17.07.2013 · IWW-Abrufnummer 132245
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg: Beschluss vom 27.06.2013 – 4 Ta 11/13
1) In den sozialhilferechtlichen Regelsätzen ist für die Betreuunng von Kindern in Kindertagesstätten lediglich deshalb kein Betrag hinterlegt, weil gem. § 90 Abs. 3 SGB VIII für Sozialhilfeempfänger und Leistungsempfänger nach dem SGB II die Kinderbetreuung regelmäßig kostenfrei ist. Für Nichtleistungsempfänger muss dies im Rahmen der Prozesskostenhilfe aber dazu führen, dass notwenige Kinderbetreuungskosten als "Mehrbedarf" gem. § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 ZPO einkommensmindernd berücksichtigt werden können.
2) Die Kinderbetreuungskosten sind dann einkommensmindernd zu berücksichtigen, wenn ein Betreuungsanspruch oder eine Förderungsfähigkeit für die Betreuung nach § 24 SGB VIII besteht.
3) Im Rahmen der Ganztagesbetreuung anfallende Kosten für die Teilnahme an einer gemeinsamen Mittagsverpflegung sind ebenfalls als Mehrbedarf einkommensmindernd zu berücksichtigen, wobei gem. § 9 RBEG ein Eigenanteil von je 1,00 € je Mittagessen von den Kosten abzuziehen ist.
Tenor:
1.
Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Pforzheim vom 17.05.2013 (2 Ca 121/13) dahingehend abgeändert, dass der Kläger im Rahmen der bewilligten Prozesskostenhilfe auf die Prozess-/Verfahrenskosten derzeit keine Zahlungen zu leisten hat.
2.
Die Rechtsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht wird für die Staatskasse zugelassen.
Gründe
A:
Die sofortige Beschwerde des Klägers ist gerichtet gegen die Anordnung einer Ratenzahlung im Rahmen der bewilligten Prozesskostenhilfe.
Dem Kläger wurde mit Beschluss des Arbeitsgerichts Pforzheim vom 15.05.2013 Prozesskostenhilfe bewilligt für die Durchführung einer Kündigungsschutzklage. Ihm wurde Herr Rechtsanwalt M. als Prozessbevollmächtigter beigeordnet. In diesem Beschluss wurde zudem angeordnet, dass der Kläger auf die Prozesskosten Monatsraten in Höhe von 60,- € zu zahlen habe. Bei der Ermittlung einer Zahlungsverpflichtung wurden Kindergartengebühren nicht berücksichtigt. Gegen diesen dem Kläger am 21.05.2013 zugestellten Beschluss richtet sich die vorliegende sofortige Beschwerde, die am 06.06.2013 beim Arbeitsgericht einging.
Der Kläger hat eine zweijährige Tochter (geb. am 27.08.2010), die den evangelischen Kindergarten in S. besucht. Das Kind wird im Kindergarten an zwei Tagen die Woche ganztags betreut und an drei Tagen halbtags. Die Ehefrau des Klägers ist erwerbstätig an zwei Tagen die Woche ganztags und an einem Tag die Woche halbtags. Die Eltern müssen für die Betreuung eine Kindergartengebühr entrichten in Höhe von 280,- €. Für das Mittagessen der Tochter im Kindergarten müssen die Eltern monatlich weitere 22,40 € entrichten.
Der Kläger meint, die Kindergartengebühren und die Kosten für die Verpflegung des Kindes im Kindergarten müssten vom Einkommen abgesetzt werden, sodass im Ergebnis kein einsetzbares Einkommen mehr verbliebe. Dem Kläger müsste deshalb ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt werden.
Das Arbeitsgericht hat der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 07.06.2013 nicht abgeholfen mit der Begründung, Kinderbetreuungskosten seien bereits im Freibetrag für das unterhaltsberechtigte Kind enthalten. Die sofortige Beschwerde wurde dem Landesarbeitsgericht zur Entscheidung vorgelegt.
B:
Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet.
I.
Die sofortige Beschwerde ist gem. § 11a Abs. 3 ArbGG iVm. §§ 127 Abs. 2 Satz 2, 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie wurde insbesondere form- und fristgerecht eingelegt (§ 78 ArbGG iVm. §§ 569, 127 Abs. 2 Satz 3 ZPO).
II.
Die Beschwerde ist auch begründet.
Es sind entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts die Kindergartengebühren vom Einkommen des Klägers abzusetzen, sowie ein Teil der Verpflegungskosten, die für das Kind im Kindergarten anfallen, sodass letztlich kein im Rahmen der Prozesskostenhilfe gem. § 115 Abs. 1 ZPO einsetzbares Einkommen mehr verbleibt.
1. Bislang wurde die Absetzbarkeit von Kindergartenbeiträgen vom Einkommen in der Rechtsprechung jedenfalls dann nicht anerkannt, wenn die Kinder einen Regelkindergarten besuchten und die Gebühren die Freibeträge des § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2b ZPO nicht überstiegen. Argumentiert wurde bislang stets damit, dass von den sozialhilferechtlichen Regelsätzen, bzw. von den in § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2b ZPO erhöhten Freibeträgen der gesamte Bedarf des notwendigen Lebensunterhalts abgedeckt sei (BGH 05. März 2008 - XII ZR 150/05 - FamRZ 2008 1152; LAG Schleswig-Holstein 20. Okober 2009 - 3 Ta 179/09 - [...]; OLG Stuttgart 26. Oktober 2005 - 8 WF 140/05 - FamRZ 2006, 499; OLG Nürnberg 29. August 2005 - 10 UF 396/05 - FamRZ 2006, 642; OLG Sachsen-Anhalt 22. Dezember 1999 - 14 WF 53/99 - OLGR Naumburg 2000, 2010).
Über die "üblichen" Kindergartenbeiträge von Regelkindergärten hinausgehende zusätzliche Kosten, die auch die Freibeträge übersteigen, wurden teilweise als "Mehrbedarfe" akzeptiert, wenn entweder über die pädagogische Sinnvolligkeit des Kindergartenbesuchs hinaus besondere pädagogische Gründe beim Kind vorlagen oder wenn die Ganztagesbetreuung der Ermöglichung der Erwerbstätigkeit des Elternteils diente (OLG Nürnberg 29. August 2005 aaO.). Teilweise wird (jedenfalls im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende) ein solchen "Mehrbedarf" aber abgelehnt, mit der Begründung, Kindergartengebühren seien im § 28 SGB II (bzw. sozialhilferechtlich: § 34 SGB XII) nicht enthalten und diese Normen seien für die Gewährung von Sonderbedarfen abschließend (LSG Nordrhein-Westfalen 09. Januar 2012 - L 19 AS 2054/11 B - [...]).
Soweit ersichtlich wurde eine einen Bedarf überhaupt, bzw. einen Mehrbedarf für Ganztagesbetreuung begründende Notwendigkeit der Kindergartenbetreuung bislang nur erörtert im Rahmen der sogenannten Ü3-Betreuung, nicht aber für Kinder unter 3 Jahren (U3-Betreuung).
2. Dieser bestehenden Rechtsprechung vermag die erkennende Kammer nicht zu folgen. Vielmehr geht die Kammer davon aus, dass die vorliegenden Kindergartengebühren in voller Höhe berücksichtigt werden müssen, auch soweit sie vorliegend anfallen f ür eine sogenannte U3-Betreuung und auch soweit sie für eine Ganztagesbetreuung geltend gemacht werden.
a) Auszugehen ist jedenfalls von der grundsätzlichen Annahme, dass nur solche Bedarfe als besondere Belastungen im Sinne von § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 ZPO anerkannt werden dürfen, die nicht bereits in den Freibeträgen des § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 ZPO enthalten sind. Da die Freibeträge abgeleitet werden aus den sozialhilferechtlichen Regelsätzen, folgt, dass nur solche Bedarfe berücksichtigt werden können, die nicht in den Regelsätzen enthalten sind (Zöller/Geimer ZPO 29. Auflage § 115 Rn. 36).
b) Es ist jedoch die Annahme falsch, dass in den Regelsätzen der § 27a, 28 SGB XII, bzw. des § 20 SGB II Kindergartengebühren bereits mit enthalten wären.
Nachdem nach dem Urteil des BVerfG vom 09. Februar 2010 (1 BvL 1/09 ua. - BVerfGE 125, 175) die Regelbedarfe neu ermittelt werden mussten, wurden Kindergartengebühren nicht mehr in der EVS 2008 als regelbedarfsrelevante Positionen in der Abteilung 10 eingestellt. Hintergrund ist, dass nach Auffassung des Gesetzgebers Kosten für Kindergärten und Kindergrippen für Hilfebedürftige nicht anfallen (Gesetzesentwurf der Fraktionen CDU/CSU und FDP vom 26.10.2010 BT-Drs. 17/3404, Seite 62 und 73). Diese Annahme ist auch richtig. Denn nach § 90 Abs. 3 SGB VIII soll ein Kostenbeitrag für die Inanspruchnahme von Angeboten der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und Kindertagespflege nämlich entweder schon gar nicht erhoben werden oder aber vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe übernommen werden, wenn die Belastung den Eltern oder dem Kind nicht zuzumuten ist, was bei Hilfebedürftigen in der Regel der Fall ist, da sich die in § 90 Abs. 3 SGB VIII geregelte "unzumutbare Belastung" nach den §§ 82-85, 87, 88 und 92a SGB XII richtet (Stähr in Hauck SGB VIII § 90 Rn. 20).
Daraus ergibt sich, dass der Gesetzgeber Kosten für die Kinderbetreuung durchaus als Bestandteil des notwendigen Lebensunterhalts anerkannt hat, diesem Bedarf bei Hilfebedürftigen aber keinen Regelsatzbetrag zugewiesen hat, weil er von der grundsätzlichen Kostenfreiheit der Kinderbetreuung bei Bedürftigen ausging. Dies kann aber nicht dazu führen, dass anderen Personen, die nicht Leistungsempfänger nach dem SGB XII oder dem SGB II sind, entgegengehalten wird, Kindergartengebühren seien im Regelsatz enthalten.
c) Der Kläger muss auch nicht darauf verwiesen werden, vorrangig Kostenerstattung beim Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu beantragen. Zum Einen ist der Kläger nicht bedürftig im Sinne des Sozialhilferechts. Zum Anderen schließen sich Sozialhilfeleistung und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nicht gegenseitig aus, § 10 Abs. 1 SGB VIII.
d) Auch kann die Anerkennung der Kindergartenbeiträge als weiterer Bedarf im Sinne von § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 ZPO nicht deswegen versagt werden, weil sozialhilferechtlich oder im Recht der Grundsicherung für Arbeitssuchende Kindergartengebühren nicht in § 34 SGB XII, bzw. § 28 SGB II als zusätzliche Bedarfe für Bildung und Teilhabe ausgewiesen sind (so aber: LSG Nordrhein-Westfalen 9. Januar 2012 aaO.). Denn wie bereits oben ausgeführt, hat der Gesetzgeber die Betreuung in Kindertagesstätten bereits als Regelbedarf anerkannt. Der Gesetzgeber hat für diesen Regelbedarf in die Bedarfsberechnung lediglich keinen Betrag eingestellt. Dies ändert aber nichts daran, dass es sich um einen Regelbedarf handelt. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob die Kindergartengebühren auch einen Mehrbedarf hätten darstellen können.
e) Erforderlich für die Anerkennung als Mehrbedarf im Sinne von § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 ZPO ist aber die Angemessenheit des Bedarfs. Beiträge für die Kindertageseinrichtungen können aber nur angemessen sein, wenn ein Anspruch auf die Kinderbetreuung, bzw. eine Förderungsfähigkeit für die Betreuung im Sinne von § 24 SGB VIII besteht.
aa) Nach der aktuellen, noch bis 31.07.2013 bestehenden Rechtslage besteht eine Förderungsfähigkeit für Kinder unter 3 Jahren unter den Voraussetzungen des § 24 Abs. 3 SGB VIII. Gem. § 24 Abs. 3 Nr. 2a SGB VIII sind Kinder in Kindertagesstätten zu fördern, unter anderem wenn die Erziehungsberechtigten einer Erwerbstätigkeit nachgehen, eine Erwerbstätigkeit aufnehmen oder Arbeit suchend sind. Dies deckt sich mit den in § 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII beschriebenen Grundsätzen, dass Tageseinrichtungen den Eltern dabei helfen sollen, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander vereinbaren zu können, vgl. auch § 2 Abs. 1 KiTaG Baden-Württemberg.
Vorliegend wird die Kinderbetreuung (auch in Form einer teilweisen Ganztagesbetreuung) im Wesentlichen deswegen in Anspruch genommen, um der Ehefrau des Klägers die auf die Betreuung abgestimmte Erwerbstätigkeit ermöglichen zu können. Auch der Kläger selbst ist derzeit zumindest arbeitssuchend.
bb) Für die Rechtslage ab 01.08.2013 gilt nichts anderes: Gem. § 24 Abs. 2 SGB VIII (neu) haben auch Kinder im Alter zwischen einem und drei Jahren einen Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in der Kindertagespflege. Selbst wenn dieser Rechtsanspruch nur eine Regelbetreuung und noch keine Ganztagesbetreuung beinhaltet, so bleibt die Förderungsfähigkeit der Ganztagesbetreuung gem. § 24 Abs. 1 Nr. 2a SGB VIII (neu), wenn die Erziehungsberechtigten einer Erwerbstätigkeit nachgehen, eine Erwerbstätigkeit aufnehmen oder Arbeit suchend sind.
Soweit die Tochter des Klägers ab 27.08.2013 das dritte Lebensjahr vollendet haben wird, gilt § 24 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII, wonach der Träger der öffentlichen Jugendhilfe darauf hinzuwirken hat, dass ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagesplätzen zur Verfügung steht.
3. Auch die Kosten des Mittagessens in der Kindertagesstätte sind als einkommensmindernd berücksichtigungsfähig über § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 ZPO.
a) Wie bereits oben ausgeführt, sind nur Mehrbedarfe berücksichtigungsfähig, die nicht bereits im Regelsatz enthalten sind. Jedenfalls sind Mehrbedarfe, die sozialhilferechtlich anerkannt sind, auch im Rahmen der Prozesskostenhilfe berücksichtigungsfähig.
Gem. § 34 Abs. 6 Nr. 2 SGB XII bzw. gem. § 28 Abs. 6 Nr. 2 SGB II sind die Kosten einer gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung in Kindertageseinrichtungen als (Mehr)Bedarfe für Bildung und Teilhabe anerkannt. Jedoch ist gem. § 9 RBEG ein Eigenanteil von 1,- € je Mittagessen in Abzug zu bringen.
b) Vorliegend besucht die Tochter des Klägers den Kindergarten 2 Mal wöchentlich ganztags und bedarf deshalb 2 Mal wöchentlich einer Teilnahme an der gemeinsamen Mittagsverpflegung. Sie nimmt deshalb gerundet 9 Mal monatlich am Mittagessen teil, weshalb vom Mittagessensbetrag von 22,40 € nur 13,40 € in Absetzung gebracht werden können.
4. Da die Betreuungskosten für das Kind jedoch von beiden Elternteilen getragen werden, die Ehefrau mit monatlich 624,06 € netto ca. die Hälfte dessen verdient, was der Kläger als Krankengeld bezieht (1.258,80 €), erscheint es gerechtfertigt, die Belastungen der Kindergartenbetreuung beim Kläger in Höhe des Anteils am Familieneinkommen mit 2/3 als einkommensreduzierend zu berücksichtigen. Es sind somit als weitere Positionen abzusetzen:
- Kindergartengebühren: 186,67 €
- Mittagessenskosten: 7,70 €
5. Eine Kostenentscheidung ist im Hinblick auf das Gebührenverzeichnis Nr. 8614 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG iVm. § 1 Abs. 2 Nr. 4 GKG entbehrlich. Der Kläger war mit seiner sofortigen Beschwerde erfolgreich. Gebühren fallen jedoch nur bei Unterliegen an.
6. Die Rechtsbeschwerde war gem. § 78 Satz 2 iVm. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen. Die Angelegenheit hat grundsätzliche Bedeutung.
Der Vorsitzende: Stöbe