· Fachbeitrag · Unfallversicherung
Bewusstseinsstörung: Darlegungs- und Beweislast beim alkoholisierten Fußgänger
von VRiOLG a.D. Werner Lücke, Telgte
(OLG Köln 28.9.12, 20 U 107/12, Abruf-Nr. 130693) |
Sachverhalt und Entscheidungsgründe
Die VN hatte als Fußgängerin bei Dunkelheit mit einer BAK von 1,92 ‰ versucht, vor einem herannahenden PKW die Straße zu überqueren. Dabei war sie vom PKW erfasst und verletzt worden. Der von ihr in Anspruch genommene Unfallversicherer lehnte eine Entschädigung ab, weil der Leistungsausschluss Bewusstseinsstörung (Nr. 5.1.1 AUB 2008) greife. Im Prozess hatte sich die VN auf Sturztrunk berufen, weshalb die für den Unfallzeitpunkt errechnete BAK zu hoch angegeben sei. Die Klage ist in beiden Instanzen erfolglos geblieben. Für das OLG Köln war dafür Folgendes maßgeblich.
War ein Kraftfahrer bei einem Unfall im Straßenverkehr absolut fahruntüchtig, ist eine leistungsausschließende Bewusstseinsstörung ohne Möglichkeit des Gegenbeweises gegeben (Knappmann in Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl., AUB 2008 Nr. 5 Rn 13). Das gilt entsprechend für Fußgänger. Unterhalb des absoluten Grenzwerts, der bei Fußgängern bei etwa 2,0 ‰ liegt (Knappmann, a.a.O.), setzt eine alkoholbedingte Bewusstseinsstörung voraus, dass entweder alkoholtypische Ausfallerscheinungen vorliegen oder das festgestellte verkehrswidrige Verhalten typischerweise durch Alkoholgenuss bedingt ist (vgl. BGH VersR 88, 733; Knappmann, a.a.O., m.w.N.). Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die versicherte Person an einer alkoholbedingten Bewusstseinsstörung litt, trägt der VR. Dabei genügt es hinsichtlich der Alkoholisierung grundsätzlich, wenn er sich auf einen im Ermittlungsverfahren festgestellten BAK-Wert beruft (BGH NJW 02, 3112).
Verteidigt sich der VN gegen eine Ablehnung der Leistungspflicht wegen alkoholbedingter Bewusstseinsstörung mit der Behauptung, der festgestellte Blutalkoholwert beruhe auf einem Nachtrunk, so ist er dafür beweispflichtig (KG r+s 98, 525; OLG Nürnberg VersR 84, 436; OLG Oldenburg VersR 84, 482). Dies folgt aus dem allgemeinen Grundsatz, dass in der Unfallversicherung derjenige, der trotz objektiv festgestellter absoluter Fahruntüchtigkeit das Vorliegen eines Leistungsausschlusses bestreitet, dies auch zu beweisen hat (KG a.a.O.). Für einen behaupteten Sturztrunk vor dem Unfall gilt nichts anderes. Beweis hat die VN insoweit aber nicht angetreten.
Im Übrigen liegt absolute Fahruntüchtigkeit nicht nur vor, wenn der entsprechende BAK-Grenzwert zum Unfallzeitpunkt vorliegt. Ausreichend ist, wenn der Fahrer zu diesem Zeitpunkt eine Alkoholmenge im Körper hat, die zu einer BAK führen wird, bei der von absoluter Fahruntüchtigkeit auszugehen ist (BGH NJW 74, 246). Die Anflutungswirkung nach Trinkende auf den Grenzwert hin gleicht den Konzentrationsfehlbetrag bis zum Grenzwert zumindest aus. Deshalb ist es für die Frage der absoluten Fahruntüchtigkeit egal, ob der Alkohol in der entscheidenden Menge vor, während oder erst nach Beendigung der Fahrt in das Blut übertritt (BGH a.a.O.; König in Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. 2005, § 316 Rn. 81). Diese für die Fahruntüchtigkeit von Kraftfahrern geltenden Grundsätze müssen für die Verkehrsuntüchtigkeit von Fußgängern in gleicher Weise Anwendung finden.
Der Unfall ist durch ein Fehlverhalten der VN verursacht worden, das typischerweise durch Alkoholgenuss bedingt ist. Im Hinblick auf den Unfallhergang, der vernünftigerweise nur durch die Alkoholbeeinflussung erklärt werden kann, ist bei der vorliegenden, an 2,0 ‰ heranreichenden BAK von einer alkoholbedingten Bewusstseinsstörung zum Unfallzeitpunkt auszugehen. Eine alkoholbedingte Bewusstseinsstörung setzt bei einem im Straßenverkehr verunfallten Fußgänger nicht voraus, dass der Grenzwert von 2,0 ‰ überschritten wurde. Liegt ein grob verkehrswidriges Verhalten vor, kann der Schluss auf eine alkoholbedingte Bewusstseinsstörung auch dann gezogen werden, wenn die BAK noch unter dem Grenzwert lag (vgl. OLG Hamm NJW-RR 03, 811; OLG Braunschweig VersR 97, 1343; Knappmann, a.a.O. m.w.N.).
So verhält es sich hier. Eine typische Wirkung des Alkohols ist, dass Geschwindigkeiten und Entfernungen nicht mehr richtig eingeschätzt werden können. Der Unfall ist dadurch verursacht worden, dass die VN die Fahrbahn betrat, obwohl sich dort - für sie unstreitig sichtbar - die Zeugin T mit ihrem Fahrzeug näherte. Es mag zwar sein, dass es angesichts von Dunkelheit und Nässe auch für einen nüchternen Verkehrsteilnehmer schwierig gewesen wäre, die Entfernung und die Geschwindigkeit des herannahenden Fahrzeugs richtig einzuschätzen. Dieser hätte aber, wenn ihm die Einschätzung Schwierigkeiten bereitet hätte, von einem Überqueren der Fahrbahn abgesehen und das herannahende Fahrzeug zur Sicherheit passieren lassen.
Steht fest, dass der Versicherte zum Unfallzeitpunkt unter einer alkoholbedingten Bewusstseinsstörung litt, spricht der erste Anschein für die Mitursächlichkeit der Bewusstseinsstörung für den Unfall (BGH, VersR 88, 733). Diesen Anschein hat die VN nicht erschüttert. Allein die fast immer bestehende denkgesetzliche Möglichkeit, dass der Versicherte den Unfall auch ohne Alkoholeinfluss erlitten haben könnte, entkräftet den Anscheinsbeweis nicht (OLG Celle VersR 83, 1131). Der Anscheinsbeweis kann dann nur als entkräftet angesehen werden, wenn konkrete Tatsachen die naheliegende Möglichkeit ergeben, dass auch ein Nüchterner eine solche Gefahrenlage bei Aufwendung üblicher Aufmerksamkeit und Sorgfalt nicht gemeistert hätte (BGH VersR 57, 1479). Ein Nüchterner hätte den Unfall vermieden, weil er nicht versucht hätte, unmittelbar vor einem herannahenden Fahrzeug die Fahrbahn zu überqueren. Dass der Unfall zumindest auch durch die alkoholbedingte Bewusstseinsstörung der VN verursacht wurde, ist daher nicht zweifelhaft.
Praxishinweis
Für den Leistungsausschluss der Bewusstseinsstörung genügt jede - nicht notwendig krankheitsbedingte - Gesundheitsstörung, die zu einer Störung der Aufnahme- oder Reaktionsfähigkeit in einem Maße führt, dass der Geschädigte den Anforderungen der konkreten Gefahrenlage nicht mehr gewachsen ist. Auf die Dauer der Bewusstseinsstörung kommt es nicht an. Beweispflichtig für das Vorliegen der Störung und deren Ursächlichkeit für den Unfall ist der VR (vgl. zuletzt VK 13, 8 und ausführlich VK 09, 46).
Für den Bereich der Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr unter Alkohol haben sich besondere Regeln für die Beantwortung der Frage herausgebildet, wann von einer Bewusstseinsstörung auszugehen ist. Diese wird mit (absoluter oder relativer) Fahruntüchtigkeit gleichgesetzt, wobei im Bereich bis 0,8 ‰ nach älterer Rechtsprechung des BGH (VersR 88, 951; dazu Prölss/Martin-Knappmann Nr. 5 AUB 2008 Rn. 17: heute aufgrund geänderter wissenschaftlicher Überzeugungen 0,5 ‰) allerdings eine Bewusstseinsstörung stets zu verneinen ist. Auch in der Unfallversicherung kommt es deshalb - anders als bei relativer Fahruntüchtigkeit - bei absoluter Fahruntüchtigkeit auf weitere Beweisanzeichen für alkoholbedingte Ausfallerscheinungen nicht an. Es ist deshalb etwas missverständlich, wenn in dem Urteil einerseits absolute Verkehrsuntüchtigkeit bejaht, gleichwohl aber alkoholbedingte Ausfallerscheinungen geprüft werden. Vielleicht ist dies aber dadurch bedingt, dass es - das OLG nimmt Knappmann zu Unrecht für seine Auffassung in Anspruch - nach wie vor ungeklärt ist, ob es für Fußgänger überhaupt einen absoluten Grenzwert gibt. Dasselbe würde für Beifahrer oder ihr Fahrrad schiebende Verkehrsteilnehmer gelten. Ggf. sollte dies zugunsten des Mandanten in Abrede gestellt werden.
Das OLG hält trotz der Beweislast des VR für das Vorliegen des Ausschlusses den VN für einen von ihm behaupteten Sturztrunk für beweispflichtig. Auch dies ist höchst problematisch (zu Recht verneinend Knappmann, a.a.O. Rn. 8 für Nachtrunk) und sollte deshalb ebenfalls in Abrede gestellt werden. Im Übrigen, insbesondere zu den Auswirkungen der Anflutung des Alkohols und zum Beweis des ersten Anscheins für Ursächlichkeit bei feststehender Fahruntüchtigkeit, bewegt sich das Urteil in gewohnten Bahnen. Es belegt erneut, dass es in diesen Fällen sehr schwierig ist, dem Mandanten zu einer Unfallentschädigung zu verhelfen. Die besten Aussichten bestehen noch bei relativer Fahruntüchtigkeit. Dabei muss stets vom VR bewiesen werden, dass der Umstand, der zu dem Unfall geführt hat, ein typisch alkoholbedingtes Versagen darstellt. Es empfiehlt sich dringend, dies nicht nur in Abrede zu stellen, sondern auch aufzuzeigen, dass derselbe Fehler nicht selten auch nüchternen Kraftfahrern unterläuft oder auf nicht alkoholisch bedingtem Versagen, etwa einer Schreckreaktion, beruhen kann (ggf. durch Sachverständigengutachten).
Weiterführende Hinweise
- Das müssen Sie zum Ausschlussgrund wegen Bewusstseinsstörung wissen: VK 11, 110
- Unfallversicherung und Alkohol: Was Sie bei der Fallbearbeitung beachten müssen (mit Checklisten und Rechtsprechungsübersicht): Lücke, VK 06, 19
- So müssen Sie bei Bewusstseinsstörung und fehlender Erinnerung des VN vorgehen: OLG Düsseldorf VK 13, 8