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  • 14.08.2024 · IWW-Abrufnummer 243218

    Landesarbeitsgericht Köln: Beschluss vom 28.06.2024 – 9 TaBV 52/23


    Tenor: I. Die Beschwerden des Betriebsrats, der Beteiligten zu 5. und des Beteiligten zu 6. gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Bonn vom 31.08.2023 - 1 BV 35/22 - werden zurückgewiesen. II. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

    Gründe

    I.

    Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit von Beschlüssen über die Abberufung einzelner Betriebsratsmitglieder einer Minderheitsliste aus ihren Freistellungen und aus dem Betriebsausschuss sowie über die Wirksamkeit der Nachwahlen.

    Die Arbeitgeberin ist die operative Tochtergesellschaft der D AG. Die Antragstellerin war bis zum 31.10.2021 auf der Liste der Gewerkschaft ver.di Mitglied des Betriebsrats in dem durch einen Zuordnungstarifvertrag gebildeten Betrieb Privatkunden. Für die Betriebsratswahl am 10.03.2022 kandidierte sie als Listenführerin der von ihr gegründeten Liste #S. Diese Liste erzielte 18,5 Prozent der Wählerstimmen und ist seitdem mit drei Mitgliedern, darunter dem Beteiligten D, im insgesamt 17köpfigen Betriebsrat vertreten.

    Die Beteiligten S und B sind als Angehörige der Liste ver.di ebenfalls Mitglieder des Betriebsrats. Frau S war seit 2013 freigestellte Betriebsrätin und ist seit 2018 Mitglied des Aufsichtsrats der D AG. Herr B ist zugleich der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats.

    In der konstituierenden Sitzung des neu gewählten Betriebsrats am 18.03.2022 wurden die sechs freizustellenden Betriebsratsmitglieder und die fünf Vertreter für den Betriebsausschuss gewählt. Für die Liste #S wurden drei Mitglieder nominiert, für die Liste ver.di sechs. Das Ergebnis der Wahl ergab nach dem d'Hondtschen Höchstzählverfahren je einen Platz für die Liste der Antragstellerin. Sie selbst war damit für eine Freistellung und für eine Mitgliedschaft im Betriebsausschuss vorgesehen. Als Nachrücker waren für sie der Beteiligte D und die zwischenzeitlich aus dem Betriebsrat ausgeschiedene Frau Sc bestimmt.

    Auf der nächsten Sitzung des Betriebsrats am 23.03.2022, deren Tagesordnung als Punkt 3.3 die Abberufung der Antragstellerin aus der Freistellung und als Punkt 3.4 die Abberufung der Antragstellerin aus dem Betriebsausschuss vorsah, wurden jeweils mit einer "Dreiviertel-Mehrheit" entsprechende Beschlüsse gefasst. Der Beteiligte D rückte sodann sowohl in die Freistellung als auch in den Betriebsausschuss nach.

    Auf einer Sondersitzung am 29.03.2022 beschloss der Betriebsrat mit drei Vierteln der Stimmen die Abberufung des Beteiligten D aus der Freistellung und seine Abberufung aus dem Betriebsausschuss. In beiden Fällen rückte Frau Sc nach.

    In seiner Sitzung am 11.04.2022 beschloss der Betriebsrat zunächst wiederum mit einer Dreiviertelmehrheit die Abberufung von Frau Sc aus der Freistellung sowie ihre Abwahl aus dem Betriebsausschuss. Wegen fehlender weiterer Nachrücker wählte der Betriebsrat sodann nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl die Beteiligte S in die Freistellung und den Beteiligten B in den Betriebsausschuss.

    Zum 01.11.2022 versetzte die Arbeitgeberin die Antragstellerin mit Zustimmung des Betriebsrats in den Bereich Finanzen Festnetz & Innovation des Betriebs Querschnitt. Dem hiergegen gerichteten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung sowie der gegen die Versetzung gerichteten Hauptsacheklage gab das Arbeitsgericht Bonn statt. Die Antragstellerin ist seitdem nach wie vor im Betrieb Privatkunden beschäftigt.

    Die Antragstellerin hat die Auffassung vertreten, bei den Wahlen zu den Freistellungen und zum Betriebsausschuss sei der Minderheitenschutz systematisch, bewusst und willentlich unterlaufen worden, um eine Mehrheitswahl durchführen zu können. Die systematische Vorgehensweise der Betriebsratsmitglieder der Liste ver.di habe dazu geführt, dass die Minderheitsrechte der Liste #S verletzt und schließlich völlig aufgehoben worden seien. Der Mehrheitsliste sei es nur darum gegangen, entgegen dem Ergebnis der Verhältniswahl mithilfe einer Mehrheitswahl langjährige Mitglieder der Liste ver.di in die Freistellung und in den Betriebsausschuss zu entsenden.

    Die Antragstellerin hat beantragt,

    Der Betriebsrat, die Beteiligte S und der Beteiligte B haben beantragt,

    Die Arbeitgeberin und der Beteiligte D haben keinen Antrag gestellt.

    Der Betriebsrat hat die Auffassung vertreten, die Antragstellerin, der Beteiligte D und Frau Sc seien wirksam mit der erforderlichen Dreiviertelmehrheit sowohl als freigestellte Betriebsratsmitglieder als auch als Mitglieder des Betriebsausschusses abberufen worden. Demgemäß sei jeweils ein Mitglied der Liste ver.di wirksam in die Freistellung bzw. den Betriebsausschuss nachgerückt.

    Das Arbeitsgericht hat den Hauptanträgen der Antragstellerin mit einem am 31.08.2023 verkündeten Beschluss stattgegeben und die angegriffenen Beschlüsse des Betriebsrats wegen Rechtsmissbrauchs für nichtig erklärt. Die Beschlüsse hätten allein und bewusst dem Ziel gedient, als Auftakt einer Reihe gleichartiger Beschlüsse die Vertreter der Minderheitsliste #S aus der Freistellung und aus dem Betriebsausschuss zu Gunsten der Mehrheitsliste ver.di heraus zu drängen.

    Gegen diesen ihnen am 04.10.2023 zugestellten Beschluss richten sich die am 06.11.2023 bei dem Landesarbeitsgericht eingelegten Beschwerden des Betriebsrats sowie der Beteiligten S und B, die sie mit einem am 04.12.2023 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet haben.

    Sie meinen, die von der Antragstellerin angegriffenen Beschlüsse seien nicht rechtsmissbräuchlich. Der Betriebsrat sei nicht verpflichtet, seine Entscheidung(en) gesondert zu begründen, auch nicht, um dem Einwand des Rechtsmissbrauchs begegnen zu können. Die Abberufung eines Betriebsratsmitglieds aus Freistellung und/oder Betriebsausschuss sei jederzeit möglich und bedürfe keines objektiven Grundes. Das Gesetz gehe davon aus, dass die Mitglieder, die abstimmten, einen Grund für ihre Entscheidung hätten. Diesen bräuchten sie weder zu verlautbaren, noch sei er objektiv nachprüfbar. Es handele sich um eine "politische" Entscheidung, bei der die Betriebsratsmitglieder in ihrem Abstimmungsverhalten frei seien. Ohne gegen den Grundsatz der geheimen Wahl zu verstoßen, könne ein Betriebsrat, soweit nicht einzelne Mitglieder selbst auf die Geheimhaltung ihrer Gründe ihm bzw. dem Gericht gegenüber verzichteten, selbst nur über die Gründe für die Abberufung spekulieren. Das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs lasse sich daher auch nicht aus der Gesamtschau aller Umstände begründen.

    Der Betriebsrat sowie die Beteiligten S und B beantragen,

    Die Antragstellerin beantragt,

    Die Arbeitgeberin und der Beteiligte D stellen keinen Antrag.

    Die Antragstellerin verteidigt die arbeitsgerichtliche Entscheidung unter Vertiefung ihres Sachvortrags. Die unzulässige Rechtsausübung des Betriebsrats ergebe sich - so die Ansicht der Antragstellerin - bereits aus der Art und Weise, in der die Mehrheitsliste innerhalb kürzester Zeit die Entfernung sämtlicher Mitglieder der Minderheitsliste aus dem Betriebsausschuss und der Freistellung betrieben habe. Dieser zeitliche Ablauf verdeutliche, dass es der Mehrheitsliste darum gegangen sei, unabhängig von den konkreten Personen die Minderheitsliste als solche zu erschöpfen, um entgegen dem Ergebnis der aus Gründen des Minderheitenschutzes gesetzlich vorgesehenen Verhältniswahl sämtliche Freistellungen und Entsendungen in den Betriebsausschuss allein für sich zu beanspruchen. Ein solches Vorgehen, dass allein die Umgehung des durch die Verhältniswahl bezweckten Minderheitenschutzes zum Ziel habe, stelle eine unzulässige Rechtsausübung dar. Insbesondere zeige das Vorgehen, dass es nicht um Fragen eines etwaig fehlenden Vertrauens in eine konkrete Inhaberin bzw. einen konkreten Inhaber einer betreffenden Position, sondern um das Erschöpfen der Liste als solcher gegangen sei.

    Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses, die im Beschwerdeverfahren gewechselten Schriftsätze, die eingereichten Unterlagen sowie die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

    II.

    Die nach § 87 Abs. 1 ArbGG statthaften, gemäß §§ 89 Abs. 2, 87 Abs. 2 Satz 1, 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG form- und fristgerecht eingelegten sowie begründeten Beschwerden des Betriebsrats sowie der Beteiligten S und B haben in der Sache selbst keinen Erfolg. Zu Recht hat das Arbeitsgericht die von der Antragstellerin angegriffenen Beschlüsse des Betriebsrats für unwirksam erklärt.

    1.) Die Anträge sind zulässig.

    a) Die Anträge sind nicht als Wahlanfechtungsanträge zu verstehen, sondern auf die Feststellung der Nichtigkeit der betriebsratsinternen Wahlen gerichtet.

    aa) Die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder kann in entsprechender Anwendung von § 19 BetrVG durch ein einzelnes oder mehrere Betriebsratsmitglieder angefochten werden, wenn bei der Wahl gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen worden und eine Berichtigung nicht erfolgt ist, es sei denn, dass durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflusst werden konnte (BAG, Beschluss vom 21. Februar 2018 - 7 ABR 54/16 -, Rn. 11, juris).

    bb) Das Begehren der Antragstellerin ist jedoch nach dem Wortlaut ihrer Anträge und nach deren anlassbezogenen Auslegung nicht darauf gerichtet, die Wahlen für unwirksam zu erklären. Ein gerichtlicher Beschluss, durch den die Wahl wegen Anfechtbarkeit für unwirksam erklärt wird, würde die Rechtslage nur für die Zukunft gestalten. Erst mit Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses träte die Unwirksamkeit der Wahl ein (BAG, Urteil vom 9. Juni 2011 - 6 AZR 132/10 -, BAGE 138, 116-126, Rn. 13; BAG, Beschluss vom 29. Mai 1991 - 7 ABR 67/90 -, BAGE 68, 74-84, Rn. 20; Hamacher/Klose Antragslexikon ArbR, Wahlen zum Betriebsrat Rn. 18, beck-online). Vielmehr begehrt die Antragstellerin die Feststellung der Unwirksamkeit der Wahlen. Sie macht nicht Verstöße gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren iSd. § 19 Abs. 1 BetrVG geltend. (BAG, Beschluss vom 21. Februar 2018 - 7 ABR 54/16 -, Rn. 11, juris), sondern eine systematische, bewusste und willentliche Unterlaufung des Minderheitenschutzes durch die Betriebsratsmitglieder der Liste ver.di. Der von ihr begehrten gerichtlichen Entscheidung über die Unwirksamkeit der Wahl käme feststellende Wirkung mit dem Inhalt zu, dass die Wahlen von Anfang an nichtig waren.

    cc) Die Anträge sind demgemäß nicht verfristet. Zwar können betriebsratsinterne Wahlen in entsprechender Anwendung des § 19 Abs. 2 Satz 2 BetrVG nur binnen einer Frist von zwei Wochen nach Feststellung des Wahlergebnisses durch den Betriebsrat angefochten werden (BAG, Beschluss vom 21. Februar 2018 - 7 ABR 54/16 -, Rn. 11, juris; BAG, Beschluss vom 20. April 2005 - 7 ABR 44/04 -, BAGE 114, 228-236, Rn. 20). Die Nichtigkeit einer solchen Wahl kann jedoch ohne zeitliche Begrenzung zu jeder Zeit und in jeder Form geltend gemacht werden (BAG, Beschluss vom 20. April 2005 - 7 ABR 44/04 -, BAGE 114, 228-236, Rn. 23; BAG, Beschluss vom 13. November 1991 - 7 ABR 18/91 -, BAGE 69, 49-61, Rn. 22; GK/Raab, 12. Aufl. 2022, § 26 BetrVG, Rn. 15; Hamacher/Klose, Antragslexikon ArbR, Wahlen zum Betriebsrat Rn. 19, beck-online).

    b) Die Antragstellerin ist befugt, die Unwirksamkeit der Beschlüsse gerichtlich geltend zu machen.

    aa) Ihre Antragsbefugnis ist, wie das Arbeitsgericht zutreffend erkannt hat, nicht deshalb entfallen, weil die Antragstellerin in einen anderen Betrieb versetzt worden war. Die Versetzung war, wie das Arbeitsgericht ebenfalls richtig festgestellt hat, unwirksam, so dass die Antragstellerin nach wie vor Arbeitnehmerin des Betriebs Privatkunden ist.

    bb) Soweit sich die Antragstellerin gegen ihre eigene Abberufung aus der Freistellung und aus dem Betriebsausschuss wendet, ergibt sich ihre Antragsbefugnis im Übrigen aus dem Umstand, dass sie durch die Beschlüsse in ihrer kollektivrechtlichen Stellung betroffen ist und es nicht von vornherein als aussichtslos erscheint, dass ihre Abberufungen unwirksam sind (zur Antragsbefugnis BAG, Beschluss vom 23. März 2023 - 1 ABR 43/18 -, Rn. 40, juris; BAG 18. April 2007 - 7 ABR 30/06 - juris; BAG, Beschluss vom 24. Oktober 2018 - 7 ABR 1/17 -, Rn. 10, juris).

    cc) Als Mitglied der Liste #S ist die Antragstellerin zudem befugt, die Nichtigkeit der anderen Beschlüsse gerichtlich geltend zu machen. Sie muss insoweit nicht unmittelbar persönlich betroffen sein. Denn die Nichtigkeit von Betriebsratswahlen sowie von vergleichbaren betriebsratsinternen Wahlen und Abstimmungen kann zur Vermeidung eines gesetzwidrigen Zustands jederzeit und von Jedermann geltend gemacht werden, der daran - wie die Antragstellerin als Mitglied der betroffenen Liste #S - ein berechtigtes Interesse hat (vgl. BAG, Beschluss vom 22. November 2017 - 7 ABR 26/16 -, Rn. 11, juris; BAG, Beschluss vom 18. April 2007 - 7 ABR 30/06 -, BAGE 122, 96-110, Rn. 38; BAG, Beschluss vom 20. April 2005 - 7 ABR 44/04 -, BAGE 114, 228-236, Rn. 23; GK/Raab, 12. Aufl. 2022, § 26 BetrVG, Rn. 15).

    c) Zu Recht hat das Arbeitsgericht gemäß § 83 Abs. 3 ArbGG neben der Antragstellerin den Betriebsrat, die Arbeitgeberin sowie die Beteiligten S und B am vorliegenden Verfahren angehört. Die Arbeitgeberin ist in arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren beteiligt, weil sie durch die betriebsverfassungsrechtliche Ordnung stets betroffen ist. Ebenso beteiligt ist der Betriebsrat, weil seine interne Organisation von der zu erwartenden Entscheidung abhängt. Schließlich sind die Betriebsratsmitglieder S und B zu hören, weil sie in ihrer betriebsverfassungsrechtlichen Rechtsposition betroffen sind (vgl. BAG, Beschluss vom 24. März 2021 - 7 ABR 6/20 -, Rn. 13, juris; BAG, Beschluss vom 16. März 2005 - 7 ABR 40/04 -, BAGE 114, 119-135, Rn. 16).

    2.) Die von der Antragstellerin angegriffenen Abwahlbeschlüsse sind wegen einer Umgehung des gesetzlichen Minderheitenschutzes nichtig.

    a) Zwar ist der Minderheitenschutz kein allgemeines Prinzip der Betriebsverfassung. Demgemäß gewährt das Betriebsverfassungsgesetz keinen absoluten Minderheitenschutz (BAG, Beschluss vom 25. April 2001 - 7 ABR 26/00 -‍, BAGE 97, 340-350, Rn. 22; BAG, Beschluss vom 28. Oktober 1992 - 7 ABR 2/92 -, BAGE 71, 286-292, Rn. 24). Der Minderheitenschutz ist im Betriebsverfassungsgesetz vielmehr nur punktuell vorgesehen und unterschiedlich ausgeprägt (Rennpferdt, RdA 2022, 27, 28 f.). Minderheitenschutz ist jedoch ua. dadurch gewährleistet, dass der Gesetzgeber mit dem am 01.01.1989 in Kraft getretenen Gesetz zur Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes, über Sprecherausschüsse der leitenden Angestellten und zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung für die Besetzung von Ausschüssen und die Bestimmung der freizustellenden Betriebsratsmitglieder die Verhältniswahl eingeführt hat.

    aa) Ein solcher Minderheitenschutz ist in der Natur des Systems der Verhältniswahl verankert (BVerfG, Beschluss vom 12. Oktober 2004 - 1 BvR 2130/98 -, BVerfGE 111, 289-307, Rn. 80). Durch eine Verhältniswahl wird jeweils gewährleistet, dass die Sitzverteilung in dem Betriebsausschuss und die freizustellenden Betriebsratsmitglieder in möglichst genauer Übereinstimmung mit dem bei der Wahl erzielten Stimmenverhältnis stehen (BAG, Beschluss vom 21. Februar 2018 - 7 ABR 54/16 -, Rn. 19, juris). Zugleich soll verhindert werden, dass eine knappe Mehrheit im Betriebsrat in der Lage ist, Vertreter von Minderheiten von der Ausschussarbeit und bei Freistellungen weitgehend oder gar völlig auszuschließen (vgl. Wlotzke, DB 1989, 111-126, zitiert nach juris).

    bb) Bis zu der gesetzlichen Neuregelung konnte die Mehrheit im Betriebsrat die Minderheit bei der Besetzung der Ausschüsse und bei Freistellungen selbst dann übergehen, wenn die Minderheit über 49 Prozent der Stimmen im Betriebsrat verfügte. Um die Chancen der Minderheit zu verbessern, in den für die Betriebsratsarbeit wichtigsten Ausschuss, den Betriebsausschuss, zu gelangen, wird die Wahl nunmehr nicht mehr als Mehrheitswahl, sondern gemäß § 27 Abs. 1 Satz 3 BetrVG geheim nach den Grundsätzen der Verhältniswahl durchgeführt. Auch die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder erfolgt im Hinblick darauf, dass die Arbeitnehmer einer Minderheitsgruppe ein erhebliches Interesse daran haben, unter den freigestellten Betriebsratsmitgliedern eine Person ihres Vertrauens zu finden (BT-Drs. 11 /2503, S. 24; BAG, Beschluss vom 24. März 2021 - 7 ABR 6/20 -, Rn. 32, juris), nach § 38 Abs. 2 Satz 1 BetrVG in geheimer Wahl nach den Grundsätzen der Verhältniswahl.

    cc) Gestärkt wird der Minderheitenschutzes durch § 38 Abs. 2 Satz 6 BetrVG. Hält der Arbeitgeber eine Freistellung für sachlich nicht vertretbar und hat er deshalb die Einigungsstelle angerufen, muss die Einigungsstelle bei der Bestimmung eines anderen freizustellenden Betriebsratsmitglieds den Minderheitenschutz beachten. Dies bedeutet: Auch wenn der Minderheitenschutz die Entscheidungskriterien des § 76 Abs. 5 Satz 3 BetrVG - angemessene Berücksichtigung der Belange des Betriebs und der betroffenen Arbeitnehmer nach billigem Ermessen - nicht verdrängt (vgl. Fitting, 32. Aufl. 2024, § 38 BetrVG, Rn. 66) muss die Einigungsstelle vorrangig prüfen, ob nicht ein anderes Mitglied der Liste freigestellt werden kann (GK/Raab, 12. Aufl.2022, §38 BetrVG, Rn. 76).

    b) Dieser durch §§ 27, 38 BetrVG gewährleistete Minderheitenschutz ist betriebsverfassungsrechtlich und verfassungsrechtlich geboten.

    aa) Ein ausgewogener Minderheitenschutz ist in der Betriebsverfassung eine demokratische Notwendigkeit (Dütz, DB 2001, 1306, 1308). Ein Gesetz, das wie das Betriebsverfassungsgesetz auf Demokratie im Betrieb angelegt ist, muss das Demokratieprinzip folgerichtig anwenden. Daher ist es nur konsequent, die in § 14 Abs. 2 BetrVG als Grundprinzip der Betriebsverfassung verankerte Verhältniswahl auf die vom Betriebsrat selbst zu treffenden Wahlentscheidungen zu übertragen. Denn Ausschüsse des Betriebsrats und freigestellte Betriebsratsmitglieder repräsentieren anstelle des Betriebsrats die Belegschaftsangehörigen (Löwisch, BB 2001, 726 f.). Dies bedeutet, dass auch die Mehrheit eines Betriebsrats die Vertreter von Minderheiten nicht völlig oder weitgehend von der Mitarbeit ausschließen darf (vgl. Dütz, DB 2001, 1306, 1308).

    bb) Verfassungsrechtlich ist der Minderheitenschutz ein Ausfluss der in Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Koalitionsfreiheit, die jedermann zusteht und das Recht umfasst, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen wie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zu bilden. Der Schutz des Art. 9 GG beschränkt sich nicht auf diejenigen Tätigkeiten, die für die Erhaltung und Sicherung des Bestandes der Koalitionen unerlässlich sind, sondern umfasst alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen (Löwisch, BB 2001, 726, 727).

    (1) Auch im Rahmen der betrieblichen Mitbestimmung fördern die Gewerkschaften die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder und nehmen damit eine verfassungsrechtlich geschützte Funktion wahr (BVerfG, Beschluss vom 24. Februar 1999 - 1 BvR 123/93 -, BVerfGE 100, 214-225, Rn. 29). Umgekehrt schützt Art. 9 Abs. 3 GG das Recht der einzelnen Arbeitnehmer, einer Gewerkschaft fernzubleiben oder diese wieder zu verlassen. Wenn ein Gremium durch Wahlen der Belegschaft und auf der Grundlage von Wahlvorschlägen, die ua. an der Gewerkschaftszugehörigkeit orientiert sein dürfen, besetzt werden soll, hat eine in sich folgerichtige Regelung die Chancengleichheit der bei den Wahlen antretenden Gruppen zu beachten. Da das Recht der Koalitionen, an vom Gesetzgeber zur Vertretung von Arbeitnehmern geschaffenen Einrichtungen mitzuwirken, unter den Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG fällt, ist mit dieser verfassungsrechtlich gesicherten Freiheit auch die Chancengleichheit der Koalitionen bei der Wahl verbunden (BVerfG, Beschluss vom 12. Oktober 2004 - 1 BvR 2130/98 -, BVerfGE 111, 289-307, Rn. 72). Der Schutz des Betätigungsrechts der Gewerkschaften ist dabei nicht auf die Teilnahme an der Betriebsratswahl selbst begrenzt, sondern erfordert einen maßgeblichen Einfluss auf alle Mitbestimmungseinrichtungen. Dieser muss wegen der zugleich geschützten negativen Koalitionsfreiheit jedoch in einem ausgewogenen Verhältnis zu den Mitgliedern anderer Wahllisten stehen. Die Ausgewogenheit dieses Zusammenwirkens hängt nicht zuletzt davon ab, ob und in welchem Umfang gewählte Betriebsräte in Ausschüssen vertreten und freigestellt sind. Müssten Mitglieder einer Minderheitsgewerkschaft oder einer Minderheit befürchten, trotz der Erringung von Sitzen im Zuge der für die Betriebsratswahl selbst geltenden Verhältniswahl von der praktischen Tätigkeit in den Ausschüssen und von Freistellungen ausgeschlossen zu werden, wären sie in verfassungswidriger Weise in ihrer Betätigung nicht viel weniger behindert, als wenn sie von der Betriebsratswahl selbst ausgeschlossen wären (vgl. Löwisch, BB 2001, 726, 727).

    (2) Daher stieß der Vorschlag der ehemaligen Bundesregierung im Gesetzentwurf zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes vom 02.04.2001 (BT-Drs. 14/5741), mit dem die Verpflichtung auf die Verhältniswahl wieder gestrichen werden sollte, angeblich um die Wahlen innerhalb des Betriebsrats zur Verbesserung seiner Arbeitsmöglichkeiten wesentlich zu vereinfachen (so die Begründung des Gesetzesentwurfs, BT-Drs. 14/5741, S. 39, 41), auf erhebliche Kritik in Parlament und Wissenschaft (etwa Löwisch, BB 2001, 726; Dütz, DB 2001, 1306, Hanau, RdA 2001, 65, 70). Beanstandet wurde ausdrücklich, dass der Entwurf nicht auf die im Rahmen des demokratischen Prinzips gegebenen Argumente für Mehrheits- bzw. Verhältniswahl einging, sondern das Problem durch die Annahme verdeckte, die Mehrheitswahl sei einfacher (so Hanau als Sachverständiger im Anhörungsverfahren, vgl. BT-Drs.14/6352, S. 51; ders., RdA 2001, 65, 70, 75). Der Vorschlag der Bundesregierung fand demgemäß nicht die Zustimmung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (BT-Drs.14/6352, S. 3), der ausdrücklich sicherstellen wollte, dass die Besetzung des Betriebsausschusses und die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl erfolgt (BT-Drs.14/6352, S. 54), und wurde bei der letzten Lesung im Bundestag nicht mehr zur Abstimmung gestellt.

    c) Die Betriebsratsbeschlüsse, mit denen die Mitglieder der Liste #S aus dem Betriebsausschuss und der Freistellung abberufen wurden, stellen sich als Umgehung des vom Gesetzgeber zum Zweck des Minderheitenschutzes eingeführten Verhältniswahlrechts bei der Besetzung des Betriebsausschusses und für Freistellungen dar. Die Beschlüsse verstoßen zwar für sich betrachtet nicht gegen gesetzliche Vorschriften. Bei einer Gesamtbetrachtung sind sie jedoch eine gezielte Beseitigung der vom Gesetzgeber gewünschten Übereinstimmung zwischen dem bei den Wahlen erzielten Stimmenverhältnisse mit der Sitzverteilung im Betriebsausschuss und bei den freizustellenden Betriebsratsmitgliedern.

    aa) Eine objektive Gesetzesumgehung liegt vor, wenn der Zweck einer zwingenden Rechtsnorm dadurch vereitelt wird, dass andere rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten missbräuchlich, dh. ohne einen im Gefüge der einschlägigen Rechtsnorm sachlich berechtigten Grund, verwendet werden (BAG, Beschluss vom 21. Februar 2017 - 1 ABR 62/12 -, BAGE 158, 121-141, Rn. 49). Bei einer Gesetzesumgehung ist nicht ein bestimmter Weg zum Ziel, sondern das Ziel selbst verboten. Dabei kommt es nicht auf eine Umgehungsabsicht oder eine bewusste Missachtung der zwingenden Rechtsnormen an; entscheidend ist die objektive Funktionswidrigkeit des Umgehungsgeschäfts. Unwirksam sind deshalb Rechtsakte, die einen verbotenen Erfolg durch Verwendung von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten zu erreichen suchen, die scheinbar nicht von einer Verbotsnorm erfasst werden (BAG, Urteil vom 18. März 2009 - 5 AZR 355/08 -, BAGE 130, 34-42, Rn. 17).

    bb) Ein typischer Fall der Umgehung ist das Unterlaufen eines verbotenen Geschäfts in mehrere von einem Verbot nicht ausdrücklich umfasste Teilgeschäfte, wenn sie in einem inneren Zusammenhang stehen und nach einem einheitlichen Plan durchgeführt werden, um bestimmte Schwellen- oder Grenzwerte zu unterlaufen. Nichts anderes gilt für konsekutive Betriebsratsbeschlüsse zur Abberufung von Betriebsratsmitgliedern einer Minderheitsliste, um sie nach Erschöpfung der Liste durch Mitglieder der Mehrheitsliste ersetzen zu können (vgl. BAG, Beschluss vom 29. April 1992 - 7 ABR 74/91 -, BAGE 70, 178-186, Rn. 32). Betriebsratsbeschlüsse, die den Minderheitenschutz auf diese Weise unterlaufen, haben einen gesetzwidrigen Inhalt und sind unwirksam. So liegt der Fall hier. Wie bereits das Arbeitsgericht richtig festgestellt hat, führte die jeweils dreifache Abberufung von Mitgliedern der Liste #S bis zur Erschöpfung der Liste dazu, dass die Mitglieder dieser Liste ihr Amt weniger effektiv ausüben und weniger Einfluss auf die Betriebsratsarbeit nehmen können. Zugleich wurden der Mehrheitsliste entgegen dem objektiven Ergebnis der Betriebsratswahl ein zusätzliches Betriebsausschussmitglied und eine zusätzliche Freistellung ermöglicht. Dies geschah nicht nur zur Gewissheit des Arbeitsgerichts, sondern auch zur vollen Überzeugung der Beschwerdekammer nach einem einheitlichen Gesamtplan, wie sich insbesondere aus der engen Taktung der Betriebsratsbeschlüsse ergibt. Die Mehrheitsliste hatte die Abberufung der Antragstellerin nur wenige Stunden nach ihrer Wahl initiiert. Danach hat der Betriebsratsvorsitzende zu kurz hintereinander anberaumten Sitzungen eingeladen, auf denen die Abberufungen der weiteren Mitglieder der Liste #S auf der Tagesordnung stand.

    cc) Ob dieses Verhalten der Mehrheitsliste, wie das Arbeitsgericht meint, ungehörig und rechtsmissbräuchlich war, oder ob die Mehrheitsliste nachvollziehbare objektive oder billigungswerte Gründe ins Feld führen kann, darf und muss nicht entschieden werden.

    (1) Insoweit ist zunächst den Beschwerdeführern zuzustimmen, dass §§ 27 Abs. 1 Satz 5, 38 Abs. 2 Satz 8 BetrVG keinen objektiven Grund für die Abberufungen verlangen, sondern allein das Erfordernis einer bestimmten Stimmenmehrheit aufstellen. Welche Motive das Wahlverhalten bestimmt haben, unterliegt nicht der gerichtlichen Überprüfung (LAG Hamburg, Beschluss vom 7. August 2012 - 2 TaBV 2/12 -, Rn. 31, juris).

    (2) Für die Feststellung einer Gesetzesumgehung kommt es darauf aber auch nicht an. Vielmehr gebieten es Sinn und Zweck einer Rechtsnorm, ihre Umgehung auch dort zu vereiteln, wo es an einem zu missbilligenden Motiv fehlt. Entscheidend ist vielmehr, ob der Rechtsordnung objektiv zuwidergehandelt wurde (vgl. BAG, Urteil vom 18. März 2009 - 5 AZR 355/08 -, BAGE 130, 34-42, Rn. 17; BAG, Beschluss vom 12. Oktober 1960 - GS 1/59 -, BAGE 10, 65, Rn. 24). Dies ist hier der Fall. Nach den Grundsätzen der Verhältniswahl standen der Liste #S ein Platz im Betriebsausschuss und eine Freistellung zu. Beide Rechte sind der Minderheitsliste durch das Abstimmungsverhalten der Mehrheitsliste und unabhängig von deren Motiven gegen den Willen des Gesetzgebers genommen worden.

    dd) Dass die Abberufungen jeweils mit der nach § 27 Abs. 1 Satz 5 BetrVG - hinsichtlich der Abberufung aus der Freistellung iVm. § 38 Abs. 2 Satz 8 BetrVG - erforderlichen Dreiviertelmehrheit erfolgten, ändert an diesem Befund nichts. Das Quorum von drei Vierteln der Stimmen der Betriebsratsmitglieder dient zwar der Absicherung der Verhältniswahl mit dem ihr innewohnenden Minderheitenschutz (BAG, Beschluss vom 29. April 1992 - 7 ABR 74/91 -, BAGE 70, 178-186, Rn. 31). Dadurch soll einem Betriebsrat nach dem Willen des Gesetzgebers (BT-Drs. 11/2503, S. 33) die Möglichkeit genommen werden, Betriebsratsmitglieder, die im Wege der Verhältniswahl auf einer Minderheitsliste gewählt worden sind, mit einfacher Stimmenmehrheit abzuberufen, dadurch den Weg für eine Nachwahl frei zu machen und so das Ergebnis der Verhältniswahl nachträglich zugunsten der Betriebsratsmehrheit unter Umgehung des Verhältniswahlrechts zu verändern (BAG, Beschluss vom 21. Februar 2018 - 7 ABR 54/16 -, Rn. 22, juris; BAG, Beschluss vom 28. Oktober 1992 - 7 ABR 2/92 -, BAGE 71, 286-292, Rn. 25). Dieser Schutz versagt jedoch, wenn die Mehrheitsliste die Minderheitsliste aufgrund eines Gesamtplans zuvor erschöpft hatte.

    3.) Damit sind auch die in der Sitzung des Betriebsrats vom 11.04.2022 erfolgte Wahl der Beteiligten S in die Freistellung und die in derselben Sitzung erfolgte Wahl des Beteiligten B in den Betriebsausschuss nichtig. Unabhängig davon, dass sie ebenfalls Teilakte der einheitlichen Umgehung des Minderheitenschutzes sind, fehlte es bei den Wahlen mangels wirksamer Abberufungsbeschlüsse an dem erforderlichen Anlass.

    III.

    Die Kammer hat die Rechtsbeschwerde gemäß §§ 92 Abs.1, 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG wegen der nach ihrer Auffassung grundsätzlichen Bedeutung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen zugelassen.

    Vorschriften§ 87 Abs. 1 ArbGG, §§ 89 Abs. 2, 87 Abs. 2 Satz 1, 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG, § 19 BetrVG, § 19 Abs. 1 BetrVG, § 19 Abs. 2 Satz 2 BetrVG, § 83 Abs. 3 ArbGG, § 27 Abs. 1 Satz 3 BetrVG, § 38 Abs. 2 Satz 1 BetrVG, § 38 Abs. 2 Satz 6 BetrVG, § 76 Abs. 5 Satz 3 BetrVG, §§ 27, 38 BetrVG, § 14 Abs. 2 BetrVG, Art. 9 Abs. 3 GG, Art. 9 GG, §§ 27 Abs. 1 Satz 5, 38 Abs. 2 Satz 8 BetrVG, § 27 Abs. 1 Satz 5 BetrVG, § 38 Abs. 2 Satz 8 BetrVG, §§ 92 Abs.1, 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG