19.02.2019 · IWW-Abrufnummer 207289
Landesarbeitsgericht München: Beschluss vom 30.08.2018 – 1 SHa 1/18
Der Wahlgerichtsstand nach § 215 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) gilt auch für Verfahren, für die die Gerichte für Arbeitssachen rechtswegzuständig sind.
Tenor:
Als örtlich zuständiges Gericht wird das Arbeitsgericht München bestimmt.
Gründe
I.
Der Kläger verfolgt aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung gegenüber den Beklagten die Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente.
Der Kläger, gelernter Bankkaufmann, wurde im Jahre 1998 im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses von seiner damaligen Arbeitgeberin, einer Bank, bei der Beklagten zu 1 angemeldet. Die danach zugesagte Alters-, Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenenversorgung führt er zwischenzeitlich mit eigenen Beiträgen fort (vgl. Versicherungsschein vom 07.09.2015, Bl. 33 d.A.). Sitz der Beklagten zu 1 ist C-Stadt.
Seit 15.04.2015 erhielt der Kläger (befristet) eine gesetzliche Rente wegen voller Erwerbsminderung. Einen Antrag auf Berufsunfähigkeitsrente aus dem mit der Beklagten zu 1 bestehenden Versicherungsverhältnis lehnte diese mit Schreiben vom 10.11.2015 (Bl. 46 d.A.) unter Berufung auf ein medizinisches Gutachten ab. Aus ihrer Sicht sei die Berufsfähigkeit des Klägers nicht um mehr als die Hälfte herabgesetzt.
Der Kläger erhob mit Schriftsatz vom 21.11.2016 Klage zum Landgericht A-Stadt I und beantragte die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zu 1 an ihn ab dem 01.03.2015 eine Berufsunfähigkeitsrente zu zahlen. Die Beklagte zu 1 rügte den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten und beantragte die Verweisung des Rechtsstreits an das Arbeitsgericht C-Stadt. Der Kläger erklärte sich mit einer Verweisung an das Arbeitsgericht einverstanden, zuständig sei nach seiner Wahl gemäß § 215 Abs. 1 VVG aber das Arbeitsgericht München. Mit Schriftsatz vom 17.02.2017 (Bl. 198 ff d.A.) erweiterte der Kläger seine Klage auf den Beklagten zu 2 (Unterstützungskasse), der seinen Sitz ebenfalls in C-Stadt hat.
Mit Beschluss vom 15.03.2017 (Bl. 206 ff d.A.) erklärte das Landgericht A-Stadt I den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten für unzulässig und verwies den Rechtsstreit an das Arbeitsgericht München. Zur örtlichen Zuständigkeit führte es aus, das Versicherungsverhältnis unterliege unabhängig von der Frage des Rechtswegs den Vorschriften des VVG. Damit finde auch § 215 Abs. 1 VVG Anwendung, der dem Kläger mit einem Wahlgerichtsstand die Möglichkeit der wohnortnahen Klage eröffne. Gründe, warum § 215 Abs. 1 VVG vor den Arbeitsgerichten nicht anwendbar sein solle, seien nicht ersichtlich.
Nachdem das Arbeitsgericht zunächst Gütetermin bestimmt hatte, beantragten die Beklagten den Termin aufzuheben und den Rechtsstreit an das Arbeitsgericht C-Stadt zu verweisen. Mit Beschluss vom 23.06.2017 (Bl. 233 ff d.A.) gab das Arbeitsgericht dem Antrag statt und verwies den Rechtsstreit an das Arbeitsgericht C-Stadt. Nach § 46 Abs. 2 ArbGG seien für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit allein die §§ 12 ff ZPO maßgeblich und nicht auch andere Gerichtsstandsregelungen außerhalb der Zivilprozessordnung. Dafür, über den Gesetzeswortlaut hinausgehend § 215 VVG gerichtsstandsbegründend anzuwenden, sei kein Raum, zumal zu berücksichtigen sei, dass zwischen privatrechtlichen Versicherungsverträgen von Versicherungsnehmern und Versicherern einerseits und den zur Durchführung der betrieblichen Altersversorgung begründeten Versicherungsverhältnissen allein schon aufgrund des Dreiecksverhältnisses grundlegende Unterschiede bestünden.
Mit Beschluss vom 12.12.2017 (Bl. 275 d.A.) lehnte das Arbeitsgericht C-Stadt die Übernahme des Rechtsstreits ab und legte diesen dem Landesarbeitsgericht München zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts vor. Der Verweisungsbeschluss sei offensichtlich gesetzeswidrig, weil den Verfahrensbeteiligten zuvor kein rechtliches Gehör gewährt worden sei. In der Sache sei eine örtliche Zuständigkeit des Arbeitsgerichts C-Stadt nicht gegeben, weil der Kläger von seinem Wahlrecht nach § 35 ZPO Gebrauch gemacht habe. § 215 VVG finde auch auf Verfahren vor der Arbeitsgerichtsbarkeit Anwendung.
II.
Zuständig ist das Arbeitsgericht München. Dessen Verweisungsbeschluss war für das Arbeitsgericht C-Stadt nicht bindend.
1.) Der Antrag des Arbeitsgerichts C-Stadt auf Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO ist zulässig. Das Arbeitsgericht München und das Arbeitsgericht C-Stadt haben sich durch Beschlüsse vom 23.06.2017 und 12.12.2017 jeweils rechtskräftig für unzuständig erklärt. Nachdem das Arbeitsgericht München zuerst mit dem Verfahren befasst war, ist für die Bestimmung des zuständigen Gerichts das Landesarbeitsgericht München zuständig (§ 36 Abs. 2 ZPO).
2.) Aufgrund des Verweisungsbeschlusses des Arbeitsgerichts München vom 23.06.2017 ist die örtliche Zuständigkeit des Arbeitsgerichts C-Stadt nicht begründet worden, denn der Verweisungsbeschluss bindet entgegen der Regelung in § 48 Abs. 1 ArbGG i.V.m. § 17 a Abs. 2 Satz 3 GVG das Arbeitsgericht C-Stadt nicht.
Zwar sind auch fehlerhafte Verweisungsbeschlüsse für das Gericht, an das verwiesen wird, grundsätzlich bindend. Eine Ausnahme ist aber dann gegeben, wenn die Verweisung offensichtlich gesetzeswidrig ist. Es ist anerkannt, dass ein Verweisungsbeschluss auch deshalb offensichtlich gesetzeswidrig sein kann, wenn den Verfahrensbeteiligten rechtliches Gehör nicht gewährt wurde (vgl. Germelmann/Künzl ArbGG, 9. Aufl. 2017, § 48 Rn. 102).
Vorliegend hat das Arbeitsgericht München dem Kläger vor seinem Verweisungsbeschluss vom 23.06.2017 kein rechtliches Gehör auf den Schriftsatz der Beklagten vom 12.06.2017 gewährt. In diesem Schriftsatz beantragten die Beklagten nicht nur die Aufhebung des bereits bestimmten Gütetermins, sondern auch die Verweisung an das Arbeitsgericht C-Stadt und führten hierzu unter Bezugnahme auf beiliegende Beschlüsse des Arbeitsgerichts München und des Arbeitsgerichts Oberhausen auch inhaltlich aus. Der Kläger musste, nachdem das Landgericht A-Stadt I sich in seinem Verweisungsbeschluss vom 15.03.2017 mit der örtlichen Zuständigkeit und § 215 VVG auseinandergesetzt und das Arbeitsgericht München Gütetermin bestimmt hat, nicht damit rechnen, dass das Arbeitsgericht München den Rechtsstreit verweist, ohne ihm zuvor rechtliches Gehör eingeräumt zu haben. Der Verweisungsbeschluss vom 23.06.2017 ist deshalb wegen Verletzung rechtlichen Gehörs offensichtlich gesetzeswidrig.
3.) Als örtlich zuständiges Arbeitsgericht ist das Arbeitsgericht München zu bestimmen, denn § 215 VVG gilt auch für Verfahren, für die die Gerichte für Arbeitssachen rechtswegzuständig sind. Der Kläger hat mit Klageeinreichung in A-Stadt und noch einmal ausdrücklich mit Schriftsatz vom 19.01.2017 eine entsprechende Gerichtsstandswahl (§ 35 ZPO) getroffen.
a) Das Versicherungsverhältnis unterliegt unabhängig von der Frage des Rechtswegs den Vorschriften des VVG (LG München I 15.03.2017 - 12 O 19560/16 Ziff. II. 2.)
Die Anwendbarkeit des § 215 VVG im arbeitsgerichtlichen Verfahren ist allerdings umstritten. Verschiedene Landgerichte haben Verfahren gegen die Beklagte zu 1 an das Arbeitsgericht C-Stadt verwiesen, ohne sich mit einer Anwendbarkeit des § 215 VVG im arbeitsgerichtlichen Verfahren auseinanderzusetzen (LG Lübeck 11.05.2015 - 4 O 252/14; LG Coburg 08.10.2015 - 13 O 353/15; LG Kiel 24.11.2015 - 12 O 323/15; LG Bad Kreuznach 24.03.2016 - 2 O 52/16; LG Hamburg 10.05.2016 - 314 O 49/16). Das Arbeitsgericht München hält in seinem Beschluss vom 16.09.2014 (6 Ca 8736/14) das VVG mit seinen Regelungen nur für "klassische" private Versicherungsverträge anwendbar und das Arbeitsgericht Oberhausen geht davon aus, dass § 46 Abs. 2 ArbGG nur auf die §§ 12 bis 40 ZPO und nicht auch auf andere Regelungen zum Gerichtsstand verweist, insbesondere nicht auf § 215 VVG (Beschluss vom 10.03.2015 - 3 Ca 1985/14). Letzterer Auslegung des § 46 Abs. 2 ArbGG schließt sich das Arbeitsgericht München in seinem Verweisungsbeschluss vom 23.06.2017 an. Demgegenüber halten das LG Gießen (25.03.2013 - 5 O 496/12) und das LG A-Stadt I (Beschluss im vorliegenden Verfahren vom 15.03.2017 - 12 O 19560/16) § 215 Abs. 1 VVG auch bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten für anwendbar. Letzterer Auffassung hat sich die Kommentarliteratur angeschlossen (vgl. Klimke in Prölss/Martin, VVG, 63. Aufl. 2018, § 215 Rn. 8 b; Link/Klaus in Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 2. Aufl. 2017, § 215 VVG Rn. 1).
b) Die erkennende Kammer ist ebenfalls der Auffassung, dass § 215 VVG auch auf Verfahren vor den Gerichten für Arbeitssachen Anwendung findet.
Aus dem Wortlaut des § 215 VVG ergibt sich keine Beschränkung auf Verfahren vor den ordentlichen Gerichten. Ebenso wenig folgt aus dem systematischen Zusammenhang ein anderes. Denn die Bestimmungen des Versicherungsvertragsgesetzes enthalten an keiner Stelle einen Vorbehalt, der eine Unanwendbarkeit des VVG auf Verfahren vor den Arbeitsgerichten ausspräche. Im Gegenteil ergibt sich aus dem Fehlen einer ausschließlichen Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte für Klagen aus Versicherungsverhältnisses, dass die Bestimmungen des Versicherungsvertragsrechts, d.h. das gesamte VVG, auch im Arbeitsgerichtsprozess uneingeschränkt Anwendung findet (LG Gießen 25.03.2013 - 5 O 496/12 - Ziff. II. 2. b) cc)).
Ebenso wenig lässt sich aus § 46 Abs. 2 ArbGG ableiten, dass Bestimmungen zur örtlichen Zuständigkeit außerhalb der ZPO keine Anwendung finden könnten. Damit würde der allgemeine Verweis in § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG auf die Vorschriften der Zivilprozessordnung über das Verfahren vor dem Amtsgericht überinterpretiert. Der Titel 2 der ZPO regelt den "Gerichtsstand" und dennoch ist allgemein anerkannt, dass die Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit nicht nur in den §§ 12 - 34 ZPO geregelt sind, sondern dass sich weitere Vorschriften nicht nur verstreut in der ZPO, sondern auch in vielen anderen Gesetzen finden lassen (Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 38. Aufl. 2017, § 12 Vorb. Rn. 1). Auch das ArbGG kennt weitere Normen zur örtlichen Zuständigkeit (§§ 48 Abs. 1 a, 61 b Abs. 2 ArbGG). Wenn die Zivilrechtsordnung für einen speziellen rechtlichen Zusammenhang einen besonderen Gerichtsstand kennt, wäre es nicht nachvollziehbar, warum dieser besondere Gerichtsstand nicht auch dann zur Anwendung kommen soll, wenn diese Rechtsfragen vor den Gerichten für Arbeitssachen verhandelt werden.
Das gilt umso mehr, wenn man teleologische Gesichtspunkte mit einbezieht. Zu Recht weist das LG Gießen (aaO.) darauf hin, dass § 215 VVG für den Bereich der versicherungsrechtlichen Streitigkeiten vor dem Arbeitsgericht eine sinngemäße Ergänzung zu § 48 Abs. 1 a ArbGG darstellt. Dem Arbeitnehmer in seiner Eigenschaft als Versicherten bei Verfahren nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 lit. b ArbGG durch § 215 eine vergleichbare Privilegierung zu verschaffen, fügt sich ohne Wertungswiderspruch in das System des Arbeitsgerichtsgesetzes ein (LG Gießen, aaO.). Andersherum wäre es nicht erklärbar, warum dem sonstigen Versicherungsnehmer das Privileg des Wahlgerichtsstandes nach § 215 Abs. 1 Satz 1 VVG zukommen soll, nicht aber dem Arbeitnehmer als Versicherungsnehmer.
Damit sind Gründe, warum § 215 Abs. 1 VVG vor den Arbeitsgerichten nicht anwendbar sein sollte, nicht ersichtlich (LG A-Stadt I, aaO.; Klimke in Prölss/Martin, aaO).
4.) Der Beschluss ist unanfechtbar.