11.07.2016 · IWW-Abrufnummer 187099
Landesarbeitsgericht München: Urteil vom 13.06.2016 – 3 Sa 23/16
1. Ein fünfeinhalbjähriges Praktikum, das zur Zulassung zur Prüfung zum Fachberater für Finanzdienstleistungen berechtigen soll, stellt ein Arbeitsverhältnis dar, wenn nach dem Praktikumsvertrag die für ein Arbeitsverhältnis typischen Rechte und Pflichten geregelt werden und die Beschäftigung sich nach wenigen Monaten auf dieselben einfachen Tätigkeiten beschränkt. Für ein Arbeitsverhältnis spricht des Weiteren die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen die "Praktikantin", die mit einer unterlassenen bzw. schlechten Erfüllung von Weisungen begründet werden.
2. Eine Vergütungsabrede von € 300,00 brutto monatlich für einfache Bürotätigkeiten und Internetrecherchen ist nach § 138 Abs. 2 BGB wegen Lohnwuchers nichtig, wenn die Unerfahrenheit der Praktikantin ("ärmliche Verhältnisse") und ihre vergebliche Suche nach beruflicher Perspektive ausgenützt werden und die Arbeitgeberin sich wiederholt des Geschäftsmodells "Praktikum" bedient.
3. Für die Zeit vor Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes kann für die Vergütungsbestimmung auf die tarifliche Entlohnung in verwandten Branchen zurückgegriffen werden.
In dem Rechtsstreit
A.
A-Straße, A-Stadt
- Klägerin und Berufungsbeklagte -
Prozessbevollmächtigte:
B.
B-Straße, A-Stadt
gegen
Firma C.
C-Straße, A-Stadt
- Beklagte und Berufungsklägerin -
Prozessbevollmächtigte:
D.
D-Straße, A-Stadt
hat die 3. Kammer des Landesarbeitsgerichts München auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 13. Juni 2016 durch die Vorsitzende Richterin am Landesarbeitsgericht Dr. Eulers und die ehrenamtlichen Richter Nuber und Weikl
für Recht erkannt:
Tenor:
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 11.12.2015 - 36 Ca 4986/15 - wird 1auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
1 berichtigt gemäß Beschluss vom 04.07.2016
Tatbestand
Die Parteien streiten über Vergütungsdifferenzen und einen Anspruch der Klägerin auf Erstellung eines Zeugnisses und einer Arbeitsbescheinigung.
Die am 00.00.0000 geborene Klägerin, die sich nach dem Erwerb des Realschulabschlusses 2008 vergeblich um einen Ausbildungsplatz bemüht hatte, wurde von der Beklagten, die ein Gewerbe zur Vermittlung von Versicherungen betreibt und eine Erlaubnis als Versicherungsmakler nach § 34 d GewO innehat, seit dem 15.09.2009 aufgrund eines als Praktikumsvertrag beschriebenen Vertrags zu 43 Wochenstunden und einem monatlichen Entgelt von 300,00 € brutto beschäftigt. Nach dem übereinstimmenden Willen der Parteien sollte die Klägerin damit die Voraussetzungen einer mindestens vierjährigen "Berufspraxis" für die Zulassung zur Prüfung zur Fachberaterin für Finanzdienstleistungen nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 der Verordnung über die Prüfung zu anerkannten Fortbildungsabschlüssen in der Finanzdienstleistungswirtschaft erwerben. Nach § 3 Abs.2 der Verordnung muss diese Berufspraxis wesentliche Bezüge zu den in § 2 Abs. 2 der Verordnung genannten Aufgaben haben. Wegen der weiteren Regelungen in dieser Verordnung wird auf die Anlage B10 Bezug genommen. Nach dem Praktikumsvertrag galt eine sechsmonatige "Probezeit", innerhalb derer eine Kündigung ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist möglich war, §§ 1 Abs. 2, 7 Abs. 1 Praktikumsvertrag. Die Klägerin war verpflichtet, die ihr während ihrer "Tätigkeit" "übertragenen Verrichtungen und Aufgaben sorgfältig auszuführen, insbesondere ... Internetrecherchen zu führen" (§ 4 Abs. 1 Praktikumsvertrag), "den Weisungen zu folgen, die ... im Rahmen der Tätigkeit ... erteilt werden" (§ 4 Abs. 3 Praktikumsvertrag) sowie Betriebsmittel "nur zu den ... übertragenen Arbeiten zu verwenden" (§ 4 Abs. 5 Praktikumsvertrag). Eine eventuelle "Arbeitsunfähigkeit" und deren voraussichtliche Dauer waren unverzüglich mitzuteilen und eine ärztliche Bescheinigung hierüber spätestens am folgenden "Arbeitstag" vorzulegen (§ 4 Abs. 8 Praktikumsvertrag).
Nach § 6 Abs. 1 Praktikumsvertrag waren Nebentätigkeiten nur mit schriftlicher Genehmigung der Beklagten erlaubt. Überstunden sollten nicht vergütet werden, weil sie Bestandteil der Tätigkeit seien (§ 6 Abs. 1 Praktikumsvertrag). Die Praktikumstätigkeiten sollten Fortbildungsmaßnahmen, insbesondere an jedem Montagabend und jedem ersten Samstag im Monat, umfassen (ebenda). Darüber hinaus hatte die Klägerin einen Urlaubsanspruch von "20 Arbeitstagen im Jahr" (§ 6 Abs. 2 Praktikumsvertrag) und sollte bestimmte Vorgaben für die "Urlaubsplanung" beachten (§ 6 Abs. 3 Praktikumsvertrag). Im sog. Ausbildungsrahmenplan (Anlage B2) wurde im Einzelnen festgelegt, welche Ausbildungsinhalte der Klägerin in den "Ausbildungsjahren Consumer Marketing Assistent, .... Financial Planner ... Investment Analyst" vermittelt werden sollten. Wegen der weiteren Regelungen des Ausbildungsrahmenplanes wird auf Anlage B2 Bezug genommen. Nach Angaben der Beklagten (Schriftsatz vom 09.06.2015, Seite 2, und vom 02.12.2015, Seite 2) ist die Klägerin über die ersten Monate des Rahmenplanes nicht hinausgekommen. Am 01.10.2013 trafen die Parteien eine Vereinbarung über die Einführung eines alternierenden Home Office. Deren § 4 regelte das "Verhältnis zum bestehenden Dienst- bzw. Arbeitsverhältnis ...", wonach das "Beschäftigungsverhältnis ... unberührt (bleibt). Lediglich die Verpflichtung, der aufgetragenen Arbeit (richtig: die aufgetragene Arbeit) innerhalb der regelmäßigen Arbeitsstunden zu leisten, wird den Erfordernissen eines Home Office-Arbeitsplatzes angepasst." Nach § 8 Abs. 1 der Vereinbarung über die Einführung eines alternierenden Home Office sollte "die Verteilung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit auf die beiden Arbeitsorte" zwischen den Parteien vereinbart werden. Die Arbeitszeit könne bis zu 100 % am Home Office-Arbeitsplatz ausgeführt werden. Wegen der weiteren Regelungen wird auf die Anlage B8 Bezug genommen.
Die Klägerin kündigte das Rechtsverhältnis zum 10.03.2015.
Mit der vorliegenden Klage hat die Klägerin für den Zeitraum vom 01.01.2012 bis 10.03.2015 zunächst einen Gesamtbruttolohn in Höhe von 77.316,00 €, Zinsen auf die rückständigen Jahresvergütungen, eine Schadenspauschale von 1.560,00 €, ein Arbeitszeugnis und eine Arbeitsbescheinigung zur Vorlage bei der Bundesagentur für Arbeit begehrt. Zwischen den Parteien hätte ein verschleiertes Arbeitsverhältnis bestanden mit der Folge, dass die Vergütungsabrede sittenwidrig und nichtig sei und die Beklagte die übliche Vergütung schulde, die sich unter anderem nach der Gehaltsgruppe I des § 4 Ziff. 2 Manteltarifvertrag für das Versicherungsvermittelgewerbe und an § 1 Abs. 2 MiLoG orientiere. Die Arbeitsleistung der Klägerin habe im Vordergrund gestanden; eine Ausbildung habe nur an Montagabenden und gelegentlich an Samstagen stattgefunden. Ein Praktikum sei zudem nur von vorübergehender Dauer. In der Kammerverhandlung hat die Klägerin die Vergütungsforderung auf einen Betrag von 60.673,00 € brutto abzüglich 11.400,00 € netto, die sie im streitgegenständlichen Zeitraum auf der Basis von 300,00 € brutto monatlich vergütet erhielt, zurückgenommen.
Die Beklagte hat für ihren Klageabweisungsantrag geltend gemacht, dass mit der zum Vertragsschluss minderjährigen Klägerin und ihren Eltern ein Praktikumsvertrag zur Vermittlung der praktischen Erfahrungen in Vorbereitung der Prüfung zum Finanzfachwirt auf deren ausdrücklichen Wunsch vereinbart worden sei. Die Leistungen der Klägerin seien weit unterdurchschnittlich gewesen, so dass zusätzlich zur regulären Praktikumszeit auch an jedem ersten Samstag und an jedem Montagabend Fertigkeiten und Kenntnisse hätten vermittelt werden müssen. Die Arbeitsweise der Klägerin sei oberflächlich und illoyal gewesen. Anweisungen habe sie in den meisten Fällen nicht beachtet. Die Klägerin habe zusätzlich "zig-tausende Euro Schaden" hinterlassen, der sich unter anderem aus "absichtliche(r) Arbeitsverweigerung von E-Mail-Versand" in Höhe von 2.280,00 € und dem Vorgang "E-Mail versendet obwohl nicht erlaubt" in Höhe von 1.467,99 € ergebe.
Das Arbeitsgericht München hat durch Urteil vom 11.12.2015 - 36 Ca 4986/15 - der Klage stattgegeben. Der Klägerin stünden die geltend gemachten Vergütungsansprüche für den streitgegenständlichen Zeitraum auf der Basis von 8,50 € brutto pro Stunde zu. Zwischen den Parteien habe ein Arbeitsverhältnis bestanden, weil der als Praktikumsvertrag bezeichnete Vertrag der Sache nach ein Arbeitsvertrag gewesen sei. Bereits die vertraglichen Regelungen - Probezeitvereinbarung, 43 Wochenstunden, Nebentätigkeitsgenehmigung und Urlaubsplanung - seien typischerweise solche eines Arbeitsvertrages. Darüber hinaus widerspreche eine ca. 5,5 Jahre dauernde Tätigkeit dem Grundverständnis, dass ein Praktikum eine zeitweilige und zugleich zeitlich begrenzte Tätigkeit darstelle. Es sei nicht nachzuvollziehen, welche praktischen Erfahrungen und Kenntnisse die Klägerin auch noch nach Ablauf eines Zeitraumes, in dem der Großteil aller klassischen Ausbildungsberufe abgeschlossen werde, vermittelt worden seien. Auch stelle sich die Frage, wie eine Praktikantin, die nur geschult werde, zig-tausende Euro Schaden verursachen könne. Auch zeigten die Formulierungen der Beklagten in ihren Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung (Arbeitsleistungen, Arbeitsweise, u.a.), dass die Klägerin bei der Beklagten als Arbeitnehmerin beschäftigt gewesen sei. Die vertragliche Vergütungsabrede, die rechnerisch einen Stundenlohn von 1,61 € brutto ergebe, sei wegen Lohnwuchers nach § 138 Abs. 2 BGB nichtig. Die deshalb nach § 612 Abs. 2 BGB geschuldete übliche Vergütung sei für 2015 und die vorangegangenen Jahre mangels einschlägiger tariflicher Regelungen mit 8,50 € brutto pro Stunde als sachgerecht und angemessen zugrunde zu legen. Da die Klägerin im beanspruchten Zeitraum 166 Wochen mit 43 Stunden wöchentlich beschäftigt worden sei, errechne sich auf dieser Grundlage die zuletzt geforderte Gesamtsumme von 60.673,00 €, von der die erhaltene Vergütung von 11.400,00 € abzuziehen sei. Als Arbeitnehmer habe die Klägerin Anspruch auf Erteilung eines qualifizierten Zeugnisses nach § 109 GewO und einer Arbeitsbescheinigung nach § 312 SGB III.
Gegen dieses, der Beklagten am 12.01.2016 zugestellte Urteil haben die Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 12.02.2016 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 11.04.2016 mit dem am 08.04.2016 eingegangenen Schriftsatz vom selben Tage begründet.
Die Beklagte vertritt weiterhin die Auffassung, dass zwischen den Parteien ein Praktikum und kein Arbeitsverhältnis bestanden habe. Das Arbeitsgericht habe die Voraussetzungen des Arbeitsverhältnisses im Sinne des § 611 BGB nicht geprüft. Der als Praktikumsvertrag bezeichnete Vertrag enthalte die für ein Praktikum typischen Regelungen, insbesondere solche mit Bezug zur Ausbildung als "Fachberater für Finanzdienstleistungen" und "Fachwirt für Finanzberatung". Nach der Verordnung über die Prüfung zu anerkannten Fortbildungsabschlüssen in der Finanzdienstleistungswirtschaft könne auch die über fünfjährige Praktikumsdauer nachvollzogen werden, da eine mindestens vierjährige Berufspraxis für die Zulassung zur Prüfung als Fachberater für Finanzdienstleistungen vorausgesetzt werde, § 3 Abs. 1 Nr. 3 der vorstehend genannten Verordnung. Zudem beschäftige die Beklagte keinen Arbeitnehmer, sondern nur freie Mitarbeiter. Außerdem könne die Klägerin keine Arbeitsleistungen erbracht haben, da nur geprüfte Finanzberater eine Zulassung und Erlaubnis erhielten, in der Finanzdienstleistungsbranche zu arbeiten. Die Klägerin habe Finanzprodukte und ein sicheres Auftreten mit einem gepflegten äußeren Erscheinungsbild und Umgangston im Mandantenkreis der Beklagten, die über 25 Jahre in der gehobenen Finanzdienstleistungsbranche etabliert sei, erlernen sollen. Der Vortrag der Klägerin in der Klageschrift sei unschlüssig gewesen. Insoweit stütze sich das Arbeitsgericht einseitig auf den Beklagtenvortrag. Begrifflichkeiten des Arbeitsverhältnisses habe die Beklagte als juristischer Laie verwandt. Da die Ausbildungsleiterin Frau L. die Klägerin zusätzlich am Montagabend, an jedem ersten Samstag im Monat und mehrmals die Woche zwei bis drei Stunden extra ausgebildet habe, habe keine Trennung von Ausbildungstätigkeiten und Arbeitsleistung stattgefunden, sondern es sei durchgängig ausgebildet worden. Tatsächlich habe sich die Klägerin intensiv mit den Internetblogs und dem Social-Media-Marketing der Beklagten beschäftigt, d.h. sie sollte Beiträge ins Internet einstellen, lesen, verstehen, passend zuordnen und verlinken, zusammengefasste Berichte schreiben und recherchieren. Hierdurch habe sie u.a. Mandantenakquise erlernt, sich inhaltlich mit den Finanzprodukten und dem Mandantenstamm der Beklagten auseinandergesetzt sowie ihre Schreib- und Sprachfertigkeiten verbessert. Daneben habe die Klägerin an Vorträgen der Beklagten oder externer Referenten und an Beratungsgesprächen teilgenommen sowie Webseminare besucht. Dementsprechend seien die gezahlten 300,00 € monatlich als Aufwandsentschädigung zu verstehen. Es verstoße gegen das Rückwirkungsverbot, für Vergütungsansprüche vor dem 01.01.2015 den erst zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Mindestlohn von 8,50 € pro Zeitstunde zugrunde zu legen. Sonstige Umstände für eine Vergütung von 8,50 € pro Zeitstunden seien nicht dargelegt worden. Als Praktikantin stünden der Klägerin weder ein Arbeitszeugnis noch eine Bescheinigung zur Vorlage bei der Bundesagentur für Arbeit zu.
Die Beklagte beantragt,
1. Das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 11.12.2015, Aktenzeichen 36 Ca 4986/15, wird abgeändert.
2. Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Das Arbeitsgericht habe zu Recht entschieden, dass es sich bei dem vorliegenden Rechtsverhältnis nicht um ein Praktikum, sondern um ein Arbeitsverhältnis gehandelt habe. Spätestens seit dem dritten Beschäftigungsjahr seien der Klägerin sämtliche Tätigkeiten, die sich stets wiederholt hätten und für deren Einzelheiten auf den Schriftsatz der Klägerin vom 25.05.2016, Seite 9 ff., Bezug genommen wird, so geläufig gewesen, dass ein "Anlernen" nicht mehr stattgefunden habe. Die Klägerin sei zu Akquise- und Marketingtätigkeiten gegen eine viel zu geringe Vergütung von 1,62 € brutto pro Stunde ausgenutzt worden. In der gesamten Zeit der Beschäftigung habe die Klägerin an nur 10 bis 15 Seminaren und 5 Mandantengesprächen teilgenommen.
Die Vergütung der Klägerin sei daher sittenwidrig. Für die Bestimmung der üblichen Vergütung nach § 612 Abs. 2 BGB seien Tarifverträge ähnlicher Branchen wie die des Banken- und Versicherungsgewerbes heranzuziehen. In der dortigen Sachbearbeitung würden letztlich ähnliche Tätigkeiten wie bei der Beklagten ausgeübt werden. Für das Versicherungsvermittlungsgewerbe habe sich das Tarifentgelt für Tätigkeiten, die Kenntnisse oder Fertigkeiten voraussetzten, wie sie im allgemeinen durch eine planmäßige Einarbeitung erworben würden, ab dem Jahr 2010 auf 1.638,00 € bezogen auf eine 38-StundenWoche belaufen, wodurch sich ein Stundenlohn in Höhe von 9,95 € brutto berechne.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die Schriftsätze der Beklagten vom 08.04.2016 (Bl. 311 - 355 d. A.) und vom 09.06.2016 (Bl. 426, 433 d. A.), der Klägerin vom 25.05.2016 (Bl. 393 - 414 d. A.) und die Sitzungsniederschrift vom 13.06.2016 (B. 423 - 425 d. A.) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
I.
Die nach § 64 Abs. 1, Abs. 2 lit b) statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO. Sie ist damit zulässig.
II.
Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zu Recht und mit zutreffender Begründung die Ansprüche der Klägerin auf Zahlung der Differenzvergütung, §§ 611 Abs. 1, 612 Abs. 2 BGB, sowie auf ein Erteilung eines qualifizierten Zeugnisses, § 109 GewO, und auf Ausstellung einer Arbeitsbescheinigung zur Vorlage bei der Bundesagentur für Arbeit, § 312 SGB III, entsprochen. Hierauf wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG Bezug genommen. Die Berufungsangriffe der Beklagten können keine andere rechtliche Bewertung begründen.
1. Der Klägerin stehen die geltend gemachten Ansprüche auf Differenzvergütung in Höhe von 60.673,00 € brutto abzüglich 11.400,00 € netto gemäß §§ 611, 612 Abs. 2, 138 Abs. 2 BGB, § 1 Abs. 1 und Abs. 2 MiLoG und § 4 Ziff. 2 Manteltarifvertrag für das Versicherungsvermittlergewerbe zu, weil die Klägerin im Zeitraum vom 01.01.2012 bis 10.03.2015 bei der Beklagten im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses beschäftigt wurde mit der Folge, dass die Vergütungsvereinbarung von 300,00 € brutto monatlich lohnwucherisch und nichtig ist, § 138 Abs. 2 BGB. Die durch das Arbeitsgericht nach § 612 Abs. 2 BGB ermittelte übliche Vergütung von 8,50 € brutto pro Stunde ist zugrunde zu legen.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist Arbeitnehmer, wer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienst eines Anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist. Der Arbeitnehmer erbringt seine vertraglich geschuldete Leistung im Rahmen einer von Dritten bestimmten Arbeitsorganisation. Seine Eingliederung in die Arbeitsorganisation zeigt sich insbesondere darin, dass er einem Weisungsrecht unterliegt, das Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit betreffen kann.
Demgegenüber ist ein Praktikant in aller Regel vorübergehend in einem Betrieb praktisch tätig, um sich die zur Vorbereitung auf einen - meist akademischen - Beruf notwendigen praktischen Kenntnisse und Erfahrungen anzueignen. Allerdings findet in einem Praktikantenverhältnis keine systematische Berufsausbildung statt. Vielmehr wird eine darauf beruhende Tätigkeit häufig Teil einer Gesamtausbildung sein und beispielsweise für die Zulassung zu Studium oder Beruf benötigt. Danach steht bei einem Praktikantenverhältnis ein Ausbildungszweck im Vordergrund. Die Vergütung ist der Höhe nach deshalb auch eher eine Aufwandsentschädigung oder Beihilfe zum Lebensunterhalt (vgl. BAG, Urteil vom 13.03.2003 - 6 AZR 594/01 - BeckRS 2008, 54164).
b) Nach diesen Grundsätzen, denen sich die erkennende Kammer anschließt, ist die Klägerin in der Zeit vom 01.01.2012 bis 10.03.2015 auf der Grundlage des als "Praktikumsvertrags" bezeichneten Vertrags im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses bei der Beklagten beschäftigt worden.
aa) Für diese Bewertung sprechen bereits die verschiedenen Regelungen im "Praktikumsvertrag", die typische Rechte und Pflichten aus einem Arbeitsverhältnis betreffen.
So durften der Klägerin "Verrichtungen und Aufgaben" übertragen werden, wozu insbesondere gehörte, "Internetrecherchen zu führen". In § 4 Abs. 3 Praktikumsvertrag hatte sich die Beklagte ein uneingeschränktes Weisungsrecht vorbehalten, wonach sie der Klägerin entsprechend § 106 GewO bestimmte Tätigkeiten zuweisen konnte. Eine Arbeitstätigkeit der Klägerin bestätigt auch § 4 Abs. 5 Praktikumsvertrag, der die Klägerin verpflichtet, die Betriebsmittel nur zur den ihr "übertragenen Arbeiten zu verwenden." Demgegenüber wird einem Praktikanten ermöglicht, Arbeitsvorgänge kennenzulernen und unter Kontrolle und gemeinsamer nachfolgender Analyse übungsweise zu verrichten (siehe BAG, Urteil vom 10.02.2015 - 9 AZR 289/13 - NJOZ 2015, 1226, Rn. 18). Andere Regelungen des "Praktikumsvertrags" haben Nebenpflichten des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis zum Gegenstand, wie z.B. die Regelung zur Arbeitsunfähigkeit aus dem Entgeltfortzahlungsgesetz in § 4 Abs. 8 Praktikumsvertrag oder die Regelung zur Genehmigungspflichtigkeit von Nebentätigkeiten. Zudem weist § 6 Abs. 2 mit der Regelung zur "Urlaubsplanung" darauf hin, dass die Klägerin bei der Beklagten eine Tätigkeit verrichten sollte, auf die die Beklagte betrieblich angewiesen war, so dass ihre urlaubsbedingte Abwesenheit frühzeitig mitgeteilt werden sollte. Ebenso bestätigt die Regelung zur Probezeit in § 1 Abs. 2, 7 Praktikumsvertrag ein Arbeitsverhältnis, weil eine vorgeschaltete Probezeit typisch für ein Arbeitsverhältnis ist, bei dem der Arbeitgeber erst überprüfen will, ob der Arbeitnehmer die von ihm erwartete Leistung tatsächlich erbringt.
bb) Ein Indiz für das Vorliegen des Arbeitsverhältnisses ist zudem die beabsichtigte mehrjährige Dauer des Praktikums.
Zwar kann nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 der Verordnung über die Prüfung zu anerkannten Fortbildungsabschlüssen in der Finanzdienstleistungswirtschaft auch zur Prüfung zugelassen werden, wer eine "mindestens vierjährige Berufspraxis" nachweist. Wie der Vergleich zu den in den vorstehend genannten Ziffern 1 und 2 des § 3 Abs. 1 der Verordnung geregelten Zulassungsvoraussetzungen zeigt, die eine sechsmonatige bzw. einjährige "Berufspraxis", jedoch nach dem erfolgreichen Abschluss einer Ausbildung als Bankkaufmann, Versicherungskaufmann oder in einem anderen kaufmännischen oder verwaltenden Ausbildungsberuf verlangen, kann "Berufspraxis" im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 der Verordnung nur eine Tätigkeit sein, die qualitativ der Berufspraxis eines ausgebildeten Bank-, Versicherungs- oder sonstigen Kaufmanns gleichsteht. Dies bestätigt auch § 3 Abs. 2 der Verordnung, nach dem die "Berufspraxis" inhaltlich wesentliche Bezüge zu den in § 2 Abs. 2 genannten Aufgaben eines Fachberaters für Finanzdienstleistungen haben muss, der die "Beratung von Privatkunden im Hinblick auf Geld- und Vermögensanlagen, Personenvorsorge, Sach- und Vermögenssicherung sowie Immobilienanlagen und Finanzierungen eigenständig und verantwortungsvoll" durchführen soll. Im Hinblick auf den angestrebten Zweck der Zulassung zur Prüfung zur Fachberaterin für Finanzdienstleistungen hätte die Tätigkeit der Klägerin bei der Beklagten deshalb eine berufliche Tätigkeit beinhalten müssen, die einer Berufspraxis entspricht, wie sie typischerweise nach Abschluss einer kaufmännischen Ausbildung ausgeübt wird. Entsprechendes kann ein Praktikum, das auf ein Kennenlernen, "Hineinschnuppern" und die übungsweise Verrichtung von Aufgaben mit ihrer anschließenden Kontrolle und Besprechung ausgerichtet ist, nicht leisten.
cc) Für die Annahme eines Arbeitsverhältnisses ist zudem auf die Behauptung der Beklagten zu verweisen, dass die Klägerin bis zu ihrem Ausscheiden "über den Rahmenplan der praktischen Lernprozesse der ersten Monate nicht hinausgekommen" sei. Träfe diese Behauptung zu, hätte die Klägerin spätestens seit Sommer 2012 ausschließlich leichte organisatorische Arbeiten durchgeführt, einfache Financial Plannings selbst aufgenommen, Mandantenmarketing persönlich und mittels anderer Kommunikationsmedien durchgeführt, Meetings, Mandantenseminare und Mitarbeiterveranstaltungen organisiert, wie dies im Ausbildungsrahmenplan, Anlage B2, unter dem ersten Ausbildungsjahr niedergelegt ist. Entsprechendes hat die Beklagte in ihrem Schriftsatz vom 08.04.2016, Seite 8, zudem eingeräumt. Einerseits hätte die Klägerin damit gerade keine weiteren Tätigkeiten zur Vorbereitung auf die Prüfung als Fachberaterin für Finanzdienstleistungen kennengelernt. Andererseits hätten sich ihre für diese Tätigkeiten erworbenen Kenntnisse verfestigt und verstetigt mit der Folge, dass sie umgehend wieder der Tätigkeit selbst zu Gute gekommen wären (siehe hierzu auch LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 08.02.2008 - 5 Sa 45/07 - NZA 2008, 768). Die Klägerin hätte Arbeitsleistungen erbracht.
dd) Schließlich rechtfertigen die Schadensersatzforderungen der Beklagten die Annahme, dass zwischen den Parteien ein Arbeitsverhältnis vorgelegen hat. So macht die Beklagte wegen "absichtliche(r) Arbeitsverweigerung von E-Mail-Versand" 2.280,00 € und wegen "E-Mail-Versand obwohl nicht erlaubt" 1.467,93 € Schadensersatz geltend. Damit wird offenbar, dass der Klägerin Arbeit zugewiesen worden ist, die sie aber absichtlich verweigert haben soll, bzw. die Klägerin mit E-Mail-Versand befasst war, die sie jedoch weisungswidrig ausgeführt haben soll. Diese Schadensersatzforderungen stehen in einem unauflösbaren Widerspruch zu den Behauptungen der Beklagten, die Klägerin sei lediglich als Praktikantin eingesetzt und angelernt worden.
ee) Soweit die Beklagte einwendet, die Klägerin könne keine Arbeitsleistung erbracht haben, da nur geprüfte Finanzberater eine Zulassung und Erlaubnis erhielten, in der Finanzdienstleistungsbranche zu arbeiten, übersieht die Beklagte, dass ein rechtliches Dürfen nicht notwendig einem tatsächlichen Handeln entspricht. Im Übrigen macht die Klägerin lediglich einfache Tätigkeiten wie Büroorganisation und Internetrecherche geltend, die nicht erlaubnispflichtig sein dürften.
ff) Soweit die Beklagte darauf hinweist, die Klage sei unschlüssig gewesen und das Arbeitsgericht habe sich einseitig auf den Beklagtenvortrag gestützt, greift auch dieses Bedenken nicht durch. Der Klageschrift war bereits der Praktikumsvertrag beigefügt, der wie oben ausgeführt, bereits auf die Vereinbarung eines Arbeitsverhältnisses hindeutet. Im Übrigen ist des Gerichten für Arbeitssachen nicht verwehrt, Vortrag der beklagten Partei auch zu ihren Lasten zu verwerten.
c) Lag deshalb nach allem ein Arbeitsverhältnis vor, stellt sich die monatliche Vergütungsabrede von 300,00 € als Lohnwucher im Sinne des § 138 Abs. 2 BGB dar. Die Vergütungsabrede ist deshalb nichtig.
Die Voraussetzungen des § 138 Abs. 2 BGB, wonach nichtig insbesondere ein Rechtsgeschäft ist, durch das jemand durch Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögens oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen sich oder einen Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen, liegen vor. Die Beklagte hat die Unerfahrenheit der Klägerin, die 2009 gerade 17 Jahre alt war und noch über keine beruflichen Erfahrungen verfügte, ausgenutzt. Auch stammte die Klägerin aus wirtschaftlich ärmeren Verhältnissen und soll erhebliche Defizite in ihren Schreib- und Sprachfähigkeiten gehabt haben (Berufungsbegründung, Seite 13 und 15). Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass weder ihr noch ihren Eltern die Verschiedenheit der Begriffe "Praktikum" und "Berufspraxis" bewusst waren. Darüber hinaus war die Klägerin im Sommer 2009 dringend auf eine berufliche Perspektive angewiesen, nachdem sie sich über ein Jahr erfolglos um eine Ausbildungsstelle beworben hatte. Dabei hat ihr die Beklagte immer wieder, etwa durch das seitens der Klägerin eingereichte Zeugnis und zuletzt in der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht, den Eindruck vermittelt, sie würde es zu einer Fachberaterin für Finanzdienstleistungen schaffen können, obwohl die Beklagte erkannt hatte, dass die Klägerin "über den Rahmenplan der praktischen Lernprozesse der ersten Monate nicht hinausgekommen sei". Durch die Vorlage eines Parallelfalls seitens der Beklagten zeigt sich, dass die Beklagte schon zuvor und über Jahre einen "Praktikanten" mit vergleichbaren Tätigkeiten zu einer vergleichbar geringen Vergütung beschäftigt hat, der ebenfalls wie die Klägerin eine Prüfung als Fachberater für Finanzdienstleistungen anstrebte.
d) Schließlich bestehen keine Bedenken gegen eine Stundenvergütung von 8,50 €.
Für den Zeitraum vom 01.01.2015 bis 10.03.2015 ergibt sich dies bereits aus § 1 Abs. 1 und 2 MiLoG. Aber auch für die Vorjahre bis rückwirkend 01.01.2012 ist dieser Stundenlohn gerechtfertigt. Die Klägerin hat insoweit zu Recht auf die Vergütungsregelung im ersten Beschäftigungsjahr einer Angestellten des Versicherungsvermittlergewerbes nach der Gehaltsgruppe I von 1.638,00 € brutto bei 38 Wochenstunden (Anlage BB3) hingewiesen, woraus sich ein Stundenlohn von 9,95 € brutto errechnet. Die Klägerin hat bei der Beklagten vergleichbare Tätigkeiten verrichtet, wie sie die Gehaltsgruppenmerkmale in § 4 Ziff. 2 Gehaltsgruppe I des Manteltarifvertrags für das Versicherungsvermittlergewerbe voraussetzen, nämlich einfache Büroarbeiten, einfache Schreib- und Rechenarbeiten, einfache Arbeiten an Datenerfassungs- oder Prüfgeräten, Formularausfertigung nach Vorgabe, Postabfertigungsarbeiten, Arbeiten in der Materialverwaltung. Auf die Frage der Rückwirkung des Mindestlohngesetzes auf Zeiträume vor seinem Inkrafttreten kommt es deshalb nicht an.
Gegen die Berechnung als solche hat die Beklagte keine Einwände vorgebracht, so dass sie als zutreffend zugrunde zu legen ist. Wegen Klagerücknahme auch hinsichtlich des zu 2. ursprünglich begehrten Zinsanspruchs war über Zinsen nicht mehr zu entscheiden.
2. Als Arbeitnehmerin hat die Klägerin Anspruch auf ein qualifiziertes Zeugnis gemäß § 109 GewO. Des Weiteren ist die Beklagte gemäß § 312 SGB III verpflichtet, der Klägerin die begehrte Arbeitsbescheinigung zur Vorlage gegenüber der Bundesagentur für Arbeit auszustellen.
III.
Die Beklagte hat die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels zu tragen, § 97 Abs. 1 ZPO.
IV.
Es bestand kein Anlass, die Revision zum Bundesarbeitsgericht zuzulassen, § 72 Abs. 2 ArbGG.