitlicher Hinsicht weder auf den Zeitpunkt der Festsetzung durch den VR noch auf den Ablauf der Dreijahresfrist für die Neubemessung, sondern auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung an, selbst dann, wenn diese fünf Jahre nach dem Unfall stattgefunden hat (OLG Düsseldorf 6.8.13, 4 U 221/11, Abruf-Nr. 140305). |
Sachverhalt
Der VN hatte sich bei einem Verkehrsunfall verletzt. Der VR, bei dem der VN eine Unfallversicherung unter Geltung der AUB 94 abgeschlossen hatte, hatte medizinisch beraten die Invalidität gut ein Jahr nach dem Unfall auf 1/20 Beinwert festgesetzt und den dafür vereinbarten Betrag gezahlt. Hiermit war der VN nicht einverstanden. Im Prozess, mehr als fünf Jahre nach dem Unfall, hat das OLG die für den Zeitpunkt der Verhandlung geltende Invalidität sachverständig ermitteln lassen. Es meint, hierauf komme es für die Überprüfung der Erstinvalidität an.
Entscheidungsgründe
Dass es für die gerichtliche Überprüfung der zwischen den Parteien streitigen Erstfeststellung des Unfallversicherers auf sämtliche Erkenntnisse ankommt, die im Zeitpunkt der letzten Tatsachenverhandlung gewonnen wurden, und nicht, wie es früher auch der erkennende Senat gesehen hat, auf den Zeitpunkt von drei Jahren nach dem Unfall (in Anlehnung an die Regelung für eine Neubemessung des Invaliditätsgrads), hat der BGH spätestens am 21.3.12 (IV ZR 256/10, Abruf-Nr. 140306) ausdrücklich entschieden. Danach gilt die Dreijahresfrist (hier geregelt in § 11 IV. der AUB 94) für die Neubestimmung von Invalidität nicht, wenn die Erstfeststellung des VR überprüft werden soll (bestätigend Brockmöller, Die Rechtsprechung des BGH zur Unfallversicherung, r+s 12, S. 313). Nach Ansicht des BGH soll es nicht auf zeitlich davor liegende Beurteilungszeitpunkte ankommen, wenn - wie hier - die gerichtliche Überprüfung der Erstfeststellung des VR erst zu einem Zeitpunkt abgeschlossen werden kann, zu welchem die benannte Dreijahresfrist bereits abgelaufen ist. Maßgeblich ist dann vielmehr der Zeitpunkt der letzten Tatsachenverhandlung bzw. der Zeitpunkt der letzten medizinischen Untersuchung des Versicherten, auf deren Grundlage die abschließende Beurteilung möglich ist und auch vorgenommen wird.
Abweichend hiervon ist zwar vor der Entscheidung des BGH vom 21.3.12 die Auffassung vertreten worden, wegen der Regelung in § 7 I AUB 94 müsse auf andere Zeitpunkte abgestellt werden. Dies sei entweder der Zeitpunkt von einem Jahr nach dem Unfall oder der Zeitpunkt, zu dem die notwendige ärztliche Feststellung getroffen worden ist, oder der Zeitpunkt, zu dem der VR die Erstfeststellung getroffen, also einen bestimmten Invaliditätsgrad anerkannt und weitergehende Ansprüche verneint hat, sofern diese Zeitpunkte wegen der Jahresfrist des § 7 I AUB 94 nach Ablauf von einem Jahr nach dem Unfall liegen. Diese Ansicht haben einige OLG für den Fall vertreten, dass sich die Vertragsparteien nicht (oder zumindest nicht fristgerecht) die Neubemessung des Invaliditätsgrads vorbehalten haben (vgl. OLG Hamm VersR 98, 1273 und OLG Saarbrücken VersR 09, 976; vgl. hierzu auch BGH in VersR 94, 971). Diese Überlegungen sind jedoch schon durch die Ausführungen in der BGH-Entscheidung vom 22.4.09 (IV ZR 328/07, VK 09, 147 = VersR 09, 920), auf welche der BGH in seinem Beschluss vom 21.3.12 verwiesen hat, „überholt“.
Praxishinweis
Das OLG Düsseldorf befasst sich in seinem Urteil mit der Frage, auf welchen Zeitpunkt es für die gerichtliche Überprüfung der Erstbemessung der VR ankommt. Es hat die Frage wie im Leitsatz wiedergegeben beantwortet und dies damit begründet, dass der BGH dies so entschieden habe. Dies ist schwer verständlich. Es fragt sich schon, warum das OLG dem BGH eine solche Entscheidung zutraut. Noch mehr fragt sich, warum es die Entscheidungen des BGH nicht hinterfragt hat, wenn es sie so verstanden haben sollte. Das wäre seine Aufgabe gewesen.
Der BGH hat sich in dem vom OLG zitierten, sehr wichtigen Beschluss vom 22.4.09 (a.a.O.) zu Fragen der Erst- und der Neubemessung sowie zu den dafür maßgeblichen Zeitpunkten geäußert:
- Der VN kann zum einen die Erstfeststellung seiner Invalidität angreifen und versuchen, eine seiner Auffassung nach zutreffende Erstfeststellung im Klagewege durchzusetzen. Verlangt er daneben oder allein eine Neubemessung seiner Invalidität, so steht die Erstfeststellung unter dem Vorbehalt der endgültigen Bemessung drei Jahre nach dem Unfall (Knappmann in Prölss/Martin, VVG 27. Aufl. § 11 AUB 94 Rn. 8). Grundlage jeder Neubemessung der Invalidität sind Veränderungen im Gesundheitszustand des VN gegenüber demjenigen Zustand, der der Erstbemessung zugrunde liegt. Dabei wird der maßgebliche Zustand durch die ärztlichen Befunde, die der ersten Feststellung der Invalidität zugrunde liegen, konkretisiert und eingegrenzt.
- Ist die Erstbemessung Gegenstand eines Rechtsstreits, kann zwar der Tatrichter theoretisch alle bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung eingetretenen Gesundheitsveränderungen in diese einfließen lassen. In diesem Falle kann eine spätere Neubemessung der Invalidität nur noch auf Veränderungen gestützt werden, die nach der mündlichen Verhandlung eingetreten sind. Vielfach wird sich jedoch die gerichtliche Erstfestsetzung der Invalidität schon wegen der Notwendigkeit einer gutachtlichen Bewertung des Gesundheitszustands des VN allein auf das Ergebnis einer ärztlichen Untersuchung stützen. Diese hat meist schon eine geraume Zeit vor Abschluss der mündlichen Verhandlung stattgefunden. In diesem Falle sperrt die lediglich hypothetische Möglichkeit, nachträgliche gesundheitliche Veränderungen bis zur mündlichen Verhandlung noch in die gerichtliche Entscheidung über die Erstbemessung einfließen zu lassen, deren Berücksichtigung bei einer späteren Neubemessung nicht. Denn anderenfalls wäre den Vertragsparteien bei einer entsprechend langen Dauer des Rechtsstreits über die Erstfestsetzung das Recht zur Neubemessung der Invalidität in allen Fällen faktisch abgeschnitten, in denen lediglich zu Prozessbeginn eine Begutachtung stattgefunden hatte.
- Eine rechtliche Verpflichtung, bereits alle seit der ärztlichen Untersuchung bis zum Abschluss der mündlichen Verhandlung über die Erstfeststellung eingetretenen Veränderungen schon im Erstprozess geltend zu machen, lässt sich den AUB 94 angesichts des in § 11 IV gerade mit Rücksicht auf die Veränderbarkeit des Invaliditätsgrades bereitgestellten Verfahrens zur Neubemessung der Invalidität nicht entnehmen. Kann deshalb die Vertragspartei, welche die Neubemessung der Invalidität verlangt, darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass Veränderungen im Gesundheitszustand des VN, auf die sich das Begehren stützt, noch nicht in eine - auch gerichtliche - Erstbemessung eingeflossen sind, sind diese Veränderungen im Rahmen der Neubemessung zu berücksichtigen. Voraussetzung ist, dass die bisherige Nichtberücksichtigung bewiesen werden kann. Beweispflichtig ist die Vertragspartei, welche die Neubemessung der Invalidität verlangt.
Hierauf hat der BGH in dem vom OLG genannten Beschluss vom 21.3.12 lediglich Bezug genommen. Über die Frage, worauf es bei der Überprüfung der Erstfestsetzung des VR ankommt, verhält sich keine der Entscheidungen. Dort geht es, nachdem der VR eine Erstfestsetzung abgelehnt hatte und den VN mit Abschlagszahlungen hinhalten wollte, um die (erstmalige!) Festsetzung der Invalidität durch das Gericht, für die die AUB keinen Fix- oder Endtermin vorsieht. Deshalb kommt es dort nach allgemeinen Grundsätzen auf den Tag der letzten mündlichen Verhandlung an. Das war aber nicht der Fall, den das OLG zu entscheiden hatte. Anderes ergibt sich auch nicht aus dem vom OLG ebenfalls für seine Auffassung in Anspruch genommenen Aufsatz von Brockmöller (r+s 12, 313, 315). Dieser befasst sich, auch wenn die Formulierung unklar ist, nur mit der gerichtlichen Erstbemessung.
Es liegt auf der Hand, dass in eine gerichtliche Überprüfung der Festsetzung des VR keine Veränderungen einfließen können, die viele Jahre nach dieser Festsetzung eingetreten sind. Von einer „Überprüfung“ könnte dann schließlich keine Rede sein. Anderenfalls könnte der VN auch Jahre später noch durch Klage eine Überprüfung erzwingen, da die Klagefrist des § 12 Abs. 3 VVG a.F. abgeschafft ist. Würde diese zu seinem Nachteil ausgehen, könnte er durch Rücknahme der Klage den VR vorführen. Dies mag sachgerecht sein, wenn der VR Leistungen ablehnt und deshalb eine Erstbemessung unterlässt. Für die gerichtliche Überprüfung der Erstbemessung muss es aber bei dem damals zugrunde gelegten Zeitpunkt verbleiben. M.E. trifft die Checkliste VK 09, 149 f. deshalb nach wie vor in vollem Umfang zu.
Weiterführender Hinweis
- Gesundheitszustand: Wann können Änderungen im Prozess noch geltend gemacht werden? BGH VA 09, 147 (mit Checkliste)